Krisenstaat NigeriaDas Geschäft mit den Entführungen
Am Wochenende haben bewaffnete Kämpfer in Nigeria mindestens 160 Menschen aus einem Dorf verschleppt. Massenentführungen sind neben vielen anderen Krisen zu einem landesweiten Problem geworden. Der Staat wirkt hilflos.
Eine Kurzanalyse von
Fritz Schaap, Nairobi
27.05.2024, 19.33 Uhr
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Befreite Entführungsopfer im März: Mehr als 700 Massenentführungen in fünf Jahren
Worum geht es?
Die Bewaffneten schienen nicht in Eile. Auch Sorge um ein Eingreifen der Armee hatten sie wohl nicht, als sie Freitagnacht in das Dorf Kuchi im nigerianischen Bundesland Niger State einfielen.
Die rund 300 Männer kochten sich Tee, bereiteten Essen zu, wärmten sich an Lagerfeuern, während sie das Dorf plünderten und die Menschen zusammentrieben. Sie töteten zehn und entführten mindestens 160 Menschen, nachdem sie stundenlang ihr Unwesen getrieben hatten. Die Entführer nahmen hauptsächlich Frauen und Kinder mit.
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Mädchenschule in Chibok: Damals ein weltweiter Skandal, heute alltäglich
Was sind die Hintergründe?
Die Zahlen sind monströs, und doch sind sie in Nigeria normal. Das Land ist das bevölkerungsreichste Afrikas. Fast 220 Millionen Menschen leben in dem Vielvölkerstaat, 2050 werden es wohl rund 400 Millionen sein. Nigeria hat das fünfthöchste Bruttoinlandsprodukt des Kontinents, ist der größte Ölproduzent. Und doch bezeichnen Experten Nigeria zunehmend als »failed state«. Die Regierung hat auf weite Teile des Landes keinen Zugriff mehr.
Nigeria ist Heimat einer ganzen Reihe blutiger Krisen. Konflikte zwischen Hirten und Bauern um fruchtbaren Boden fordern jährlich Tausende Tote im Zentrum des Landes. Mehrere separatistische Bewegungen stiften Chaos, Piraterie und organisierter Öldiebstahl greifen um sich. Verschiedene dschihadistische Gruppen terrorisieren die Bevölkerung besonders im Nordosten. Im Nordwesten kontrollieren Banditen ganze Landstriche. Entführungen sind laut den nigerianischen Sicherheitsanalysten der Firma SBM Intelligence eine Begleiterscheinung all dieser Krisen. Das Hauptmotiv: Lösegeldzahlungen. Das Unternehmen hat seit 2019 mehr als 735 Massenentführungen gezählt. Immer wieder entführen Kriminelle ganze Schulen, sogar mehrere Hundert Kinder auf einmal.
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Nigerianische Soldaten nach Entführung an einer Schule: Die Armee hat zu wenig Soldaten und Ausrüstung für die Vielzahl der Konflikte
Es ist ein lukratives Geschäft entstanden, mit dem Banden große Summen Geld erpressen. 20 bis 200.000 Dollar zahlen Verwandte oder Freunde im Entführungsfall. Nach Angaben des »Armed Conflict Location and Event Data Project« wurden im vergangenen Jahr in Nigeria mehr als 3.600 Menschen entführt. Es ist der höchste Wert seit fünf Jahren. Die tatsächliche Zahl liegt aber wohl sehr viel höher. In vielen Fällen werden die Vorfälle nicht gemeldet, sondern die Entführer direkt bezahlt. Besonders seitdem die Regierung das Zahlen von Lösegeld 2022 zu einer Straftat erklärt hat.
Ein lokaler Beamter berichtete der BBC, dass es sich bei den Entführern in Kuchi wohl um Kämpfer von Boko Haram handele. Seit mehreren Jahren schon agieren die Terroristen auch im zentral gelegenen Bundesland Niger State. Die Abwesenheit des Staates macht das möglich.
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Der Vorsitzende des lokalen Verwaltungsrates beklagte gegenüber nigerianischen Medien, dass die Sicherheitskräfte nicht auf Notrufe reagiert hätten. Oft sind Selbstverteidigungsmilizen der einzige Schutz, den die Dörfer haben. Nicht selten sind diese aber nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Keine Gegner für die oftmals gut bewaffneten Banditen und Gotteskrieger.
(S+) Nigeria: Wie sich der afrikanische Gigant zum »failed state« entwickelt
»Die Invasion des Dorfes durch die Bewaffneten ist ein weiterer Beweis für das völlige Versagen der nigerianischen Behörden, wenn es darum geht, Leben zu schützen«, so »Amnesty International« am Sonntag. »Die nigerianischen Behörden haben die ländlichen Gemeinden von Niger State bewaffneten Gruppen überlassen, die täglich Menschen töten und entführen.«
Für die Bewohner von Kuchi seien Überfälle nicht neu, so die Organisation. Seit 2021 griffen bewaffnete Männer das Dorf und die benachbarten Gemeinden immer wieder an und vergewaltigten Frauen und Mädchen. Oft verlangten sie von den Menschen Hunderte oder Tausende Dollar Schutzgeld. Wenn sie nicht zahlten, würden sie entführt.
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Was sind die Folgen?
Als 2014 knapp 300 Schülerinnen von der radikalislamistischen Terrorgruppe Boko Haram in dem Ort Chibok entführt wurden, war der weltweite Aufschrei groß. Menschen gingen auf die Straßen, der Hashtag #BringBackOurGirls wurde selbst von Michelle Obama aufgegriffen. Heute geschieht nichts dergleichen. Selbst Entführungen in dieser Größenordnung sind Alltag geworden in Nigeria.
Wie es im Fall des Dorfes Kuchi weitergeht, ist unklar. Im April hatte der nigerianische Präsident Bola Tinubu verkündet, die Regierung werde an bewaffnete Banden kein Lösegeld mehr zahlen. Denn das Geld ermutige die Kriminellen nur, weitere Verbrechen zu begehen. Stattdessen würden die Banden es mit den Sicherheitsdiensten des Landes zu tun bekommen.
Er verwies auf die Rettung von 137 Schülern kurz zuvor, die im Bundesstaat Kaduna entführt worden waren. Ihre Peiniger hatten 600.000 Dollar Lösegeld gefordert. Der Präsident sagte jedoch, es seien keinerlei finanzielle Mittel geflossen.
Experten aber bezweifeln, dass der Staat wirklich kein Geld mehr zahlt. Besonders bei öffentlichkeitswirksamen Kindesentführungen. Ndu Nwokolo, ein nigerianischer Sicherheitsexperte, sagte bereits im April in einem Interview, dass der nigerianische Staat wohl zu schwach sei, um Entführungsopfer tatsächlich mit militärischer Stärke zu retten.