Thailändisch lernen

Thailand Elefant im Porzellanladen

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Pitcairn's ungewöhnliche Reise von der Khaosan Road in Bangkok zum Eisenbahnmarkt nach Samut Songkhran

(Mythos Khaosan - Mae-Klong Railway Market - Thailand Quo Vadis?)


Vorspann
Skurril, einzigartig – ein Mythos ist die Khaosan Road in Bangkok.
Hier im Ballermann für Rucksacktouris treffen sich Möchtegern-Glücksritter aus aller Welt zu entgleisten Parties mit zweifelhaftem Geschmack. Eine kleine Freelancer-Prostituiertenszene hat sich in einigen Lokalen etabliert. Die Khaosan Road ist schrecklich, so schrecklich schön, dass jeder Bangkok-Besuchende einen Grund findet, sich dort umzuschauen.
Bist du schon einmal drei Stunden auf einem weiblichen Elefanten geritten?
Nein, ich meine nicht deine dicke Alte. Ungefähr so dürfte es dir auf der Maha Chai-Shortline und der Ban Laem-Mae-Klong-Line vorkommen, wenn du nach Samut Songhkran zum Mae-Klong-Markt fährst. Eine abenteuerliche Bahnfahrt kannst du mit einem spannenden Marktbummel verbinden und unterwegs ins authentische Thailand eintauchen. Der Trip beginnt in der Khaosan Road. Der Mae-Klong-Markt liegt achtzig Kilometer südwestlich der Hauptstadt Bangkok und er ist einzigartig. Bist du freitags, samstags oder sonntags in der Gegend, kannst du auch gleich noch den Schwimmenden Markt in Amphawa mit einpacken. Für die Anreise benötigst du einige Stunden. Warum? Weil das Travellen genauso genussvoll wie das Erreichen der Enddestination ist.

Also passt auf, liebe Forumfreunde, was jetzt folgt ist primär ein Reisebericht für Männer ohne Seitenscheitel. Unterhaltenden Zugang finden dürfte auch die kleine Kategorie von toleranten und unkomplizierten Frauen, die nicht hinter jeder Aussage eine Beleidigung wittern. Für alle anderen sind meine Texte eher ungeeignet.
Der frivole Report mit verbalen Deftigkeiten ist eine ironische Karikatur von beachtlichem Wahrheitsgehalt. Thailand und die heutige Backpackerszene werden nicht an die Wand gefahren, aber zumindest kritisiert. Vielleicht urteile ich deshalb streng, weil ich dieses Land besonders mag. Viele meiner Äusserungen können auch auf andere Drittweltländer übertragen werden. Meine Schreibe ist direkt, unmissverständlich und ich nehme keinerlei Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen. Viel Spass!











Approaching Wongwian-Yai-Station
Reisender! - nicht dass du dich nach einer durchzechten Nacht irrtümlich an den Thonburi-Bahnhof in Bangkok Noi begibst, wenn du zum Mae-Klong-Markt rattern willst. Der Zug geht vom kleinen Wongwian-Yai-Bahnhof ab, der ebenfalls im Bezirk Thonburi liegt. Das Abenteuer beginnt, wenn du dich auf die Suche nach diesem Bahnhof mit nur einem Geleise machst. Falls du vom Backpacker-Ghetto in Banglamphu startest, nimmst du am besten am Tha Phra Arthit (Pier 13) das öffentliche Express-Boot den Chao Phraya runter und gehst am Tha Sathorn (Central Pier) wieder ashore. Expressboote sind daran zu erkennen, dass sie schnell an die Piers andocken und verschiedenfarbige Flaggen haben. Wenn du Richtung Süden willst, kommt das Boot von rechts und fährt nach links weiter. Die Bootsfahrt ist eine richtige Sightseeing-Tour zum Spottpreis von THB 30. Viele beliebte Highlights der Engelsstadt wie Chinatown, der Königspalast, Wat Arun, Wat Pho, das Gerichtsmedizinische Museum, das geschichtsträchtige Oriental Hotel, liegen alle entlang am Ufer des Chao Phraya. Der Transport auf dem Fluss ist schneller und entspannter als auf der Strasse. Die Boote stecken nie im Stau und der permanente Blick auf die Skyline ist wirklich einzigartig. Mein Tipp: Wiederhole die Fahrt bei anderer Gelegenheit, wenn es dunkel ist und alle Gebäude beleuchtet sind.

Jetzt bist du durchgelüftet und einigermassen wach, um diese Tages(tor)tour durchzustehen. Für die restliche Distanz nimmst du dir ein Taxi zum gesuchten Bahnhof. Vergiss nicht, dir von der Hotellobby den Namen in thailändischer Schrift notieren zu lassen. Hast du dein Haltbarkeitsdatum nicht überschritten und zählst dich zu den zeitgenössischen Travellern, hast du ohnehin eine Übersetzungs-Applikation auf dein iPhone geladen. Du tippst alles in lateinischen Buchstaben rein und heraus kommt beste thailändische Abugida-Konsonantenschrift. Wenn der Taxifahrer ein Analphabetiker ist, hilft dir allerdings auch modernste Technik nicht mehr weiter. Willst du auf die morgendliche Bootstour verzichten, kannst du auch gleich von der Khaosan Road ein Taxi nehmen, was dich mit THB 80 zurücksetzt. Das macht allerdings nur Sinn, wenn du nicht mehr zugedröhnt, weibergeil und einigermassen aufnahmefähig bist. Sofern du im Zug weiterpennst, verpasst du das Beste vom ganzen Trip. Um grüne Krötenschmuser mit angeschnallten Jesuspneus zufriedenzustellen, sei der Vollständigkeit halber ergänzt, dass der gesuchte Bahnhof zirka zehn Gehminuten von der Wongwian Yai-Skytrain-Station entfernt liegt.

Mythos Khaosan – damals und heute
Bekannt geworden ist die Khaosan Road im Bangkok Bezirk Banglamphu, seit Mitte der 1980er-Jahre durch ihre Popularität bei den Rucksacktouristen. Richtig Schub bekam die Gegend dann endgültig im Jahr 2000 durch den Film The Beach mit dem Schönling Leonardo DiCaprio. Der Streifen handelt von einer abenteuerlichen Rucksackreise in Thailand und er beginnt in der Khaosan Road.
In den 1970er-Jahren war die Szene der Dinosaurier-Backpacker noch rund um das Malaysia Hotel angesiedelt, nicht weit vom Lumpini Park. Ich werde sentimental, wenn ich an diese alten Zeiten denke. Doch das war einmal und ich sollte vielleicht meine Erlebnisse zusammen mit einem Psychologen verarbeiten oder darüber ein Buch schreiben.

Die Gegend der Low Budget-Touristen hat sich nach Banglamphu verschoben und ist gesäumt von Übernachtungsmöglichkeiten, Musik-Kneipen, Massage-Salons, Diskos, Restaurants, Antiquariaten, Secondhand-Bookshops, Schneidereien, Strassenhändlern, Tätowiershops, Piercingstudios, Reisebüros, Marktstände mit Kleidung, skurrile Mitbringsel sowie DVD- und Musik-CD-Raubkopien. Ferner findest du hier gegen Geld Führerscheine, Diplome bis hin zu Personal-, Studenten- und Journalistenausweisen, falschen Pässen und so ziemlich alles an Kopiertem und Gefälschtem, was einem Touristen ohne Moral und Skrupel nützen kann.
Diese Strasse ist ein idealer Organisationsdrehpunkt, wo sich Reisende jede Menge Dienstleistungen wie Visabeschaffung oder nationale und internationale Transporte einkaufen können. Viele Busse zu den heissen Spots fahren direkt von hier ab, und der Traveller muss sich nicht durch die ganze Stadt zu weit entfernten Busbahnhöfen wie Sai-Tai-Mai, Ekkamai oder Mo-Chit bequemen.

Durch die zunehmende Beliebtheit von Banglamphu sind die Mieten angestiegen und viele alteingesessene Läden und Betriebe mussten schliessen. Die Entwicklung der letzten paar Jahre war rasant. Wo zuvor noch kleine, charmante Gästehäuser und Garküchen das Bild prägten, gehören anno 2014 moderne Pensionen wie zum Beispiel das Rikka Inn mit Dachpool, sowie Filialen der grossen Gourmetshops McDonald's, Burger King, Kentucky Fried Chicken, Subway und Starbucks zum gängigen Strassenbild. Freies Unternehmertum ist auch hier der Kompass, Profit das Motiv!
Von der Khaosan Road zweigen Passagen zu weiteren Strassen mit ähnlichen Bars, Restaurants und Hotels ab. Abends mutiert die ganze Gegend zu einer Fussgängerzone und es herrscht Hochbetrieb auf dem Backpacker-Planet. Natürlich ist Freund Alkohol immer und überall mit dabei. Im Gegensatz zu Kambodscha hat sich keine Kifferszene etabliert und es gibt sie nur im Verborgenen; zu drakonisch sind heutzutage die strafrechtlichen Konsequenzen in Thailand. Besser ist die Situation noch auf dem Lande, wo du dich selbst auf dem Markt zu geringen Kosten mit einer Tüte voller Ganja eindecken kannst. Rauche privat und nie in der Öffentlichkeit, dann kommst du auch heute noch damit klar.

Hier in Banglamphu gibt es eine preiswerte Rundumversorgung für Durchreisende. Das ganze Viertel hat sich im Verlauf der Jahre in Komfort und Angebot den Bedürfnissen von westlichen Individualreisenden angepasst. Wer in der Khaosan Road landet, hat Europa zwar verlassen, ist aber noch nicht richtig in Asien angekommen. Ich selber empfinde die Gegend als ein Subuniversum.
Früher gab es an der verschmutzten Strasse lediglich ein paar Fremdenzimmer und Dormitories mit Gemeinschaftsbad. Der Standort war anfänglich ein Geheimtipp für Traveller, die sich hier auf dem Weg durch Südostasien trafen und Neuigkeiten austauschten. Im Informationszeitalter hat diese Bedeutung nachhaltig an Wert verloren. Backpacker zu sein war früher annähernd eine Lebensphilosophie.
Heutzutage sollte man solche Leute eher als Budgettraveller bezeichnen. Eine Kategorie von Reisenden, die sich wenig leisten können und trotzdem reisen wollen. Sie essen und trinken zweckmässige Dinge, die nicht schmecken, bringen es sogar fertig das Tagesbudget noch unter zehn Dollar zu schrauben. Doch im Brustbeutel um den Hals tragen sie ihre Visakarte, um sich jederzeit von dieser spartanischen Lebensweise auszuklicken. Wenns ganz schlecht läuft, schickt auch Papi mal etwas Piselotten per Western Union hinüber.
Sobald der wohlstandverwahrlosten Alten auf der Reise der Sparkragen platzt und sie nach Komfort und Luxus jammert – "Ich mag so nicht mehr!!!" müssen zusätzliche Kröten fliessen; dann frequentieren solche Pseudo-Backpacker Gruppentouren und Dreisterne-Hotels. Will der drangsalierte Gatte nicht einlenken, folgt sexuelle Erpressung und in Eskalation die Scheidungskeule. Ohne Moos, nichts los! So war es schon immer und nicht nur bei den Budgetreisenden. Werden später Kinder geboren, ist dann für zwei Jahrzehnte Badeurlaub auf Malle angesagt. "Ja, wir waren auch auf der ganzen Welt per Rucksack unterwegs", hört man sie dann im Café Katzenberger in Santa Posa schwärmen. Näher nachgefragt, kennen sie von Thailand bestenfalls Ko Samui, Hua Hin und Phuket. Zum Kotzen!

Prostituiertenszene
Ebenfalls hat sich in der Khaosan eine kleine Prostituiertenszene von Freelancern angesiedelt. Den Damen wird der Zutritt in die etwas gepflegteren Unterkünfte verwehrt: Visitors are not allowed!, steht an der Lobby und im Zimmer angeschrieben. Doch mit einem Scheinchen kann der Single Male Vorschriften umgehen, das unaufmerksame Hotelpersonal austricksen oder sich temporär in ein Shorttime-Hotel zurückziehen; die Kammerzofen sind lösungsorientiert ausgerichtet und helfen gerne weiter. Bist du kein alter Sack, hast noch Haare auf dem Kopf, keinen Truthahn am Hals, keinen Speckgürtel um den Ranzen und noch keinen Urinbeutel abgeschnallt, findest du gelegentlich auch unter den Reisenden ein williges Westgirl, das nach einer ausgelassenen Party angetrunken und kostenlos mit dir in die Pfanne hüpft. Wer als Mann ausschliesslich der Unterhaltungsszene wegen in die Engelsstadt reist, gelangt in der Khaosan Road im Distrikt Banglamphu an einen suboptimalen Ort. Die Gegend in der Sukhumvit Road mit dem Nana Plaza oder der Soi Cowboy, sowie der traditionell anrüchigen Gegend Pat Pong nicht weit vom Lumpini Park, bietet dem Single Male weit bessere Zerstreuungsmöglichkeiten. Um es unmissverständlich auszudrücken: Wenn du als Mann zusammen mit deiner Freundin unterwegs bist, gehst du nach Banglamphu, wenn du alleine auf der Piste bist, in die Sukhumvit oder Pat Pong.

Backpacker-Kategorien
Wer heute über die Khaosan Road läuft, findet in erster Linie drei Gruppen von Reisenden: Leute wie ich, die Realos, die bereits in den 1950er-Jahren der Gebäranstalt entsprungen sind, den alten Zeiten nachtrauern, sich die Umstände und Gegend rund um das Malaysia-Hotel vor vierzig Jahren zurückwünschen, sich jedoch mit der unveränderlichen Realität emotionslos abgefunden haben. Von der Vergangenheit bekommst du nämlich nichts, nur von der Zukunft.
Die Welt hat sich gewandelt, wir sind in Würde gealtert, bequemer und anspruchsvoller geworden und man gönnt sich nach genügend Meilenpunkten gelegentlich auch schon mal einen Upgrade in die Business-Class. Basta! Ich gelte nicht als Referenzausgabe eines klassischen Backpackers früherer Jahrzehnte. Doch heute Backpacker sein, bedeutet noch immer, selber herausfinden, selber erfahren, selber erleiden. Absolute Todsünde ist die Gruppenreise - dafür hat mich die Schöpfung nicht vorgesehen.
Forever Young gibt’s nur bei Alphaville. Nichts kann so sein, wie es einmal war. Die Vergangenheit gehört in die Geschichtsbücher, jetzt ist Gegenwart angesagt! Heute trifft man hier keine Insider mehr, die von Indien herkommend, gerade den Hippietrail mit dem Magicbus hinter sich gebracht und dann noch kurz vorher beim Bhagwan in Poona reingeschaut haben. Damit finden wir uns ab, denn die ganze frühere Abenteuerromantik hängt endgültig am Arsch und es macht keinen Sinn, ständig in alten Reiseerinnerungen dahin zu modern. Wie Kriegsveteranen tummeln wir uns gelegentlich in Nostalgie, obschon wir wissen, dass diese Epoche unwiederbringlich abgeschlossen ist. Backpacking was a revolution, but it's not a religion.


Die Fundis bilden die zweite Gruppe. Sie sehen in der Khaosan Road noch immer einen faszinierenden Ort und würden in Bangkok keinesfalls anderswo absteigen. Die Strasse ist für sie ein Stück Coming-Home, sie kennen jede Ecke, haben persönliche Kontakte und werden von angegrauten Geschäftsinhabenden wiedererkannt. Derart Familiäres wird geschätzt und es ist fast wie beim Fleischer oder Bäcker zuhause, wenn du den Laden betrittst. "Ja Grüssgott Herr Meier, was darfs denn heute sein?" Aber machen sich diese Leute nicht selber etwas vor? Hier in Asien dreht sich alles noch viel mehr und schneller um den Mammon als in westlichen Ländern. Die asiatische Mentalität ist unvergleichbar materialistischer als die westliche. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Jedes Lächeln, jeder Händedruck muss mit einem Scheinchen berappt werden. Hand aus Herz, alter Junge – hast du schon mal eine Asiatin gepoppt, ohne zu bezahlen oder sie zu heiraten? No Money, No Honey!
Westler machen sich vermeintlich etwas vor, wenn sie denken, altbekannte Lokale frequentieren zu müssen, der alten Garde etwas schuldig zu sein. "Wir können doch nicht anders! Was denken die denn sonst von uns?" Moralische Bedenken sind hier völlig fehl am Platz. Gar mancher Traveller realisiert zu spät, dass er woanders beispielsweise eine viel bessere Übernachtungsoption gefunden hätte. Nun hast du vier Nächte bei Old Fellow Jim gebucht und zum Voraus bezahlt. Anstelle des Müeslirestaurants nebenan hat sich eine Music-Lounge einquartiert und ein DJ legt bis in die frühen Morgenstunden auf. Jetzt musst du im Lärm ausharren. Nur eine Strasse weiter hättest du für das gleiche Geld ein ruhigeres Quartier mit AC und Swimmingpool auf dem Dach bekommen.
Die weltfremden Volontäre bilden eine Unterkategorie der Fundis. Bei diesen gutmütigen Narren handelt es sich oft um Enthusiasten und oftmals um ehemalige Absolventen der Privatschulen von Rudolf-Steiner, Waldorf und Montessori. Leute die mit dem westlichen Wirtschaftssystem nicht klarkommen, Gutes tun wollen, Gratisarbeit leisten und ihr eigenes Fortkommen vernachlässigen. Wenn alle Kohle verbraten ist fliegen sie zurück in den Westen, suchen materielle Hilfe bei der betuchten Familie oder landen sonst in der Sozialhilfe. Hartz IV wir kommen!

Die dritte Kategorie von Khaosan-Frequentierer sind die Newbies. Es handelt sich um junge Rucksackfuzzies, die oft das erste Mal in ihrem Leben westliche Gefilde verlassen haben, um das Land des Lächelns zu erkunden. Als Backpacker des neuen Milleniums sind sie vollumfänglich ausgerüstet mit Rucksackalarmanlage, Victorinox-Überlebensset, Wegwerfslip, Sombrero Mexicano mit eingebautem Solarpanel, faltbare lila Waschschüssel und portabler Badewanne mit Unterwasser-beleuchtung.
Khaosan ist praktischer Südostasien-Einstieg für blutige Anfänger und federt den Kulturschock wunderbar ab. Hier im Ballermann für Rucksack-Touris, fühlen sich die noch nicht ganz Abgenabelten wohl.
Das gesamte Viertel rund um die eigentliche Strasse ist inzwischen komplett von westlichen Touristen annektiert und völlig auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten.
Hier bist du kein Exot und roter Hund, auch wenn du gelegentlich einen Thailänder triffst. Es erwartet dich eine preisgünstige kulinarische Rundumversorgung und du darfst jedes Menu mit Ketchup abwerten.
Khaosan Road bedeutet übersetzt, Strasse des ungekochten Reises und verdankt ihren Namen, der Ware, die seinerzeit hier verkauft wurde. Heute würde wohl Strasse der gebratenen Hamburger besser passen. Selbst Fried Beans und Pancakes kriegst du morgens vor der Abfahrt zum Floating Market auf den Teller, genauso wie zuhause bei Mutti. Die Hoffnung, du könntest jemals zu einem richtigen Traveller mutieren, scheint mir sehr verwegen.

Boulevard der Eitelkeiten
Vollständig dreht die Khaosan Road allerdings erst nach Einbruch der Dunkelheit auf. Dann geht der Strip aus sich heraus und all die kleinen Cocktail-Stände und Food stalls werden auf die Strasse gerollt. Sie bieten die Bühne für Anekdoten der durstigen Möchtegern-Glücksritter aus aller Welt. In einem Crescendo gelangt die Stimmung bis Mitternacht zum Siedepunkt, kocht weiter bis zwei Uhr früh und lässt dann langsam bis morgens um vier Uhr nach. Gott stehe dir bei, wenn dein Zimmer Richtung Strassenseite liegt. Vor vier Uhr früh kannst du nie einpennen. Da helfen die besten Ear plugs nicht, denn die satten Bässe fahren voll in deinen Bauch und lassen die Bettstatt erzittern. Die Gegend ist zu einem Disneyland für Temporär-Hippies und zum Boulevard der Eitelkeiten geworden.

Ich richte meinen sezierenden Blick auf die barfüssigen Insider vor mir. Die Leute sind erst kürzlich in Thailand angekommen. Die Haut ist noch weiss, die Füsse schon schwarz. Gegenüber ihrer Umgebung machen sie sich als völlig abgeklärt und cool bemerkbar. Lässig ziehen sie ihre Füsse über den Asphalt, rücken die dunkle Sonnenbrille zurecht und halten dann die Hand über die Augen um das Blenden durch die längst untergegangene Sonne zu unterdrücken. Ja, uns gehört die Welt, heute, jetzt und auch morgen!
Die Haare des Pseudo-Rastafaris sind zu Dreadlocks geknüpft, am Gesicht wächst ein ungepflegter Vollbart. Mit einem tibetanischen Hirtenhut auf dem Kopf demonstriert er seine Affinität zur asiatischen Hemisphäre. In der einen Hand trägt er eine Flasche Wasser, in der anderen das unvermeidliche Erkennungszeichen der Individualtraveller - die Lonely Planet Bibel. Ja, wir können mit dir fühlen, du befindest dich am Puls einer Lebensader, die nie verstummt und am Horizont beginnt für dich bereits Tibet.
Seine Partnerin hält die geknüpften, strohblonden Haare mit einem Batik-Stirnband in Schach. Der verräterische braune Haaransatz ist mittlerweile schon einen Zentimeter nachgewachsen und kann über die wahre Natur nicht hinwegtäuschen. Piercings zieren ihr Gesicht und an den Armen kann ich Silberketten und ein Lederarmband ausmachen. Weiter unten an ihren Füssen klirren Kettchen. Ob die wirklich zu den ungewaschenen Füssen passen? Beide tragen ihre persönlichen Utensilien in einem umgehängten Brotsack aus Bio-Hanf. Gab es einen ähnlichen Look nicht schon mal vor vierzig Jahren? Die Welt dreht sich im Kreis.
Die gut besetzte Golf Bar repräsentiert einen assortierten Überblick über verschiedene Kategorien der Homo-Rucksackiensis. Das Lokal mit Aussenbereich wirbt für Cocktail very strong und We check no ID. Na ja, wer kümmert sich hier denn schon um das gesetzliche Mindestalter beim Saufen. Nur beim Bumsen ist vorzugsweise darauf zu achten - und das auch nur bei thailändischen Girls. Doch hier in Banglamphu ist das Risiko und die Versuchung gering, einer Kammerzofe unter dem gesetzlichen Schutzalter irrtümlicherweise Obdach zu gewähren.

Der Abend ist auf 23 Uhr vorgerückt. Die fleischgewordene Rache Gottes - zwei betrunkene Touristinnen mit Schwabbelbäuchen - belästigen die Gäste ungefragt mit einer peinlichen Tanzdarbietung. Warum sind es immer die hässlichen Weiber, die auf sich aufmerksam machen müssen?
Ich orakle schon lange, in welche Schublade ich den Jungen mit der Huka schmeissen soll, der sich das verwerfliche Aussehen eines jungen unangepassten Landstreichers zugelegt hat. Mit diesem Outfit dürfte er bei der Immigration wenig Erfolg haben, wenn er sein Visa von zwei auf drei Monate verlängern möchte. Man könnte versucht sein zu sagen, dass er sich die Lampe längst zugefüllt hat und nun das Alleinsein braucht, um bei dröhnendem Sound zu philosophieren und Rauchschwaden in die Khaosan aufsteigen zu lassen. Wenn er nicht am Pfeifenschlauch saugt, offenbart er seiner Umwelt ein süffisantes Grinsen und eine grosse Lücke zwischen den Schneidezähnen. Er ist heute Nacht mit sich und der Welt zufrieden. Sicherlich ein literarischer Feingeist. Aus Solidaritätsgründen möchte ich hier auf weitere verbale Härte verzichten.
An einem Tischchen sitzen eine Handvoll Leute verschiedener europäischer Nationalitäten. Auf Basic-English tun sie einander ihre Reiseerlebnisse und Lebensweisheiten kund. Es sind alles qualifizierte Bierkenner mit dem besonderen Geschmack, denn sie trinken das völkerverbindende Heineken. Ein Kahlkopf hält beim Zigarettendrehen und anschliessendem Ablecken des Rizla-Papiers immer inne, und sagt entweder "Yes, of course!", oder er wirft einen wichtigen Blick in die Runde, bevor er zu Ende dreht. Er scheint ein Dreher zu sein, denn er dreht in Folge auch für die anderen, zündet den Glimmstengel an und reicht ihn weiter. Hier in der Khaosan raucht jeder, und wer das Laster nicht kennt, legt es sich spätestens jetzt hier zu. Du willst ja wohl nicht als Alien ins Ferienvideo eingehen, oder? Das kommt dann später alles auf Youtube! Na also!
Eine an Armen und Beinen Tätowierte, überlegt sich, wo sie demnächst arbeiten soll. Bangkok, Hongkong, Singapore, schlägt sie der Gruppe vor. Eine Grossstadt müsste es schon sein, äussert sich eine friedensbewegte veganische Vogelscheuche. Zumindest gehe ich davon aus, dass sie eine solche ist, denn sie ist so spindeldürr, wie eine angezogene Angelrute. "Yes, of course", quittiert der Glatzkopf. "What about IT-System Integrator, Stock Exchange Manager or Language Teacher", wirft ein bereits älterer Knabe mit Palästinenserflaggen-Kopftuch in die Runde. For sure wartet Asien auf solche Leute ohne Arbeitsbewilligung, schlechten Englisch-Kenntnissen und EDEKA-Kassenerfahrung. Cheap Charly der aussieht, wie völlig unter dem Teppich hervorgezogen, stellt die Frage aller Fragen: "Meinst du, ich könnte hier billiger leben als ein Einheimischer?" Sicher ist auch er seit Monaten mit dem Rucksack unterwegs oder trägt seinen abgewetzten Überseekoffer zumindest auf dem Kopf. Er hat das Ziel seiner Träume, die Khaosan Road, erreicht und die Thailandreise wird er sich jetzt mit ein paar Clips von Youtube reinziehen. Dann verfügt er über die nötige Bildung, um zuhause an der Volkshochschule über thailändische Kultur zu unterrichten.
Eine etwas gereiftere Touristin greift ihrem zehn Jahre jüngeren Reisekollegen unter dem Tisch etwas grobmotorisch an den Oberschenkel. Keine Frage – die Stute ist aufgegeilt und möchte Erbgut empfangen. Sie war auf Ko Phi Phi und kennt ihn seit zehn Tagen. Reihe 8, Liegestuhl-Nummer 48 und 49. Der Zufall wollte es, dass sie nebeneinander zum Sonnenbad eingeteilt wurden. Das kommt mir vor wie weiland Rimini 1959. Sie macht auf jünger und hat sich Hämorrhoidencreme auf die Tränensäcke unter die Augen gestrichen, um die Haut zu straffen. The budget beat goes on! Das funktioniert und kostet weniger als Serum, weiss sie der Runde zu berichten.

Infizierte mit Morbus-Khaosan wollen alle einander in ihrem Jugendlichkeitswahn mit einer noch ausgefalleneren Tätowierung übertreffen. Nicht jeder Boyfriend back home dürfte frohlocken, wenn ihm seine gereifte Partnerin nach der Rückkehr stolz einen überdimensionalen Buddha auf der Lende präsentiert. Mit der reduzierten erotischen Nutzfläche, wird er sich womöglich abfinden. Wie verhält es sich beim hirnlosen Opfer selbst? Es gibt hier auf Erden kein Shangri-La. Was ist in zwanzig Jahren mit der verschrumpelten Haut und der zur Unkenntlichkeit gewordenen Tätowierung? Wird sich die Frau mit gefühlten dreissig und effektven fünfzig Jahren auf dem Buckel noch ins Freibad trauen? Haben solche Leute die lebenslangen Konsequenzen ausreichend abgewogen?
Wer sichtbare Verzierungen an Armen, Händen, Hals oder Gesicht trägt, wird auf alle Ewigkeit für bestimmte Berufe nie mehr in Betracht gezogen. In Asien kriegst du mit einer Tätowierung nicht einmal mehr einen Job als Pommes-Schüttler bei McDonald's. Bei uns zuhause auf den Philippinen ist es bei Männern ein klares Indiz, dass sie im Knast waren, bei Frauen, dass sie im Milieu ihr Geld verdienen, bzw. früher verdient haben. Generell weltweit ausgeschlossen werden solche Leute mit Kundenkontakten im Gesundheitswesen, in der Versicherungswirtschaft, bei Geldinstituten und generell im Managementbereich. Schöpfst du Vertrauen, wenn dein Investmentberater im ärmellosen Muskelshirt mit Tätowierungen übersät ist, dein Arzt an einem Arm einen grossen Totenkopf und am anderen zwei gekreuzte Säbel trägt, wenn er das Skalpell ansetzt um bei dir eine Vasektomie durchzuführen?

Khaosan erwacht
Ich bin früh auf den Beinen, wach und völlig nüchtern. Das ist hier um 6.30 Uhr in der Khaosan Road keine Selbstverständlichkeit. Zeitlebens bin ich bekennender Früh-aufsteher und je mehr Kerzen auf dem Geburtstagskuchen flackern, umso früher stehe ich auf. Meldet sich vielleicht schon die senile Bettflucht? Ich verhalte mich antizyklisch, tue als Prinzip immer das Gegenteil des Mainstream und das eröffnet einem Hobbyfotografen und Schreiber wie mir auf Reisen des Öfteren interessante Erlebnisse und Perspektiven.

Ich sitze draussen bestens exponiert in einer Kneipe bei American Breakfast. Meine geliebte Canon EOS 5D MK II mit aufgepflanztem Tele 70 – 300 mm hängt schussbereit wie eine Maschinenpistole gekreuzt über meine Schulter. Unglaublich, was mir um diese Zeit alles für markante Leute vor die Linse hüpfen: durchgezechte Partygänger, Neuankömmlinge mit gigantischen Rucksäcken auf der Suche nach einer Bleibe, Volltätowierte, weisse Möchtegern-Sadhus mit verfilzten Haaren, angetrunkene und ungeduschte Freelancer, vollgestrandete Touristen mit Overstay auf der Suche nach gebrauchten Einweg-Plastikflaschen, Schicki-Micki-Touris, die einen Augenschein vom Entsetzen nehmen wollen, Food stall-Betreiber, die mit ihren Kindern gleich neben dem mobilen Verkaufsstand übernachten. Doch auch die Strassenkehrer und Zeitungsverträger sind um diese Zeit schon unterwegs. Nur Japaner und Koreaner sind noch nicht auszumachen. Sie schlafen im Dusit Thani, Oriental oder Millenium Hilton und kommen erst gegen Abend hierher, um einen Augenschein von dieser anrüchigen Welt zu nehmen, ein paar Fotos zu schiessen und dann wieder mit dem Taxi in ihren geschützten Fünfsterne-Bereich zurückzufahren. Abends explodiert hier das pralle Leben und die Khaosan Road mit näherer Umgebung wird zur Fressmeile und Partyparadies für Leute mit wenig Geld.

Ein hübscher Ladyboy bettelt mich um ein Thai-Frühstück an und offeriert mir im Gegengeschäft einen schönen Blowjob. "Where you stay?", will er bzw. sie in unbrauchbarem Englisch wissen. Oh Gott, wenn ich daran denke, wie mir Vielliebchen die Leviten lesen würde, wenn ich den Kontaminierten mit Krätze als dritte Gespielin ins Zimmer schaffen würde. Ein Pimmel ist genug! Grundsätzlich habe ich nichts gegen Transvestiten und Schwuchteln einzuwenden, solange sie mich nicht unangenehm behelligen. Meist sind sie kurzweilig und haben Manieren. Doch meine sexuellen Präferenzen gehen doch eher in die heterogene Richtung.

Ich habe noch keinen halben Toast im Magen, als sich ein Girl ungefragt zu mir setzt und ihre Hand auf meine Trekkingshorts legt. Nun ja, das gefällt mir schon besser. Sie darf mir auch die Kronjuwelen kraulen, dann verdaue ich besser. Auch sie hat sich die vergangene Nacht bei lautem Sound um die Ohren geknallt und keinen Boyfriend abgekriegt; jetzt hat sie Hunger und möchte mich ausserdem heute auf meiner Tour begleiten. Wäre ich alleine unterwegs, wäre mir das gerade recht.
Die Göre hat einige ansprechende Attribute; sie ist schätzungsweise fünfundzwanzig, hübsch, keck, lustig und sanftmütig mit vollen Lippen und ziemlich nach meinem Geschmack. Immer wieder habe in den vergangenen Jahrzehnten auf diese Art interessante Leute kennengelernt; N.B. beileibe nicht nur Frauen. Die Liste der unerwarteten Reisebekanntschaften ist lang und reicht vom Volksschullehrer, Zahnarzt, Politiker, Backpacker, Freudenmädchen, bis hin zu erfolgreichen CEO's und Präsidenten von Handelsgesellschaften. Alle haben ausnahmslos von mir zu Beginn stets hundert Punkte erhalten und ich darf rückblickend feststellen, dass die Freudenmädchen im Rating meist besser als andere Kategorien abgeschnitten haben. Oft flossen zum Schluss Tränen. Doch Email und Handy waren damals nicht erfunden und die Zustellung von Brief oder Aerogramm zwischen den Kontinenten dauerte im Normalfall bis zu drei Wochen, sofern ich überhaupt erreichbar war. Oftmals war ich über zwölf Monate auf der staubigen Strasse unterwegs. Das brachte Distanz, Raum und Luft und liess heisse, weibliche Emotionen auf Dauer abkühlen. Mittlerweile schaffe ich es doch, etwas von meinem Frühstück in den Magen zu befördern, obschon die Göre neben mir das poached Egg with Bacon für sich abgezweigt hat. "You come back tonight?", will sie von mir wissen. "I like you - give you very nice fuck", quatscht sie vielversprechend mit vollem Mund. Es ist für sie das normalste Thema in dieser versauten Welt und es ist die einzige Ware, die sie mir anzubieten hat. Kein Zweifel, dass wir uns mögen. Als ich aufstehe, fragt sie mich nach meinem Namen. "Pitcairn is my name, just remember Pitcairn from the Pinoy-Land – the man with the golden cock", witzle ich.
"Check bill" sagt hierzulande jedermann in verkrüppeltem Englisch, um die Rechnung zu verlangen. Der Keller kommt und ich bin mir hier auch nicht ganz sicher, ob es ein Kerl oder eine Schnitte ist. Dann stehe ich auf und gönne mir und meiner Kamera eine Stunde auf Location. Das Tramperghetto hier in Banglamphu ist ein Fotoparadies und bietet dem aufmerksamen Lichtmaler beste Motive. Das ist geiler als die schönste Frau zu knallen.

Im Zug nach Samut Sakhon (Maha Chai)
Nach einer Stunde ist auch Vielliebchen startbereit und sie lacht herzlich, als ich ihr detailgetreu meine morgendlichen Erlebnisse schildere. Krankhafte Eifersucht kennt sie nicht, dafür aber umso mehr ihren Pitcairn-Gatten. Die schmierige Vermittlungsratte unten auf der Strasse will uns für eine Taxifahrt zum Wongwian-Yai-Bahnhof pro Person je THB 500 ausreissen. Zumindest kennt er die Destination, doch wir laufen kopfschüttelnd zur nächstgelegenen Hauptstrasse und stoppen dort selber ein Taxi. Tuktuk, die Relikte aus früheren Zeiten, frequentieren wir schon lange nicht mehr. Die sind nicht billiger, haben keine AC und machen halskrank. Dank der Notiz in Thaischrift kommt der Driver mit unserer Zieldestination sofort klar und befördert uns ordnungsgemäss per Taximeter zu THB 80 an den gewünschten Ort.
Wir sind da. Damit er im starken Morgenverkehr nicht wenden muss, setzt er uns vor einer Passerelle ab und deutet auf die andere Strassenseite. Dem Bahnsteig vorgelagert gibt es einige Food stalls. Die Wartezeit schlagen wir uns mit einem Schwarztee tot. Der Aufguss ist derart stark, dass wir einen Becher heisses Wasser nachbestellen. So reicht der gestreckte Tee gleich für zwei und das jungfräuliche Tagesbudget ist erst noch unter optimaler Kontrolle. Der Zug fährt auf dem einzigen vorhandenen Geleise ein und Massen von Pendelnden strömen auf den Bahnsteig; ein Grossteil davon sind Schüler in Uniform. Zwanzig Minuten vor Abfahrt öffnet der Schalter und Vielliebchen kann unsere Fahrkarten für den ersten Reiseteil nach Samuth Sakhon (Maha Chai) kaufen. Dafür werden uns pro Nase THB 10 abgenommen. Die Züge verkehren alle sechzig Minuten; der Fahrplan wechselt ständig. Ich verzichte deswegen auf ergänzende Angaben.

Pünktlich nach Fahrplan verlassen wir um 09.40 Uhr den Bahnhof. Der Zug ist halbleer und wir sichern uns je ein eigenes Abteil gegenüber. So viele Ausländer scheinen sich die Bahnfahrt nicht ans Bein binden zu wollen. Ein Tourist wäre ein Tourist, aber wir können im Zug kein einziges Langschwein mehr ausmachen. Beim Abschreiten des Rollmaterials ersehe ich, dass die Triebwagen-Komposition von Hitachi im Jahre 1985 zusammengeschweisst wurde. Seither wurde wohl nichts mehr repariert. Jeder zweite Ventilator ist ausser Betrieb. 1985 ist schon verdammt lange her. Ich frage mich, was damals war. Trotz minuziös geführtem Tagebuch muss ich Google zu Hilfe nehmen. Hier ist zur Ergänzung ein kleiner Exkurs: In diesem Jahr werfen grosse Politiker ihre Schatten voraus. Ronald W. Reagan amtet als amerikanischer Präsident, Michail Gorbatschow wird Generalsekretär der KPdSU und Helmut Kohl ist Allerewigkeits-Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Enver Hoxha stirbt. Albanien öffnet sich langsam und ich kann endlich einreisen. 1974 hatten sie mich dort noch wegen illegaler Einreise unter Waffengewalt rausgeworfen und an die Grenze befördert. Das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior wird von Agenten des französischen Geheimdiensts im Hafen von Auckland versenkt. Das Wrack der Titanic wird entdeckt. 1985 ist auch das Jahr der überdurchschnittlich vielen Flugzeugcrashs. Das Kreuzfahrtschiff Achille Lauro wird durch Palästinenser unter dem Kommando Abu Abbas' entführt. Der grosse Schauspieler Orson Wells (Prediger in Moby Dick) stirbt in Los Angeles und der FC Bayern München wird selbstverständlich, wie könnte es anders sein - deutscher Meister.

Als Seekranker nimmst du vorzugsweise eine halbe Stunde vor Abfahrt zwei Reisetabletten mit genügend Wasser; dann geniesst du die Reise. Das ist Pitcairn's Gratis-Tipp zum Eisenbahnfahren mit Bangkoks Vorortszügen. Das Erlebnis ist einzigartig und ersetzt dir ein Elefantentrekking durch den Dschungel von Laos.
Schon nach zehn Minuten gemütlicher Fahrt bei voll geöffneten Fenstern ist eine Veränderung festzustellen: Die Vegetation nimmt zu, die Hochhäuser nehmen ab. Der Stadtrand von Bangkok gibt sich zusehend ländlich. Wir schaukeln langsam weiter, wie in einem alten Kintopp-Streifen mit Handkurbel-Antrieb. Nach bester Manier von Wanderschausteller Werner Schwier, ziehen Häuser, Bananenhaine und Felder ruckartig an unserem Fenster vorbei. Elektrische Oberleitungen gibt es keine – hier dominiert der Diesel. Auf den völlig verformten Geleisen und Trassen neigen sich die einzelnen Wagen bedenklich von einer Seite auf die andere. Es ist besser, du schaust vor der Abfahrt in den Lonely Planet. Mir wird Angst und Bange, als ich durch den geöffneten Durchgang zum Vorderwagen rüber blicke. Jeden Augenblick nehme ich an, dass die Kiste aus dem Geleise springt. Was hier abläuft, kann kaum eine Himalayabahn auf einem Jahrmarkt bieten. Ich sende ein paar Mantras und Gebete zum grossen Boss, dass er kurz mal Gabriel zu uns runter schickt. Der soll nicht nur Hosianna plärren, sondern besser was für die Kollekte tun. Wenn er's nicht fertig bringt, ist ihm mein Asylantrag in himmlischen Gefilden auf sicher. Dort oben konzentrieren sich doch alle Sozialromantiker und Gutmenschen und halten eine Willkommenskultur für gestrandete oder raus katapultierte Backpacker wie mich bereit. Doch der spirituelle Quicky funktioniert nicht. Die weltfremden Narren haben einmal mehr versagt. Ich versuche es wie beim Zauberer von Oz, schlage meine Hacken zusammen und denke an den Ort, an dem ich sein möchte. Doch ich trage nur TEVA-Sandalen und keine roten Schuhe. Der Trick funktioniert nicht und ich muss den Ride über mich ergehen lassen. Vermutlich muss ich meine Präferenz, Eisenbahnen besser als Flugzeuge zu mögen, demnächst etwas revidieren. Ähnlichkeiten mit einer richtigen Eisenbahn sind hier rein zufällig. Doch wir sind unterwegs – und nur das zählt!

Um die Bilder nicht zu verwackeln, schraube ich die Verschlusszeit meiner Kamera höher und handle mir durch die grössere Blende etwas weniger Tiefenschärfe ein. Doch in meiner Vita habe ich gelernt, Kompromisse einzugehen. Im Abteil vor mir versucht ein junger Mann krampfhaft ein Telefongespräch zu führen. Er benutzt sein Cellular-Phone wie ein Walkie-Talkie und brüllt konzentriert seinen Thai-Language in das mit beiden Händen umschlossene Einbau-Mikrophon; dann formt er mit der Hand eine Muschel, hält sich das Handy ans Ohr und versucht etwas zu verstehen. Völlig genervt gibt er nach kurzer Zeit auf.
Nach zwanzig Minuten sind wir bereits in ländlichen Gefilden. Immer wieder hält der Zug für eine halbe Minute – selten länger. Passagiere steigen ein und aus. Wie auf jeder Reise vollzieht Vielliebchen ihr Ritual und dröhnt sich die Löffel mit eigenem Sound aus dem iPhone zu, knabbert vom 7Eleven mitgebrachte Cashew-Nüsse und spült mit Cola-Zero nach. An uns ziehen Tempel, Mobilfunkantennen, Häuser, Fischfarmen und stinkige Seitenkanäle vorbei. Letztere sind meist mit Algen und Lotusblüten überwachsen. Wohlstandsmüll schwimmt obenauf und recht häufig sieht man wie überall in Asien, kleine, illegale Kehricht-Ablagerungen. Die grosse Mehrzahl der Thais verfügt über kein Umweltbewusstsein und findet den Unrat womöglich noch ästhetisch; sie sind ausnahmslos die gleichen traurigen Umweltfrevler wie alle übrigen Asiaten. Auf Dauer kann diese Nation mit Lächeln allein nicht über die Runden kommen. Thailand – Land of Smile – das war vielleicht einmal. Das Land hat die Herausforderungen der Neuzeit nicht im Griff; es wird nicht vorausschauend, nachhaltig politisiert und gehandelt.
Jeder schaut für sich. Öffentliche Stadtplanungskonzepte beispielsweise, bei der auch die Bedürfnisse von Fussgänger einbezogen werden, sind weitgehend unbekannt oder lediglich Lippenbekenntnisse – es geschieht nichts.
Wer einmal einen Kinderwagen einen Kilometer entlang einer Hauptstrasse geschoben hat, wer mit dem Rollstuhl unterwegs ist oder als Fussgänger die Sukhumvit ausserhalb von Bangkok überqueren musste, weiss genau von was ich schreibe.

Thailand hat es als beliebte Touristendestination auch völlig versäumt, den Englischunterricht in der Volksschule nachhaltig zu verankern. Das Angebot ist zwar da; allerdings besuchen viele Kinder sehr oft den Englischunterricht nicht. Sie finden, dass sie doch Englisch gar nicht lernen müssen, da ihr Vater eine Reisplantage oder eine Büffelherde habe und dafür würden sie keine Fremdsprache brauchen. Der Englischunterricht in der Dorfschule ist sehr rudimentär. Er besteht vor allem im Wiederholen von einzelnen Wörtern. Diese stehen keineswegs in irgendeinem Zusammenhang mit alltäglichen Gebrauchsgegenständen oder mit einer Geschichte. Die Kinder können zwar Hunderte von Wörtern nachplappern, verstehen aber die Bedeutung von keinem einzigen Wort.
Thailand ist für Touristen ein ideales Pflaster, um sich das langjährig gepflegte Englisch zu vergraulen und wieder in die unterste Grundstufe zurückzukehren. Das geht in etwa so: Jeleman, look look, shirt to much, bot not like pay. Discount, not can do, money very little. Deutscher, es hat eine grosse Auswahl an T-Shirts, aber du willst nicht bezahlen. Ich kann dir keinen Rabatt mehr geben; mein Verdienst ist klein.

Der mittlerweile pensionierte Russe mit dem Feuermahl uffe Rübe hatte Recht: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Doch sie wollten nicht zu spät kommen und seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs sind sie nun alle da. Thailand wird zunehmend nicht etwa von der Nomenklatura, sondern von ungehobelten russischen Package-Touristen überflutet. Die Iwans werden in Utapao aus ihren schrottreifen Tupolews und Iljuschins rausgekippt, weil sie aus Sicherheitsgründen nicht einmal eine Landeerlaubnis auf dem Suvarnabhumi erhalten. Man findet sie überall: Im mondänen Seebad Pattaya, in Hua Hin, in Südthailand und auf den Inseln. Die Menschen aus der Kälte haben eine spezielle Anatomie; den meisten ist direkt eine Schnapsflasche an der Hand angewachsen. Russen sind mehrheitlich keine Sex-, sondern Badetouristen und nehmen ihre eigenen, meist hübschen Frauen, mit. Das ist billiger und verursacht weniger Verständigungsschwierigkeiten. Kein Schwein spricht ein Wort Englisch, und Russisch dürfte vielleicht sogar einmal das kärglich verbreitete Englisch als Kommunikationssprache hier im Lande verdrängen.

An der Zwischenstation Rangpho teilt sich das Geleise am Bahnhof in zwei Spuren. Ein vollbesetzter Zug Richtung Bangkok kreuzt unseren Weg, doch bald schon reduziert sich die Verbindung wieder auf eine Spur. Nach genau einer Stunde und zehn Zwischenstopps, endet der erste Teil der Fahrt direkt in den Markthallen von Samut Sakhon – auch Maha Chai genannt. Die Stadt mit dem Brackwasserhafen liegt an der Mündung des Maenam Tha Chin, der in den Golf von Thailand fliesst. Samut Sakhon lebt insbesondere vom Fischfang, die meiste Ware geht in die 25 Kilometer entfernte Hauptstadt.


Umsteigen in Samut Sakhon
Penetranter Fischgeruch macht auch der letzten Touristennase klar, welche Ware hier primär umgesetzt wird. Wir steigen auf der linken Seite des Zuges aus und begeben uns zum Bahnhofausgang. Sofort realisieren wir ein anderes, ruhigeres Thailand, das mit der Hektik von Bangkok nichts am Hut hat. Der Verkehr läuft gemächlich und besonnen ab. Zahlreiche alte Velo-Rikschas stehen herum und die Fahrer warten auf Kunden. Wären da nicht die modernen Autos, könnte man hier die 1970er-Jahre vermuten. Wir treten aus dem Bahnhof-Markt auf die Strasse, biegen nach rechts ab und promenieren fünf Minuten geradeaus. Eine interessante, provinzielle Thaiwelt breitet sich vor uns aus. Bald sehen wir den Fluss und den Fähranleger auf der linken Seite. Wer nicht schwimmen will, muss hier jetzt mit der Fähre über den Fluss Tha Chin nach Ban Laem übersetzen. Das dauert ein paar Minuten und kostet THB 3. Transportiert werden nur Fussgänger und Zweiräder. Die Anfahrt zum Mae-Klong-Markt muss nämlich mit zwei Eisenbahnlinien, der Maha Chai-Shortline und der Ban Laem-Mae-Klong-Linie bewältigt werden. Eine Verbindung mit Eisenbahnbrücke gibt es nicht.
Die Fähre nach Ban Laem pendelt ununterbrochen zwischen beiden Ufern. Die Wartezeit ist kurz. Als jugendlicher Sechziger lasse ich mich heutzutage nach wie vor von Lüsten ablenken. Ein adrettes Girl mit Rüschenrock auf einem Moped, zieht meine Blicke an. Himmel, wann hört denn diese Schwanzssteuerung endlich auf? Der würde ich ganz gerne meine Schmetterlingssammlung zuhause vorführen – witzle ich zu Vielliebchen herüber, die meine gewohnten Scherze einmal mehr lachend zur Kenntnis nimmt. Unauffällig wechsle ich das Objektiv und banne das schöne Bild mit dem Tele auf meine Compact Flash-Card. Ob sie wohl etwas gemerkt hat? Ich glaube nicht, und wenn dennoch, wird mich niemand wegen sexueller Belästigung ins Bangkok-Hilton werfen.












Den Ausgang der Fähranlegestelle verlassen wir nach rechts und gehen zirka 500 Meter die Trockenfisch-Strasse runter. Am Ende findest du nach dem Überschreiten des Geleises den kleinen versteckten Bahnhof. Unterwegs schauen wir uns ein paar Trocknungsanlagen an und Vielliebchen erläutert mir fachfraulich das genaue Verfahren. Hier ist die Zeit wahrlich noch stehen geblieben. Wer wegen der elenden Bruthitze nicht laufen will, kann bei der Fähranlegestelle eine der wartenden Velo-Rikschas zum Bahnhof nehmen.

Weiterreise im Zug nach Samut Songkhram
Der Zug ist bereits abgefahren oder noch gar nicht angekommen, singt ein schweiznational bekannter Berner Bänkelsänger namens Mani Matter in Mundartdialekt. Genauso kommt es mir hier auf dem Bahnsteig mit dem einzigen Geleise vor. Wir warten auf den Zug der Ban Laem-Mae-Klong-Linie. Es gibt einfache Verpflegungsmöglichkeiten und wer muss, kann hier bei Bedarf auch seinen Alkoholpegel erhöhen, bis die Bahnfahrt um 12.05 Uhr rüttelnd und ratternd mit offenen Fenstern und Türen, weiter nach Samut Songkhram geht.


Wir fahren durch eine rein ländliche Gegend an ausgedehnten Wassergebieten, Salzgewinnungsbecken, Häusern und Schulen vorbei. Weisse Fischreiher ziehen friedlich ihre Kreise. Hie und da zeigt sich ein Wasserturm oder eine Mobilfunkantenne. Teilweise sind Trasse und Geleise mit Wasser bedeckt. Eine Weile folgt die Eisenbahnlinie einer nicht asphaltierten Landstrasse.
Ein staubaufwirbelnder Lastwagen fährt neben uns her und der ganze Dreck strömt durch die offenen Fenster. Doch draussen sieht es schlimmer aus. Überall liegt Unrat herum: Zwischen den Gleisen, unten im Bahndamm und und und - durch Faulheit und Bequemlichkeit entstandener Wohlstandsmüll. Um solchen Missständen zu begegnen, braucht kein Land eine besondere Umweltpolitik. Freiwillige sollten die Strecke ablaufen und die Trasse von Unrat befreien. Wäre das nicht einmal eine Aktion der National Scout Organization of Thailand wert? Täglich eine gute Tat, heisst doch dort die Devise dieser paramilitärischen Organisation. Natürlich könnte man auch Strafgefangene dazu einsetzen. Die armen Schweine wären für Abwechslung und frische Luft dankbar.
Gegen Ende der Eisenbahnfahrt geht es durch eine kleine grüne Hölle.
Die Vegetation trifft auf die Zugfenster und du musst beim Fotografieren aufpassen, dass dir die Zweige nicht in die Fresse klatschen: Beweis genug, für ein weiteres Versagen im Maintenance-Bereich. Der Hunger erinnert mich an meine mitgebrachte Klappstulle. Doch oh Graus; die eingelegten Tomaten sehen aus, als wären sie bei Paris – Dakar mitgefahren!

Bereits sehe ich zerquetschte Gurken, herumfliegende Trockenfische, schreiende Menschen, Blut, abgerissene Extremitäten, Verletzte aller Art und Krankenwagen mit heulender Sirene und Rotlicht, die ewig auf sich warten lassen, denn sie existieren nicht. Vielleicht wird mich eine Fahrrad-Rikscha ins Kreiskrankenhaus überführen, natürlich nur, wenn mir der Fahrer vorher THB 20 aus der Tasche gezogen hat. In der Dritten Welt tut niemand etwas gratis. Sie sind ja alle so nett! Es wird alles wie im Film sein. Ob ich eventuell mit einer Halsschiene oder noch schlimmer, zurück nach Bangkok fahre? Vertrauen in die thailändischen Ärzte habe ich noch nie gehabt. Bereits 1977 wollte mir ein Nichtskönner wegen einer Blutvergiftung die linke untere Extremität amputieren. Auf Kosten meiner Jahres-Reiseversicherung flog ich dann unverzüglich mit einem Swissair-Linienflug nach Zürich zurück. Sollte das Gebein wirklich unter eine sterilisierte Chirurgensäge, dann will ich das aus berufenem Munde und in einer verständlichen Sprache hören. Das Ding ist glücklicherweise drangeblieben und noch heute latsche ich damit freudig herum. Selbst den Camino Santiago durch Frankreich und Spanien haben die Haxen 2008 noch geschafft.
Wer hierzulande nichtsahnend und gutgläubig einen entzündeten Blinddarm raus operieren lässt, erfährt am anderen Morgen bei der Arztvisite, dass die Geschlechtsumwandlung erfolgreich ausgeführt wurde und der Pimmel vakumiert unter dem Kopfkissen liegt. Ich fühle mich wie ein Protagonist in Kafkas Alptraum, steigere mich in Horrorvisionen hinein und Vielliebchen gafft friedlich aus dem Zugfenster, knabbert an den restlichen Cashewnüssen und winkt draussen den Kindern zu. Wir müssen dem Aufprall zuvorkommen und dem Tod von der Schaufel springen. Sollten wir uns vielleicht vorher noch aus eigener Kraft aus dem Wagen absetzen? Die Türen sind mittlerweile verschlossen, aber die Fenster nicht. Ich vermute, dass es Richtung Hölle geht. Vielleicht wäre es eventuell besser, uns an einen aufprallsicheren Ort zu verkriechen. Ich realisiere, dass die Kommunikation im Zug nicht funktioniert, ja auf der ganzen Reise noch nie funktioniert hat. Es gibt keine Durchsagen, aber was solls, ich würde das unsinnige Gequatsche ohnehin nicht verstehen.
Das Bähnchen mit Plumpsklo ist vor nahezu dreissig Jahren im Schaponesen-Land zusammengebaut worden und hat kein Sicherheits-Bremssystem. Bei Druckverlust springt kein selbständiges Haltesystem an – wir befinden uns nicht im ICE - und der Zug wird in vollem Tempo am Ende der Strecke in den Prellbock donnern. Dann Gnade uns Gott! Ich sehe unser geplantes lukullisches Highlight von heute Nachmittag dahinschwinden; es wird keine weiblichen Riesengarnelen an Currypowder zu schlemmen geben. Doch in meinen wirren Gedanken kommt etwas Hoffnung hoch. Vielleicht leitet der Lokomotivführer noch kurz vor dem Marktzutritt – hier in Thailand bekommt dieses Wort einmal eine völlig andere Bedeutung – eine Notbremsung ein. Doch gibt es überhaupt ein manuelles Notbremssystem oder werfen die hier wegen der Meeresnähe schon den Anker raus?
Ich blicke seitlich aus dem Fenster und der Markt in der Ferne kommt immer näher. Doch die Massenpanik bleibt aus. Das Mädchen vor mir kaut weiterhin genüsslich auf ihrer grünen Mango herum, das alte zahnlose Weib hinter mir mit Gemüsekorb, erhebt sich sogar und macht sich an der Türe zum Aussteigen bereit und die beiden Boys hinten sind mit Jewel-Fever auf ihrem Smartphone vertieft. Sind die Leute hier so teilnahmslos, nichtsahnend und dumm, oder wissen sie vielleicht etwa mehr als ich? Seelenruhig steuert der Lokomotivführer seinen Vorortszug weiter ungebremst Richtung Markt - es ist zum Wahnsinnigwerden. Der Kerl scheint mit seinem Karma im Reinen zu sein, will nur noch ins Nirwana wechseln und steuert die Kiste vielleicht absichtlich ins Meer. Ich sehe schon die morgigen Schlagzeilen in der Bangkok Post: Nach Flug Malaysia Airline MH 370 nun auch thailändischer Vorortszug mit 30 Passagieren spurlos verschollen. Herr, gib uns Kraft! Gibt es noch eine manuelle Notbremsung kurz vor dem Crash? Wir sind jetzt seit Ban Laem genau eine Stunde und vierzig Minuten unterwegs. Erst jetzt warnt der herannahende Zug mit ohrenbetäubendem Gehupe erstmals die Standbetreiber über sein Kommen. Bis zum Gemüseeldorado dürften es nur noch wenige hundert Meter sein.

Auf Tuchfühlung mit der Diesellok
Der Markt ist lang und schmal wie eine Eisenbahn. Die Stände drängeln sich auf beiden Seiten entlang von Häuserwänden, dazwischen verläuft die einschienige Verbindung zum Bahnhof gleich nach dem Markt. Hier werden Gemüse, Obst, Fisch, Fleisch, Suppen, Säfte und gebratene Krabben und Hühnerbeine feilgeboten. Ein zweites Mal signalisiert der Lokomotivführer sein Herannahmen und reduziert jetzt auch den Speed. Im Markt herrscht Hektik, Gedränge und Geschrei. Gackernde Hühner springen umher und abgeschnittene Fischköpfe schauen verwundert drein. Doch die Marktleute sind abgeklärt und routiniert, Panik kommt keine auf, denn das einzigartige Spektakel findet achtmal am Tag statt. Der Zug ist jetzt kurz vor dem Traversieren des Marktes und warnt zum dritten Mal. Ein Mann mit verpatzter Polizeilaufbahn, bläst ergänzend in seine Trillerpfeife und ruft vermutlich Zurück. Nur keine Zeit verplempern und die Zeit optimal ausnutzen. Das Mädchen mit dem Tablett verkauft einem Touristen noch schnell ein Hühnerbein. Jetzt sind die letzten Verkaufshändel abgeschlossen.
In Windeseile werden mit geübten Handgriffen die ausgefransten Markisen auf Stangen zurückgeklappt, Sonnenschirme gefaltet und die Ware in Kisten vom Geleise zurückgezogen. Geleise betreten strengstens verboten - das kennst du ja von Bahndämmen in Europa zur Genüge. Es ist zu gefährlich, wenn der Zug heran rauscht. In Mae-Klong gelten solche Verbote nicht. Jetzt ist der Zug nämlich da und er fährt noch immer schneller als im Schritttempo und hält mit permanent dröhnendem Gehupe Einzug in den Markt.

Die Lokomotive wirkt wie ein Elefant im Porzellanladen und trotzdem wird keiner Gurke auch nur ein Härchen gekrümmt. Die Marktstand-Betreiber sind mitbesorgt, dass Besuchende nicht vor dem Einkauf unter die Räder kommen. Bis zur letzten Sekunde wird begutachtet, befühlt, gefeilscht und abgewogen. Interessant zu wissen ist, dass Verkäufer auf dem Bahngelände keine Standgebühr bezahlen; Bahn und Bauern haben sich arrangiert.
Nun rollt im Abstand von wenigen Zentimetern der Hunderte von Tonnen schwere Koloss vorbei an Gemüse, Fisch und Gebratenem zum nahen Bahnhof. Die Marktbesucher und unzählige, mit Bussen herangekarrte Touristen stehen Spalier und feuern ihre billigen Digitalknipsen und Smartphones ab. Kaum ist das Eisenross durch, schliesst sich die schmale Gasse wieder: Sonnenschutzplanen klappen runter, Sonnenschirme gehen auf, Auslagen rollen nach vorne und das Business nimmt seinen weiteren Verlauf. Talad Rom Hoop heisst die Touristenattraktion; auf Teutonisch übersetzt: Schirmwegklapp-Markt.

Nach der Marktdurchfahrt folgt ein bewachter Bahnübergang und unmittelbar danach die Mae-Klong-Station. Nach weiteren fünfzig Metern endet das Geleise. Ich laufe nach vorne zum Triebwagen und sichte mit Befriedigung den Beweis von einer unfallfreien Fahrt; es sind keinerlei Beulen, Einschläge oder Blutflecken auszumachen. Standbetreibende berichten, dass sie sich in all den Jahren nicht an einen Unfall erinnern können. Tuchfühlung mit der Diesellok gehört hier zum Courant normal.

Pluspunkt Eisenbahn
Drei Dinge werden immer für den Zug sprechen: Erstens ist die Kraftübertragung vom Stahlrad auf die Stahlschiene derjenigen vom Gummireifen auf den Asphalt in Sachen Energieeffizienz haushoch überlegen. Damit fällt auch die Ökobilanz klar zugunsten des Zugs aus, wobei ich noch nicht einmal über die Herkunft der Antriebsenergie sprechen muss. Zweitens, bei hohem Passagieraufkommen ist der Zug wirtschaftlicher und komfortabler: Der Zug kann ohne personellen Mehraufwand um einige Wagen verlängert werden; Busse werden entweder zur Sardinenbüchse oder es müssen mehrere Fahrzeuge mit je einem Fahrer eingesetzt werden.
Drittens, bei gleicher Streckenlänge ist im Normalfall die Reisezeit mit dem Zug wesentlich kürzer. Doch bei dieser Reise herrscht kein Normalfall vor und du hast doppelt so lange wie im Bus. Doch das muss hier so sein und du wirst es nicht bedauern. Auf der Rückreise kannst du immer noch den Minibus zurück in die Engelsstadt nehmen.

Tipps zum Fotoshooting
Das Spektakel vom Zugfenster aus zu fotografieren macht wenig Sinn. Setzt du beim Fotografieren nicht auf schnellen Rush, sondern auf Qualität, benötigst du genügend Zeit, wie für alles Gute im Leben. Fotografieren ist fast wie Bumsen. Zuerst nimmst du einen Augenschein vom Objekt, dann läufst du drum herum, wägst die besten Perspektiven ab, überlegst wie viele Schüsse du brauchst, checkst die Lichtsituation und die Kapazität der Batterie und Memorykarte, bevor du richtig zur Sache kommst und abdrückst. Nun zum Ablauf: Zuerst absolvierst du die Bahnfahrt, erfasst die Landschaft und das Geschehen im Zug. Nach der Ankunft gehst du auf Location im Markt. Nimm bei der Hinfahrt selber nicht den letzten Zug, sonst kannst du keine Fotos von einem einfahrenden Zug mehr machen. Das Geschehen rund um das Rückklappen der Markisen fotografierst du am besten auf der Rückfahrt hinten vom letzten Wagen aus. Willst du die Rückfahrt nicht mehr im Zug machen, springst du ab oder gehst bei der nächsten Station wieder raus.

Thailand tanken
Die Endstation in Mae-Klong ist ein hervorragender Ausgangspunkt zum Erkunden der ganzen Umgebung, den Fruchtgärten, Glühwürmern und des Landlebens an den Kanälen. Verfügst du über das notwendige Sensorium, kannst du in dieser Landschaft und Umgebung in Vollem schwelgen und so richtig Thailand tanken.
Von hier aus lassen sich viele Attraktionen erreichen wie die Schwimmenden Märkte in Damnoen Saduak oder in Amphawa. Letzteres ist ein Kanaldorf mit einer typisch thailändischen Szenerie. Holzhäuser und stimmungsvolle Lokale verbreiten Charme.
Beim 7Eleven nehmen wir einen Songthaew nach Amphawa. Die Fahrt dauert 15 Minuten, lohnt sich aber nicht unbedingt, weil nicht Wochenende ist und kein Schwimmender Markt stattfindet. Es gibt wohl einzelne Garküchen auf Booten, aber sonst ist der Ort praktisch ausgestorben und viele Läden geschlossen. Wer länger in der Gegend bleibt und übernachten möchte, findet in Samut Songhkram Gästehäuser nördlich vom Bahnhof. Du bist dann anderntags frühzeitig vor Ort und kannst den Floating Market vor dem grossen Touristenrush besichtigen.

Homerun
In Amphawa gesellen wir uns zu einer Gruppe taiwanesischer Traveller und nehmen gemeinsam einen Minibus zurück nach Bangkok (THB 80). In einem Ralley ohne Sieger und Platzierten, rast der Fahrer wie von Mördern verfolgt, in 1 ½ Stunden in die Hauptstadt. Ich glaube er sieht das Heldentum im falschen Glanz, doch ich habe keinen Bock mit ihm zu diskutieren und ihn beim Telefonieren zu stören. Zumindest kann ich mir einen Platz direkt bei der Schiebetür sichern und Vielliebchen auf dem Beifahrersitz lege ich den Sicherheitsgurt um. Im Zentrum der Engelsstadt einen Parkplatz zu finden ist schwieriger als einen Lebenspartner. Im Victory Monument kippt uns der Driver mehr oder weniger fliegend raus. Von dort geht es mit dem Taxi (THB 80) an die Khaosan Road – eine nicht ganz normale Strasse in Bangkok-Banglamphu. "Heute haben wir für alles fast immer THB 80 bezahlt", bemerkt meine aufgeweckte Budgetverwalterin.

Jetzt Sehnsucht für nach Hause? Nein, wo ist das denn und was soll ich dort? Thailand kann noch viel mehr, du musst es nur erleben. Vielliebchen ist immer dabei! Mit Freude nehme ich weiter an den Sünden der Welt teil. Mit Glück, Mut und etwas Schmiergeld hat man gute Chance jedes Abenteuer zu überleben.

Pitcairn, seit über 40 Jahren auf der endlosen Reise.

Thailand, im April 2014


 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
        #2  

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:super: mehr gibts nicht zu sagen :wink0:
 
        #3  

Member

Schließe mich Camaro63 an!!! Kannst Du noch ein paar Fotos einstellen?

LG Thaivisit
 
        #4  

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Klasse ge- und beschrieben! Kommt auf die To-Do-Liste.:dank:
 
        #5  

Member

Einmal mehr ein Pitcairn....:super:

Ebenso sehr detaillierte Beschreibung von Erlebnissen, Beobachtungen und Gedankengängen.

Schreib besser ein Buch zur Aufarbeitung, dann hat nicht nur der Seelenklemptner (und evtl. du) was davon ;)
 
Zuletzt bearbeitet:
        #6  

Member

Was für ein Hammerbericht - Einfach genial!

:super: :dank: :respekt:
LG Jack
 
        #7  

Member

ja bist du wahnsinnig - super.
 
        #9  

Member

Da wären wohl auch Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki ein paar lobende Worte eingefallen... vielleicht nicht ganz so überschwenglich, wie bei mir, Normalo,

denn ich finde die Beschreibung einfach nur GEIL!
 
        #10  

Member

Toll geschrieben, super Ausflug wenn ich das nächste Mal in BKK bin.
 
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