Member
Pitcairn auf seiner ungewöhnlichen Individualreise quer durch Bangladesch.
Der Economist gibt jährlich das Rating der Least liveable city of the world - Der am wenigsten lebenswerten Städte unserer Erde bekannt. Dhaka schafft es regelmässig unter die ersten zehn - im Jahr 2011 sogar auf den zweiten Platz. Gratulazie, Gratulazie, wenigstens hier mischt der Moloch vorne mit.
Die Ausbreitung des Dengue Fieber in der Stadt ist zu einer neuen Plage geworden. Es wird von Moskitos übertragen und kann in seiner schlimmsten Form tödlich sein. Eine Impfung dagegen gibt es keine. Die Moskitos lieben die City deshalb, weil die Strassen von Seitenkanälen mit stehendem Wasser gesäumt sind, wo Schmutzwasser entsorgt, die Leute hinein pinkeln und sich ihrer Körpersäfte entledigen. Frischwasser gelangt während der Trockenzeit bis zum Frühjahr nicht mehr hinein.
Die Allerärmsten sitzen am Strassenrand, belagert von katzengrossen Ratten, und schauen mich aus der Tiefe ihres Elends an. Kinder spielen mit mausgrossen Blattodea orientalis oder auf Gutdeutsch, orientalische Kakerlaken. Das Bild ist an Schrecklichkeit kaum zu überbieten. Hoffnungslose Armut an Leib und Seele. Ziegen weiden auf dem Asphalt. Die 15 Millionen-City Dhaka, ist die am schnellsten wachsende Grossstadt Asiens. Unsere Kulis bahnen sich mit ihren Fahrrad-Rickshaws den Weg durch den tosenden Verkehr. Es ist später Nachmittag, es ist heiss, es ist staubig, die Luft flimmert über dem Asphalt und ich bin auf Erkundungsmission. Gehupe und Geklingel mischen sich mit Hämmern, Klopfen und Kreischen auf Baugerüsten, die beidseits der Strasse in den Himmel wachsen. Die Spannung aus pulsierender Lebendigkeit und Stillstand, beherrscht alle Lebensbereiche der Stadt und erschlägt Besuchende. Auf stark befahrenen Nebenstrassen rollen wir langsam Richtung Flusshafen Sadarghat. Keine Ahnung was mir bevorsteht. Das ist geil und genau nach meinem Gusto. Mein Darm meldet sich zwischenzeitlich und verlangt nach einem stillen, unbeobachteten Ort zum Verweilen. Ich möchte mit Freude defäkieren. Impotencia faecalis, kommt es mir in den Sinn – doch hier kann ich nicht kacken. Dieser Citytrip muss wahrlich zuerst über die Distanz gebracht werden.
Noch eine volle weitere Stunde dauert der Stop-and-go-ride während der Rush-Hour. Wir kämpfen uns über Mahakhali, Malibag, durch den Kuchen von Old Dhaka bis zur Enddestination Sadarghat, dem städtischen Haupthafen vor. Horden bettelnder Strassenkinder mit riesigen dunklen Augen in Lumpen gehüllt, alt vor ihrer Zeit, sitzen in pesthauchender Fäulnis herum. Manche wurden von ihren Eltern absichtlich verstümmelt, um das harte Geschäft des Bettelns einträglicher zu machen. Unglaubliches Elend! Jetzt gelange ich in ihren Blickwinkel und im Nu ist Effendi Pitcairns Rickshaw von ihnen umringt. Ein leprafaules Händchen will nach meiner Kamera greifen und Bildchen auf dem Display schauen; aus den Beulen rinnt eine faulige, übelriechende Flüssigkeit. Wir überrollen beinahe einen Mann, der ohne Arme und Beine, bäuchlings auf einem Brett mit Kugellager liegend, vor uns die Strasse überquert. Mit Hilfe seiner Armstümpfe bewegt er sich vorwärts. Zwei abgenutzte 10-Taka-Scheine liegen in seinem Hohlkreuz, die einzige Möglichkeit Geldspenden aufzunehmen und bei sich zu tragen. Ein kleiner Knabe ohne Augen im Gesicht, wird von seinem Bruder bakschischheischend zu mir hochgehoben. Ich blicke in zwei vereiterte, dunkle Löcher; ein über alle Massen entstellter Anblick. Wer hat dieses kleine Kind derart zugerichtet? Abschreckend hässlich und für das ganze Leben gezeichnet. Nicht geboren zu werden, ist hier das grösste Glück. Diese Welt müsste es nicht zu geben.
Ich habe keine Lust, mir den Mantel des Betroffenheitsapostels überzuziehen - ich bin mir Elendsituationen beim Reisen gewohnt. Doch ich kann mich wehren wie ich will, ein Schaudern der Ergriffenheit legt sich auf mein westliches Herz und epidemes Grauen überkommt mich. Ich kann nicht mehr hinsehen und muss meine Augen von diesen Bildern desinfizieren. "Gabriel hilf mir, ich muss jetzt unbedingt den Antipoverti-Button drücken." Gerne möchte ich mich an die Bar eines Fünfsterne-Hotels retten, doch es gibt in dieser Gegend keines, die befinden sich alle weiter nördlich Richtung Mirpur, Gulshan, Banani, Flughafen. Hoffnungslose Armut an Leib und Seele, Qual und Elend ohne Ende. Es ist entsetzlich ein Mensch zu sein. Hier an diesem Ort ist sogar tot sein eine Zumutung. Möchtest du dir ein Bild von der Hölle auf Erden malen, brauchst du nicht Dantes Inferno durchzuackern, das kannst du schneller haben - hier ist der geeignete Standort. Verlangen peitscht mich, meiner Leserschaft den Spiegel dieser Dreckwelt vorzuhalten. Ungefragt setze ich meine Kamera an zum Schuss - scheissegal, hier kennt niemand mehr eine Moral, ich knipse alles was mir vor die Linse kommt.
Da ist so viel Armut und Schmutz in den Strassen, Strassenhändler die ihren Tee auf Feuern aus Kuhdung zubereiten, direkt neben Rinnsalen von menschlichem Kot und Urin. Unvorstellbarer Gestank! Hier sind Nase, Ohren, Herz und Lunge, dem Härtetest einer der verstunkendsten Ansiedlungen unseres Planeten ausgeliefert: Varanasi mit all seinen grillierten Leichen an den Ghats ist im Vergleich zu Dhaka ein Parfümeriestandort. Meine Lesenden können von Glück reden, dass das Geruchs-Internet noch nicht erfunden ist, sonst würde ich euch allen jetzt eine grosse Pisswolke zum Inhalieren rüberschieben. Zwischendurch wird der Verkehr etwas flüssiger. Es macht richtig Spass, bei Rotlicht über Kreuzungen zu donnern. Die ohnehin paar wenigen Ampeln, sind sicher nur zur Dekoration gedacht. Natürlich gäbe es Regelungen, doch keine Sau kennt und befolgt sie. Wir kämpfen uns im Schritttempo durch die North-South-Road. Ein Bündel Mensch aus Haut und Knochen schmachtet neben einer grossen Mobilfunk-Reklame und versucht mühsam die Hand zu heben und auf sich aufmerksam zu machen. Ich habe meine Zweifel, ob die Frau die kommende Nacht überlebt. Ein behinderter Bettler zieht sich flach über den Boden. Eilige Passanten steigen über ihn hinweg. Nach zweistündiger Fahrt nähern wir uns schliesslich unserer Enddestination Sadarghat. Zu Fuss machen wir uns auf den Weg durch Dreck und Chaos und inhalieren den Gestank menschlicher Exkremente.
Der Riverport am Buriganga im südlichen Zipfel von Old-Dhaka, gilt als grösster der Welt und ist ein lebhafter Umschlagplatz für Personen und Güter.
Der Buriganga - der alte Ganges - hat seinen Ursprung vom Dhaleshwari (nahe Kalatia). Seine durchschnittliche Breite beträgt 400 Meter und seine Tiefe 10 Meter. Er ist 27 Kilometer lang und für Dhaka von grosser ökonomischer Bedeutung, denn er bietet eine hervorragende Flussverbindung und vereint alle bedeutenden Binnenhäfen des Landes. Seit Jahrhunderten ist er die Hauptader des Handels.
Dieser Altarm des Ganges ist halbtot und vergiftet durch Abwässer von Hunderten von Kunststoff- und Recyclingfabriken, Ziegeleien und Ledergerbereien. Kleine hölzerne Lastschiffe und überladene Dampfer durchpflügen eine schwarze Brühe, trügerisch schön überwuchert von Wasserhyazinthen. Viele Arbeiter trinken aus dem Fluss, waschen sich und ihre Kleider darin, Kinder planschen in ihm.
Ein Junge beugt sich tief über die Wasseroberfläche und filtert mit seinen Händen beim Trinken die Algen heraus.
Der Fluss vergiftet den Boden, auf dem weiter im Süden Reis und Gemüse wachsen. Hautkrankheiten grassieren, Durchfall und Krebs. Hazaribag, das Epizentrum der Verschmutzung mit seinen Ledergerbereien, liegt unweit oberhalb der Altstadt und das hoch vergiftete Kloakenwasser gelangt dort in den Fluss und fliesst hier vorbei.
Dem Kalte-Getränke-Junge vor mir, kaufe ich eine Flasche Sprudel ab. Er ist so arm, dass er sein ganzes Leben zwischen Sadarghat-Riverport und Hazaribagh verbringt, einen Kronkorken nach dem anderen öffnet und nie eine Schule von innen sieht. Er ist immerhin frei, muss in keine Koranschule und ist ein Kleinstunternehmer.
Über ihm ist der offene Himmel und er kann aus eigenem festen Willen entscheiden ob er weggehen oder bleiben will, doch er gehört einer weiteren No-future-Generation an.
Wir mieten ein kleines Boot und lassen uns im Hafen herumrudern. Vom Wasser aus ergibt sich eine andere, interessante Perspektive und je weiter wir hinaus rudern, umso stärker reduziert sich der Hafenlärm und wir werden von der bettelnden Bevölkerung nicht behelligt. Auf dem Holzboden zu sitzen ist fürchterlich unbequem, aber eine Stunde lässt sich aushalten und die Atempause von all dem Elend ist wohltuend. Vom Ruder gelangen ein paar Wasserspritzer ins Boot und auf meine Haut; entsetzt zucke ich zurück. Wer hier in diese Brühe fällt, spart sich die Ausgaben für die Haarentfernung im Kosmetikstudio.
Schreiend, brüllend und lachend, werden wir von der Menschenmenge wie Helden nach der Rückkehr empfangen. Mit Sicherheit haben sie unser Tun die ganze Zeit beobachtet. Wir werden von all den neugierigen Leuten umringst und das längst bekannte Szenario wiederholt sich. "What's your country? How long Bangladesh? You Baby?" Gemeint ist, aus welchem Land wir kommen, wie lange wir in Bangladesch bleiben und ob wir Kinder haben. Freundlich wie immer beantworten wir die gestellten Fragen. "We come from Switzerland"
Viele Menschen hierzulande kennen die Schweiz aus dem Kino. Die indischen und bengalischen Filmproduzenten benutzen unsere Berglandschaften gerne als Kulisse. Bei Unwissen helfe ich gerne ein bisschen nach: "Do you know Nescafé, Bearbrand-Condensmilk, Holcim-Cement, Toblerone-Chocolate, Roger Federer? Zur Krönung zeige ich meine rote Quality-Swatch. You see, that's Switzerland as well. Jetzt endlich ist alles klar und der Groschen fällt: "Oh yes, Switzerland very good!"
Landflucht
Für verweichlichte Beckenrandschwimmer mag diese Stadt ein Moloch sein, aber für Millionen Bangladeschis bedeutet Dhaka Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie kommen, auf der Suche nach Arbeit, aus ihren Dörfern in die Stadt, doch die Meisten enden in den unzähligen Slums, von wo aus sie jeden Morgen erneut aufbrechen um Arbeit zu suchen oder aber als Reinigungskräfte, Ledergerber, Abfallsortierer, Bedienung oder Rickshaw-Fahrer ihren kargen Lohn zu verdienen.
In dieser am schnellsten wachsenden Metropole der Welt, treiben Zustrom und mangelnde Planung, die soziale und physische Infrastruktur in den vollständigen Kollaps. 1980 lebten in Dhaka drei Millionen Bürger. Inzwischen sind es fünfmal so viel. 40 Prozent von ihnen drängen sich in den Elendsvierteln auf einem Zwanzigsten der Fläche. Täglich strömen 1'400 neue Siedler herein, mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Im nächsten Jahrzehnt dürfte die Einwohnerzahl auf 25 Millionen steigen. Der Klimawandel beschert den nördlichen Landesregionen Dürre. Das gibt den Tagelöhnern Anstoss zum Aufbruch. Alis Familie sitzt jeden Tag im beissenden Gestank brennender Müllhalden neben einem Berg alter Gummisandalen am Boden. Aus jedem einzelnen Latschen entfernen sie den Riemen und geben die Sohlen zum Rezyklieren in die schäbige Fabrik hinter ihnen. Tausende Mal der gleiche Schnitt, zehn Stunden am Tag, in glühender Sonne, für umgerechnet weniger als US $ 40 im Monat. US $ 10.-- schlägt allein die Unterkunft zu Buche, erzählt die Frau im blauen Sari. In dem winzigen Verschlag wohnen noch zwei unverheiratete Töchter, beide arbeiten für einen Hungerlohn in einer Textilfabrik.
Die Bretterbuden und Manufakturen am Ufer, die Ketten von Lastenträgern und die Bettler in Lumpen, die offenen Latrinen und Schlote mit verpesteter Luft, erinnern an die Verfilmungen des Autors Charles Dickens vom London während der Frühindustrialisierung. Oliver Twist, David Copperfield und Nicholas Nickleby sind nur einige wenige davon. Lärmende LKW's verstopfen die schlammigen Gassen. Trotzdem sehen viele Menschen Überlebensperspektiven. "Zuhause gab es überhaupt keine bezahlte Arbeit", sagt Ali, ohne sein Handwerk zu unterbrechen. "Wir sind ja erst seit sechs Monaten hier." Auch Rajia lächelt: "Das ist bloss unser erster Job. Wir werden einen besseren finden." Überleben bedeutet für Neuankömmlinge durchzuhalten, auf die Zähne beissen, sich zusammenreissen und - irgendwie geht es meistens. Allein hier etwas Einkommen zu generieren und am Leben zu bleiben ist schon ein kleiner Sieg.
Ich fange an mich zu fragen, ob und wie ich wohl hier auf lange Dauer zurechtkommen würde - mit einem Dollar am Tag. Würde ich mit meiner westlichen Mentalität, als Macher, Anpacker, mit viel Selbstdisziplin und ausreichend Lebensklugheit, besser als andere Leute über die Runden kommen? Ich vermute ja, denn ich bin ein nüchterner Denker und Handler, mein Hirn denkt eigenverantwortlich und keine Religion engt mich ein. Ich nehme mich selbst nicht so wichtig, bin aber von meiner Überlegenheit überzeugt. Die Präsenz vieler meiner Bekannten, würde hier kein ganzes Jahr überdauern. Ich frage mich, ob denn alles, was wir heutzutage besitzen, wirklich so gut für die Befriedigung unserer Wünsche ist. Ist es nicht mehr unerfüllte Hoffnung, die uns quält? Die Beantwortung dieser Frage überlasse ich meinen Lesenden - das gibt Anstoss zum Nachdenken und zu Diskussionen.
Pitcairn, seit 40 Jahren auf der endlosen Reise.
Pitcairn hat mit seinem vierköpfigen Reiseteam Bangladesch in den Monaten Oktober - Dezember 2014 individuell bereist. Der Bericht ist ein Auszug aus der über zweihundertseitigen Globalversion Ein Land im fortgeschrittenen Zerfall. Die Publikation im Forum wird in den kommenden Monaten erfolgen.
Der Economist gibt jährlich das Rating der Least liveable city of the world - Der am wenigsten lebenswerten Städte unserer Erde bekannt. Dhaka schafft es regelmässig unter die ersten zehn - im Jahr 2011 sogar auf den zweiten Platz. Gratulazie, Gratulazie, wenigstens hier mischt der Moloch vorne mit.
Die Ausbreitung des Dengue Fieber in der Stadt ist zu einer neuen Plage geworden. Es wird von Moskitos übertragen und kann in seiner schlimmsten Form tödlich sein. Eine Impfung dagegen gibt es keine. Die Moskitos lieben die City deshalb, weil die Strassen von Seitenkanälen mit stehendem Wasser gesäumt sind, wo Schmutzwasser entsorgt, die Leute hinein pinkeln und sich ihrer Körpersäfte entledigen. Frischwasser gelangt während der Trockenzeit bis zum Frühjahr nicht mehr hinein.
Die Allerärmsten sitzen am Strassenrand, belagert von katzengrossen Ratten, und schauen mich aus der Tiefe ihres Elends an. Kinder spielen mit mausgrossen Blattodea orientalis oder auf Gutdeutsch, orientalische Kakerlaken. Das Bild ist an Schrecklichkeit kaum zu überbieten. Hoffnungslose Armut an Leib und Seele. Ziegen weiden auf dem Asphalt. Die 15 Millionen-City Dhaka, ist die am schnellsten wachsende Grossstadt Asiens. Unsere Kulis bahnen sich mit ihren Fahrrad-Rickshaws den Weg durch den tosenden Verkehr. Es ist später Nachmittag, es ist heiss, es ist staubig, die Luft flimmert über dem Asphalt und ich bin auf Erkundungsmission. Gehupe und Geklingel mischen sich mit Hämmern, Klopfen und Kreischen auf Baugerüsten, die beidseits der Strasse in den Himmel wachsen. Die Spannung aus pulsierender Lebendigkeit und Stillstand, beherrscht alle Lebensbereiche der Stadt und erschlägt Besuchende. Auf stark befahrenen Nebenstrassen rollen wir langsam Richtung Flusshafen Sadarghat. Keine Ahnung was mir bevorsteht. Das ist geil und genau nach meinem Gusto. Mein Darm meldet sich zwischenzeitlich und verlangt nach einem stillen, unbeobachteten Ort zum Verweilen. Ich möchte mit Freude defäkieren. Impotencia faecalis, kommt es mir in den Sinn – doch hier kann ich nicht kacken. Dieser Citytrip muss wahrlich zuerst über die Distanz gebracht werden.
Noch eine volle weitere Stunde dauert der Stop-and-go-ride während der Rush-Hour. Wir kämpfen uns über Mahakhali, Malibag, durch den Kuchen von Old Dhaka bis zur Enddestination Sadarghat, dem städtischen Haupthafen vor. Horden bettelnder Strassenkinder mit riesigen dunklen Augen in Lumpen gehüllt, alt vor ihrer Zeit, sitzen in pesthauchender Fäulnis herum. Manche wurden von ihren Eltern absichtlich verstümmelt, um das harte Geschäft des Bettelns einträglicher zu machen. Unglaubliches Elend! Jetzt gelange ich in ihren Blickwinkel und im Nu ist Effendi Pitcairns Rickshaw von ihnen umringt. Ein leprafaules Händchen will nach meiner Kamera greifen und Bildchen auf dem Display schauen; aus den Beulen rinnt eine faulige, übelriechende Flüssigkeit. Wir überrollen beinahe einen Mann, der ohne Arme und Beine, bäuchlings auf einem Brett mit Kugellager liegend, vor uns die Strasse überquert. Mit Hilfe seiner Armstümpfe bewegt er sich vorwärts. Zwei abgenutzte 10-Taka-Scheine liegen in seinem Hohlkreuz, die einzige Möglichkeit Geldspenden aufzunehmen und bei sich zu tragen. Ein kleiner Knabe ohne Augen im Gesicht, wird von seinem Bruder bakschischheischend zu mir hochgehoben. Ich blicke in zwei vereiterte, dunkle Löcher; ein über alle Massen entstellter Anblick. Wer hat dieses kleine Kind derart zugerichtet? Abschreckend hässlich und für das ganze Leben gezeichnet. Nicht geboren zu werden, ist hier das grösste Glück. Diese Welt müsste es nicht zu geben.
Ich habe keine Lust, mir den Mantel des Betroffenheitsapostels überzuziehen - ich bin mir Elendsituationen beim Reisen gewohnt. Doch ich kann mich wehren wie ich will, ein Schaudern der Ergriffenheit legt sich auf mein westliches Herz und epidemes Grauen überkommt mich. Ich kann nicht mehr hinsehen und muss meine Augen von diesen Bildern desinfizieren. "Gabriel hilf mir, ich muss jetzt unbedingt den Antipoverti-Button drücken." Gerne möchte ich mich an die Bar eines Fünfsterne-Hotels retten, doch es gibt in dieser Gegend keines, die befinden sich alle weiter nördlich Richtung Mirpur, Gulshan, Banani, Flughafen. Hoffnungslose Armut an Leib und Seele, Qual und Elend ohne Ende. Es ist entsetzlich ein Mensch zu sein. Hier an diesem Ort ist sogar tot sein eine Zumutung. Möchtest du dir ein Bild von der Hölle auf Erden malen, brauchst du nicht Dantes Inferno durchzuackern, das kannst du schneller haben - hier ist der geeignete Standort. Verlangen peitscht mich, meiner Leserschaft den Spiegel dieser Dreckwelt vorzuhalten. Ungefragt setze ich meine Kamera an zum Schuss - scheissegal, hier kennt niemand mehr eine Moral, ich knipse alles was mir vor die Linse kommt.
Da ist so viel Armut und Schmutz in den Strassen, Strassenhändler die ihren Tee auf Feuern aus Kuhdung zubereiten, direkt neben Rinnsalen von menschlichem Kot und Urin. Unvorstellbarer Gestank! Hier sind Nase, Ohren, Herz und Lunge, dem Härtetest einer der verstunkendsten Ansiedlungen unseres Planeten ausgeliefert: Varanasi mit all seinen grillierten Leichen an den Ghats ist im Vergleich zu Dhaka ein Parfümeriestandort. Meine Lesenden können von Glück reden, dass das Geruchs-Internet noch nicht erfunden ist, sonst würde ich euch allen jetzt eine grosse Pisswolke zum Inhalieren rüberschieben. Zwischendurch wird der Verkehr etwas flüssiger. Es macht richtig Spass, bei Rotlicht über Kreuzungen zu donnern. Die ohnehin paar wenigen Ampeln, sind sicher nur zur Dekoration gedacht. Natürlich gäbe es Regelungen, doch keine Sau kennt und befolgt sie. Wir kämpfen uns im Schritttempo durch die North-South-Road. Ein Bündel Mensch aus Haut und Knochen schmachtet neben einer grossen Mobilfunk-Reklame und versucht mühsam die Hand zu heben und auf sich aufmerksam zu machen. Ich habe meine Zweifel, ob die Frau die kommende Nacht überlebt. Ein behinderter Bettler zieht sich flach über den Boden. Eilige Passanten steigen über ihn hinweg. Nach zweistündiger Fahrt nähern wir uns schliesslich unserer Enddestination Sadarghat. Zu Fuss machen wir uns auf den Weg durch Dreck und Chaos und inhalieren den Gestank menschlicher Exkremente.
Der Riverport am Buriganga im südlichen Zipfel von Old-Dhaka, gilt als grösster der Welt und ist ein lebhafter Umschlagplatz für Personen und Güter.
Der Buriganga - der alte Ganges - hat seinen Ursprung vom Dhaleshwari (nahe Kalatia). Seine durchschnittliche Breite beträgt 400 Meter und seine Tiefe 10 Meter. Er ist 27 Kilometer lang und für Dhaka von grosser ökonomischer Bedeutung, denn er bietet eine hervorragende Flussverbindung und vereint alle bedeutenden Binnenhäfen des Landes. Seit Jahrhunderten ist er die Hauptader des Handels.
Dieser Altarm des Ganges ist halbtot und vergiftet durch Abwässer von Hunderten von Kunststoff- und Recyclingfabriken, Ziegeleien und Ledergerbereien. Kleine hölzerne Lastschiffe und überladene Dampfer durchpflügen eine schwarze Brühe, trügerisch schön überwuchert von Wasserhyazinthen. Viele Arbeiter trinken aus dem Fluss, waschen sich und ihre Kleider darin, Kinder planschen in ihm.
Ein Junge beugt sich tief über die Wasseroberfläche und filtert mit seinen Händen beim Trinken die Algen heraus.
Der Fluss vergiftet den Boden, auf dem weiter im Süden Reis und Gemüse wachsen. Hautkrankheiten grassieren, Durchfall und Krebs. Hazaribag, das Epizentrum der Verschmutzung mit seinen Ledergerbereien, liegt unweit oberhalb der Altstadt und das hoch vergiftete Kloakenwasser gelangt dort in den Fluss und fliesst hier vorbei.
Dem Kalte-Getränke-Junge vor mir, kaufe ich eine Flasche Sprudel ab. Er ist so arm, dass er sein ganzes Leben zwischen Sadarghat-Riverport und Hazaribagh verbringt, einen Kronkorken nach dem anderen öffnet und nie eine Schule von innen sieht. Er ist immerhin frei, muss in keine Koranschule und ist ein Kleinstunternehmer.
Über ihm ist der offene Himmel und er kann aus eigenem festen Willen entscheiden ob er weggehen oder bleiben will, doch er gehört einer weiteren No-future-Generation an.
Wir mieten ein kleines Boot und lassen uns im Hafen herumrudern. Vom Wasser aus ergibt sich eine andere, interessante Perspektive und je weiter wir hinaus rudern, umso stärker reduziert sich der Hafenlärm und wir werden von der bettelnden Bevölkerung nicht behelligt. Auf dem Holzboden zu sitzen ist fürchterlich unbequem, aber eine Stunde lässt sich aushalten und die Atempause von all dem Elend ist wohltuend. Vom Ruder gelangen ein paar Wasserspritzer ins Boot und auf meine Haut; entsetzt zucke ich zurück. Wer hier in diese Brühe fällt, spart sich die Ausgaben für die Haarentfernung im Kosmetikstudio.
Schreiend, brüllend und lachend, werden wir von der Menschenmenge wie Helden nach der Rückkehr empfangen. Mit Sicherheit haben sie unser Tun die ganze Zeit beobachtet. Wir werden von all den neugierigen Leuten umringst und das längst bekannte Szenario wiederholt sich. "What's your country? How long Bangladesh? You Baby?" Gemeint ist, aus welchem Land wir kommen, wie lange wir in Bangladesch bleiben und ob wir Kinder haben. Freundlich wie immer beantworten wir die gestellten Fragen. "We come from Switzerland"
Viele Menschen hierzulande kennen die Schweiz aus dem Kino. Die indischen und bengalischen Filmproduzenten benutzen unsere Berglandschaften gerne als Kulisse. Bei Unwissen helfe ich gerne ein bisschen nach: "Do you know Nescafé, Bearbrand-Condensmilk, Holcim-Cement, Toblerone-Chocolate, Roger Federer? Zur Krönung zeige ich meine rote Quality-Swatch. You see, that's Switzerland as well. Jetzt endlich ist alles klar und der Groschen fällt: "Oh yes, Switzerland very good!"
Landflucht
Für verweichlichte Beckenrandschwimmer mag diese Stadt ein Moloch sein, aber für Millionen Bangladeschis bedeutet Dhaka Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie kommen, auf der Suche nach Arbeit, aus ihren Dörfern in die Stadt, doch die Meisten enden in den unzähligen Slums, von wo aus sie jeden Morgen erneut aufbrechen um Arbeit zu suchen oder aber als Reinigungskräfte, Ledergerber, Abfallsortierer, Bedienung oder Rickshaw-Fahrer ihren kargen Lohn zu verdienen.
In dieser am schnellsten wachsenden Metropole der Welt, treiben Zustrom und mangelnde Planung, die soziale und physische Infrastruktur in den vollständigen Kollaps. 1980 lebten in Dhaka drei Millionen Bürger. Inzwischen sind es fünfmal so viel. 40 Prozent von ihnen drängen sich in den Elendsvierteln auf einem Zwanzigsten der Fläche. Täglich strömen 1'400 neue Siedler herein, mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Im nächsten Jahrzehnt dürfte die Einwohnerzahl auf 25 Millionen steigen. Der Klimawandel beschert den nördlichen Landesregionen Dürre. Das gibt den Tagelöhnern Anstoss zum Aufbruch. Alis Familie sitzt jeden Tag im beissenden Gestank brennender Müllhalden neben einem Berg alter Gummisandalen am Boden. Aus jedem einzelnen Latschen entfernen sie den Riemen und geben die Sohlen zum Rezyklieren in die schäbige Fabrik hinter ihnen. Tausende Mal der gleiche Schnitt, zehn Stunden am Tag, in glühender Sonne, für umgerechnet weniger als US $ 40 im Monat. US $ 10.-- schlägt allein die Unterkunft zu Buche, erzählt die Frau im blauen Sari. In dem winzigen Verschlag wohnen noch zwei unverheiratete Töchter, beide arbeiten für einen Hungerlohn in einer Textilfabrik.
Die Bretterbuden und Manufakturen am Ufer, die Ketten von Lastenträgern und die Bettler in Lumpen, die offenen Latrinen und Schlote mit verpesteter Luft, erinnern an die Verfilmungen des Autors Charles Dickens vom London während der Frühindustrialisierung. Oliver Twist, David Copperfield und Nicholas Nickleby sind nur einige wenige davon. Lärmende LKW's verstopfen die schlammigen Gassen. Trotzdem sehen viele Menschen Überlebensperspektiven. "Zuhause gab es überhaupt keine bezahlte Arbeit", sagt Ali, ohne sein Handwerk zu unterbrechen. "Wir sind ja erst seit sechs Monaten hier." Auch Rajia lächelt: "Das ist bloss unser erster Job. Wir werden einen besseren finden." Überleben bedeutet für Neuankömmlinge durchzuhalten, auf die Zähne beissen, sich zusammenreissen und - irgendwie geht es meistens. Allein hier etwas Einkommen zu generieren und am Leben zu bleiben ist schon ein kleiner Sieg.
Ich fange an mich zu fragen, ob und wie ich wohl hier auf lange Dauer zurechtkommen würde - mit einem Dollar am Tag. Würde ich mit meiner westlichen Mentalität, als Macher, Anpacker, mit viel Selbstdisziplin und ausreichend Lebensklugheit, besser als andere Leute über die Runden kommen? Ich vermute ja, denn ich bin ein nüchterner Denker und Handler, mein Hirn denkt eigenverantwortlich und keine Religion engt mich ein. Ich nehme mich selbst nicht so wichtig, bin aber von meiner Überlegenheit überzeugt. Die Präsenz vieler meiner Bekannten, würde hier kein ganzes Jahr überdauern. Ich frage mich, ob denn alles, was wir heutzutage besitzen, wirklich so gut für die Befriedigung unserer Wünsche ist. Ist es nicht mehr unerfüllte Hoffnung, die uns quält? Die Beantwortung dieser Frage überlasse ich meinen Lesenden - das gibt Anstoss zum Nachdenken und zu Diskussionen.
Pitcairn, seit 40 Jahren auf der endlosen Reise.
Pitcairn hat mit seinem vierköpfigen Reiseteam Bangladesch in den Monaten Oktober - Dezember 2014 individuell bereist. Der Bericht ist ein Auszug aus der über zweihundertseitigen Globalversion Ein Land im fortgeschrittenen Zerfall. Die Publikation im Forum wird in den kommenden Monaten erfolgen.
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator: