Chittagong - Sreemangal - Dhaka

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Pitcairn auf seiner ungewöhnlichen Individualreise quer durch Bangladesch.

Bei Reisen nach Bangladesch ist der persönlichen Sicherheit grosse Aufmerksamkeit zu schenken. Die politischen Spannungen können landesweit jederzeit in gewaltsame Auseinandersetzungen ausarten, schreibt das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf seiner Webseite für Besuchende von Bangladesch. In Chittagong erlebte ich zum ersten Mal was damit gemeint ist. Die Kosten für eine Schiffsabwrackung sind im Westen wegen den teuren Arbeitskräften und strengen Umweltvorschriften sehr hoch. Insgesamt werden etwa 80 Prozent aller Schiffe in der Dritten Welt verschrottet. Eines der Zentren ist Chittagong in Bangladesch. Es handelt sich um keine Werft im herkömmlichen Sinn, sondern um einen breiten Strandabschnitt. Man fährt die Schiffe bei optimalem Gezeitenstand mit voller Kraft voraus, lässt sie auf den Strand auflaufen und zerlegt sie dort. Die Menschen leben hier davon, Wracks mit Schneidbrennern und brachialer Gewalt in ihre Einzelteile zu zerlegen und auszuschlachten. Die Arbeitsbedingungen sind erbärmlich. Die aufgeschnittenen Stahlkolosse wirken unwirtlich und vermitteln eine Art Endzeitstimmung.

Auf dem Weg zu den Abwrackungswerften wird demonstriert. Soziale Unruhen sind in der Tat hierzulande fast an der Tagesordnung. Ständig kommt es zu Streiks, Manifestationen bis hin zu kleinen Aufständen. Das war schon während der britischen Besatzungszeit und später als Teilstaat von Pakistan nicht anders. Heutzutage werden Autos nicht mehr wegen Freiheitsbestrebungen, sondern beispielsweise bei Unmut über neue Verwaltungsregelungen angezündet. Doch solange Politiker und Polizei ihre Vorbildsfunktion nicht wahrnehmen und ein schlechtes Beispiel abgeben, wird es nie besser. Fast immer findet sich ein Beamter, der gegen ein Bakschisch wegschaut oder eine Unterschrift erteilt. Wenn es sich ergibt, wird auch ganz kräftig zugelangt. Selbst Friedensnovellpreisträger machen da keine Ausnahme. Die Unehrlichkeit hat im ganzen Land ihre Hand im Spiel. Es ist zum Haare raufen. Ein Beamter äusserte sich mal unter vorgehaltener Hand: "Das ist unsere Art um zu überleben. Wir pfeiffen auf ehtisch vertretbare Massstäbe, solange unsere Familien nicht genug zu essen haben."


Beim jetzigen demonstrierenden Pöbel handelt es sich um Lastwagenfahrer ohne Lizenz, die ihren Beruf ungestört ausüben wollen und sich weigern, einen legalen Führerschein zu erwerben.
Für ihre Tätigkeit beanspruchen sie den Besitzstand. Für heute wurde deswegen ein Streik aller Transportunternehmer ausgerufen. Der Zorn der Demonstranten richtet sich gegen Streikbrechende, die trotzdem mit ihren Fahrzeugen unterwegs sind. Allah, bitte, lasse Hirn regnen, auf diese Häupter!
Transportfahrzeuge werden von Demonstranten mit Steinen beworfen und ich beobachte keine 15 Meter neben unserem Microvan einen Verrückten, der gerade dabei ist, mit einem Ziegelstein die Frontscheibe eines Lasters zu zertrümmern. Etwas weiter vorne brennen vier Fahrzeuge. Die Situation eskaliert zusehends, die Manifestanten liefern den Verkehrsteilnehmenden eine regelrechte Strassenschlacht. Die Polizei steht am Strassenrand und beobachtet untätig das Geschehen. Unser Fahrer fürchtet um seinen Toyota Hiace und bekommt es mit der Angst zu tun. Was ist, wenn die Demo ausser Kontrolle gerät, wir selber Schaden nehmen, wenn Steine und Brandsätze fliegen? Wir preschen auf der unasphaltierten Reservespur hinter Polizei und Demonstranten vorwärts und wechseln bei der nächstbesten Gelegenheit über die Mittenverbauung auf die Gegenfahrbahn und kehren in die City zurück.

Vier Männer halten eine ungesicherte Bambusleiter vertikal in die Höhe. Ein Mann steigt langsam Sprosse für Spross empor. Die unabgestütze Leiter schwankt, der Mann in der Höhe hält kurz inne, die Männer unten geben Gegendruck, die Schwankung nimmt ab. Immer weiter zieht sich der Mann Sprosse für Sprosse nach oben.
Der interessierte Lesende mag jetzt vermuten, dass wir uns im Abendprogramm des Zirkus Krone befinden und der Artist zum Abschluss am Ende der Leiter dem staunenden Publikum noch einen Handstand vorführen wird. Doch dem ist nicht so. Der Mann trägt keine Glitzerkleidung, kein Scheinwerfer strahlt ihn an, kein Trommelgewirbel verstärkt die Emotionen. Wir befinden uns mitten auf einer stark befahrenen Strasse in Chittagong auf einer ungesicherten Baustelle. Der Mann auf der Leiter ist gerade daran, eine Strassenlampe neben einer Hochspannleitung zu ersetzen. Links und rechts neben dem Reparaturteam braust der Verkehr.

Die Nacht hängt noch grau und schwer in der Luft. Die Uhr zeigt auf 5.45 Uhr und ich sitze mit Extra-Miggu in einer lokalen Teestube nicht weit vom Hotel beim Frühstück. Wir haben die vergangene Nacht zusammen ein Zimmer geteilt und um die Wette geschnarcht. Beide sind wir Frühaufsteher und Extra-Miggu hat seine täglichen Yoga-Übungen schon hinter sich gebracht und ich meine Notizen über den Vortag in den Mac getippt. Noch ist der Tag jung, noch dauert es eine Weile bis Bangladesch laut aufdreht, denke ich. Doch weit gefehlt! Als wir vom Hotel auf die Strasse treten, herrscht emsiges Treiben. Alles ist bereits auf den Beinen, Rickshaw-Kulis, Innereienverkäufer, Flickschuster, Korbflechter, Sattler, Spinnenhändler.
Die Verständigung im Cha-Shop um die Ecke ist einmal mehr mühsam, doch mittlerweile haben wir einfache Bestellungen im Griff. Die Leute trinken hier ihren Tee in der Regel süss und milchig. Magst du ihn lieber ohne Milch, verlangst du Lal Cha, wörtlich übersetzt Roter Tee, während Chini Na oder Chini Sera, ohne Zucker bedeutet. Eine Tasse kostet gewöhnlich 5 Taka. Wenn du mehr bezahlst, wirst du vermutungsweise übers Ohr gehauen. Bring your own sunshine, steht auf dem T-Shirt des jungen Mannes an unserem Nebentisch. Treffender kann man sich in dieser Nation nicht ausdrücken.
Die Kellner hier sind alles Kinder. Der jüngste ist mit Sicherheit nicht älter als 7 Jahre, der älteste vielleicht zehn. Es geht zu wie in einem Wespennest, denn gleich in der nächsten Seitengasse befindet sich ein grosser Engros-Frischmarkt und viele Händler kommen auf eine Tasse Cha herüber. Wir deuten auf die aufgeschichteten rohen Eier, erheben zwei Finger und sagen Fried Eggs. Der Junge wiegt seinen Kopf und ein paar Minuten später bekomme ich meinen Lal Cha Chini Sera und eine Omelette. Nachträglich hole ich mir beim Koch ein ungesäuertes Fladenbrot aus Weizenmehl, hierzulande Paratha genannt. Es unterscheidet sich zum ebenfalls beliebten Volksnahrungsmittel Chapati dadurch, dass der Teig mehrmals ausgerollt, mit Fett bestrichen und wieder ausgerollt wird, wodurch er beim Backen einen blätterteigartigen Charakter erhält. Gebacken wird übrigens immer in holzbefeuerten Öfen, die dem Fladen einen ganz speziellen Geschmack abgeben.
Sieben Millionen Kinder tragen in Bangladesch zum Überleben ihrer Familien bei. Viele leben in den Slums grosser Städte. Für wenig Lohn schuften sie in Gerbereien, Wäschereien, auf Baustellen, an Marktständen, in Teeshops, Kehrichtdeponien, Kleiderfabriken oder Bordellen. Die Jobs sind anstrengend, monoton, häufig gefährlich, ansteckend und 14-Stundentage meist der Normalfall. Tagaus, tagein, müssen Kinder schwere Handkarren ziehen, mit ungesicherten Maschinen arbeiten, giftige Dämpfe einatmen oder sich an fremden Geschlechtsorganen verdingen. Die kleinen Minderjährigen schleppen Dinge, für die sich unsereins zuhause einen Lieferwagen kommen lässt. Viele Kinder werden von Verbrecherorganisationen zur Bettelei oder Prostitution gezwungen. Prügel folgen, wenn sie nicht genügend Takas zurückbringen.
Das scheint auch der Grund zu sein, weshalb Kinder von uns lieber Geld als Esswaren annehmen. Kinder werden auch systematisch missbraucht, gefilmt und an Pädophile vermietet. Was da abläuft, liegt jenseits alles Vorstellbaren und ist ein ganz grosses Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Arbeit der Kinder gleicht einer ausgesuchten Folter. In Tat und Wahrheit ist niemand interessiert, die Standards zu verbessern. Es besteht ein unglaubliches Mass an Unehrlichkeit. Das Problem Kinderarbeit wird staatlich unterdrückt. Kinderarbeit gibt es in Familienbetrieben, Fabriken, überall. Am Schlimmsten ist, dass sich das bengalische Volk daran gewöhnt hat und alles Schicksalsergeben hinnimmt. Kinderarbeit wird im sozioökonomischen Zusammenhang betrachtet und mit den besonderen Verhältnissen und komparativen Kosten gerechtfertigt. Zum Beispiel, dass es billiger sei, ein Kind im Haushalt anzustellen, als eine Waschmaschine zu kaufen. Gerechtigkeit ist ein grosses Wort und sie ist hier inexistent. Wäre die Welt gerechter, so hätten wir Westler ein bisschen weniger, und die minderbemittelten Bangladeschi ein wenig mehr. Diese Aussage fällt mit als Liberal-Konservativer nicht leicht, doch dieses Elend, dieses Unrecht kann ich so nicht hinnehmen, schon allein deshalb, um meine eigene Menschenwürde nicht zu verlieren! Es gibt nicht einmal ein Rechtssystem, das diesen Namen verdient. Recht haben und Recht bekommen ist hierzulande nicht selbstverständlich. Nur wer Geld besitzt, bekommt Recht - so einfach ist das! Primär geht es nicht um Geld, die Leute sind froh, wenn sie genug Essen auf den Teller bekommen. Ein Job im Teeshop ist vergleichsweise noch einigermassen human. Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn diese Erde nicht existierte und alles nur Staub und Steine wäre. Das würde weniger Leid und gleiche Gerechtigkeit für alle bedeuten. Ich bezahle unser Morgenessen. Die Kosten sind zu vernachlässigen, so billig ist alles. Aus dem Tagesrucksack entnehme ich die mitgebrachte Gratisseife und das Gratisshampoo aus dem Hotel und drücke sie dem Buben in die Hände; ein Grinsen erhellt sein Gesicht.

Wir unternehmen mit dem Microvan einen neuen Anlauf zu den Abwrackwerften. Heute ist die Strasse frei und wir kommen im dichten Verkehr einigermassen zügig heran. Kinder kommen und putzen die Scheiben der kurz anhaltenden Fahrzeuge. Für die unerbetene Dienstleistung erhalten sie ein paar Taka. Die Schulpflicht beträgt hier 5 Jahre und der Besuch ist gratis. Uniform und Lehrmittel sind selber zu bezahlen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb die Kinder nicht im Unterricht zu finden sind. Wenn die Eltern nicht einmal genug Geld haben um alle zu ernähren, wie wollen sie dann Schulkleidung und Bücher bezahlen?
Raja Ship Breaking Yard, Mabiya Ship Breaking Yard sind nur zwei von insgesamt 70 Abwrackunternehmungen, die zwischen Bhatiara und Sitakunda 15 Kilometer im Nordwesten von Chittagong angesiedelt sind. Das Zentrum der Abwrackindustrie bildet ein 7 Kilometer langer Strandabschnitt. Zirka 150'000 Menschen leben direkt von der Schiffsverschrottung. Vieles aus den Schiffen wird verkauft, so zum Beispiel Türen, Kücheneinrichtungen oder Betten. Massiv kritisiert werden die Niedriglöhne, die mangelnde Arbeitssicherheit und der geringe Umweltschutz. Jährlich finden durchschnittlich 20 Arbeiter den Tod. Die Arbeitsbereiche am Strand sind mit hohen Sichttrennwänden für Besuchende abgegrenzt. Nach einigen Versuchen gelingt es uns dennoch, auf einen Platz zu gelangen und auf Distanz diverse in Abwrackung befindende Schiffe zu sichten.

Ich erquicke mich gerne an den Genüssen des Herzens und des Geistes, aber auch dem Fleische bin ich nicht abgeneigt. Das schlanke Girl gewinnt mein Interesse. Sie lächelt mich an, als gebe es keine Tragödie der Welt, die sie nicht kennt oder überwunden hat. Na dann Bhalobhash, nimm mich mit, ich mach dich glücklich.
Sema ist ein hübsches Mädchen mit Mondgesicht und vollen Lippen von knapp 20 Jahren und wartet auf Kunden am Bahnhof der zweitgrössten Stadt des Landes, Chittagong. Sie trägt eine knallrote Churidar mit gleichfarbigen Chappals an den nackten Füssen. Irgendwie erinnert sie mich an Tausendundeinenacht und Barbara Eden aus der US-TV-Serie Bezaubernde Jeannie der 1960er-Jahre. Sie klagt, dass sie von der Polizei ständig gejagt und von den Vermittlern wie Zuhälter, Hotelangestellte, Rickshawfahrer und Türsteher um den Grossteil ihres Liebeslohns geprellt wird. Die Polizei verlangt Gratis-Dienstleistungen für ihre Stillhaltung. "Weigern wir uns, werden wir gnadenlos geschlagen." Sema spricht leise, eine Träne rollt ihr über das Gesicht, während sie sich ein wenig an mich anlehnt. Sie erzählt weiter, dass wenn Kunden für die Vermittlung 1'000 Taka (US $ 12) bezahlen, für sie bestensfalls noch 100 Taka übrig bleiben. Doch sie befindet sich in einem Hamsterrad und ist von den Vermittlern abhängig um sich und ihre zwei Kinder zu ernähren.
Es geht mir ziemlich auf den Geist, dass mein OB stets bei Feldexperimenten als Übersetzer dabei ist und Vertrauliches mitbekommt. In der Regel komme ich rund um den Globus gut alleine klar und kann in den gängigsten Weltsprachen kommunizieren; nicht aber in Bangla. Mein Wortschatz beschränkt sich bestenfalls auf einhundert Wörter. Noch drei Monate länger und ich könnte mich rudimentär unterhalten. Es kommt mir jetzt vor wie mit den Neuhühnern aus dem Isaan, wo du in Pattaya die Mithilfe der Mamasan brauchst, um ein paar Belange abzuklären und verbindliche Vereinbarungen zu treffen. Das kotzt mich an und oft wende ich mich ab. Das ist einer von verschiedenen Gründen, weshalb ich lieber erfahrenere und somit auch sprachkundigere Frauen schätze. Zum Glück stellen sich solche Herausforderungen in meiner Wahlheimat, den Philippinen nicht; dort kann jeder ein bisschen Englisch.
Am meisten leiden die Strassen-Sexworkerinnen - im Bangla-Volksmund Khanki genannt - unter der Gewalt der lokalen Gangster, die ihnen nicht nur ihre kleinen Einkommen abnehmen, sondern ihnen oft auch körperlichen Schaden zufügen. Narben an Gesicht und Körper sprechen eine deutliche Sprache. Oft werden solche Frauen auch ermordet. Die Polizei weigert sich, solche Anzeigen überhaupt anzunehmen; dadurch wird die Gewährung von rechtlicher Hilfe verunmöglicht. Sema flüstert: "Die Menschen haben längst vergessen, dass wir auch Menschen sind. Gewisse Tage sind unerträglich. Ich werde für Liebesdienste mit einem Mann bezahlt, aber wenn ich ins Zimmer komme warten zehn oder mehr auf mich. Da hilft kein Flehen, da gibt es keine Flucht, kein Entkommen. Wenn ich nicht mehr kann, werde ich geschlagen und weiter benutzt bis ich in Ohnmacht falle. Bei Prostituierten will man keine Vergewaltigung anerkennen. Wir haben keine Rechte und die Polizei schaut weg."
Ein Schluchzer, hart wie Salz, steigt in ihrer Kehle hoch. Sie schluckt ihn herunter, doch dann fangen die Tränen an zu fliessen. Ich komme ihr zuvor und fange die Tropfen mit den Händen an ihren Wangen auf. Ich streiche ihr mit dem Daumen über die Lippen und sie drückt mir ihr Gesicht in die Brust. Meine Hand gleitet über ihr Schlüsselbein, dann langsam den Rücken hinunter zum Kreuz. Es ist dunkle Nacht und wir sind nicht in der Öffentlichkeit exponiert. Gemeinsam laufen wir nebeneinander in Richtung Hotel, das nur in Fussdistanz vom Bahnhof liegt.

Weiterreise nach Sreemangal
Ich kann mir als politisch denkender Mensch die Äusserung nicht verkneifen, dass die Engländer gute Imperialisten waren. Sie haben seinerzeit eine komplette und intakte Verkehrsinfrastruktur auf die Beine gestellt. Nie gäbe es hier funktionierende Bahnverbindungen, wenn die Tommies nicht eine Weile präsent gewesen wären. Primär stand natürlich nicht die verkehrsinfrastrukturelle Entwicklung im Vordergrund, sondern vielmehr die kolonialwirtschaftlichen und politischen Interessen Grossbritanniens. In den 1850er-Jahren begann Grossbritannien damit, erste Bahnstrecken in Britisch-Indien zu bauen und errichtete bis zum Ersten Weltkrieg eines der grössten Eisenbahnnetze der Welt. 1853 wurde die erste Strecke eröffnet. 1871 war das indische Bahnnetz bereits 8'190 km lang. Ende 1885 waren es 19'775 Kilometer und 1912 bereits 53'876 Kilometer, also weitaus länger als das britische Schienennetz, das 1912 gerade mal 37'740 Kilometer erreichte. Im westlichen Teil Bangladeschs herrscht die indische Breitspur von 1'676 Millimeter vor, während der östliche Landesteil weitgehend von Meterspurbahnen erschlossen ist. Dazwischen gibt es Dreischienengleise. Der Vorteil einer schmäleren Spur liegt darin, dass Kurven enger gebaut werden könne. Das hilft bei topografisch erschwerten Verhältnissen. Das Reisen mit der Bahn, ist unvergleichbar angenehmer und sicherer als auf den Strassen. Sahibs reisen vorzugsweise in der Ersten Klasse. Die Länge des Schienennetzes in Bangla beträgt insgesamt 2'768 Kilometer und es wird nur notdürftig instand gehalten. 80 - 90 Prozent der Güter- und Personentransporte werden auf dem Wasser abgewickelt. Die Eisenbahnwelt hat sich hier trotz der flachen Topografie nicht gross durchgesetzt. Der technische und optische Zustand der Triebfahrzeuge spiegelt in gewisser Weise den Lebensstandard des Landes wieder. Die bunte Vielfalt der Lokomotiven ist das Ergebnis von Klein- und Kleinstlieferungen, keine Rede von strategischen Beschaffungskonzepten. Alles und jedes läuft hier stümperhaft und dilettantisch ab. Es ist schon mal gut, dass das Land überhaupt noch funktionierende Züge hat.
Bahnfahren in Bangladesch ist wesentlich bequemer als Bus fahren. Die Hauptstrecken sind gut ausgebaut und die Wagen der ersten Klasse sind ganz okay. Allerdings verlangsamen beispielsweise fehlende Flussbrücken und unterschiedliche Spurbreiten die Fahrt. Eine Reise mit dem Zug kann manchmal doppelt so lange dauern, wie mit dem Bus. Auf meiner Reise habe ich zwei Arten von Wagen der
1. Klasse kennengelernt. Erstens offene Wagen ohne Abteil mit je zwei Sitzen auf jeder Seite, In der Mitte getrennt durch einen Gang. Die zweite Variante hat Abteile mit je sechs Sitzplätzen. Der Durchgang ist ausserhalb auf der Seite. Die Sitze können auch zu Schlafplätzen umgerüstet werden.
Die Wagen haben Klimatisation und Ventilatoren, welche in den Wintermonaten sinnvollerweise ausgeschaltet sind. Die Fenster lassen sich alle manuell öffnen - ein ganz grosser Vorteil, weil der Reisende seinen ganzen Abfalll während der Fahrt rausschmeissen kann. Eine besondere Eigenschaft der Bahnen von Bangladesch ist die feste Zuteilung von Personal zu einem bestimmten Zug. Wenn die Leute Freitage erhalten, bleibt der Zug an solchen Tagen einfach stehen.

Nach dem gemeinsamen Morgenessen winkt sich jeder von unserer Jamaat eine Rickshaw herbei und schwingt sein Gepäck auf den Hochsitz und nimmt anschliessend selber Platz. Das Daypack schnalle ich vorneüber, so habe ich Augenkontakt und kann mein grosses Gepäck trotzdem noch gut halten. Rickshaws werden hierzulande in diversen Cities mit kleinen Elektromotoren und Batterien unter der Sitzbank nachgerüstet, nicht aber in der Hauptstadt. Auf dem Weg zum Bahnhof sitze ich zufälligerweise in einem solchen Gefährt. Ein Ruck, wir fädeln ein in den dichten Morgenverkehr und der Kuli düst los.
Wie von Wunderhand bewegt sich das Dreirad lautlos auf der Strasse. Bald hat das vibrierende Rohrgestell auf Rädern schätzungsweise 30 Stundenkilometer erreicht und mir wird zunehmend mulmig. Glücklicherweise zwingt das starke Verkehrsaufkommen, den Kuli immer wieder zum Abbremsen. Leute berichteten mir, dass die Unfälle mit Elektro-Rickshaws hierzulande stark zugenommen haben.
Die Fahrzeuge gleiten praktisch lautlos dahin und man achtet sie nicht. Trotzdem ist zu begrüssen, dass fossilen Brennstoffen eine alternative Energie entgegengesetzt wird. Es bleibt zu hoffen, dass die elektrische Energie aus Solar oder Wasserkraft und nicht aus einem Diesel-Kraftwerk stammt. Sonst beisst sich die Katze in den eigenen Schwanz. Vor dem Bahnhof Chittagong werden wir abgesetzt, jeder Kuli bekommt seine 20 Taka und der ortskundige Begleiter lotst uns an den Bahnsteig. Die Sitzplätze sind nummeriert und wir müssen nur um den Platz in der Gepäckablage kämpfen. Meinen Rucksack gebe ich nie und nimmer ausser Sichtweite, das ist eine heilige Reiseregel, die ich seit Jahrzehnten beachte.
Die Strecke von Chittagong nach Sreemangal bewältigen wir in 6 ½ Stunden. Mit 25 Minuten Verspätung verlassen wir den hässlichen Bahnhof. Die Mischlandschaft präsentiert sich mit Reisfelder, Gemüsepflanzungen, Wald, Dämme, Wasser. Auf abgeernteten Flächen weiden Kühe. Das Wetter ist dunstig und die Sicht schlecht. Während der Fahrt geht es zu wie auf einem Bauernmarkt. Ständig will uns jemand etwas verkaufen oder Geld erbetteln. Verkrüppelte, Amputierte, ein entstelltes Kind mit ausgerissenen Armen, unzählige Blinde geben sich ein Stelldichein. Die einheimischen Reisenden erfüllen ihre Almosenpflicht oft mit einem 10 Taka-Geldschein.
Wir tun es ihnen gelegentlich gleich und erkaufen uns damit immerhin Ruhe. Niemand sagt dir dafür Danke, denn es ist Pflicht eines jeden Moslems, die Armen zu unterstützen. Am Ende des Tages haben Bettelnde bestimmt den mehrfachen Betrag eines Tagelöhner-Verdienstes in der Tasche. Essensabfälle landen ganz zwangslos auf dem Boden und leere Trinkwasserflaschen werden aus dem offenen Fenster geschmissen. Wohin auch sonst? Mülleimer sind hier nicht vorgesehen. Das Land ist derart schmutzig, dass mir jegliches Umweltbewusstsein abgeht. Die Schienen sind müllübersät. Da ist Hopfen und Malz verloren - hemmungslos tue ich es den anderen gleich.

Sreemangal
Das Städtchen Sreemangal liegt im Norden des Landes nahe der indischen Grenze zum Bundesstaat Meghalaya. Es gibt dort im Zentrum gerade mal zwei grössere Strassen, eine Hauptkreuzung, einen Marktplatz und ein paar Hotels. In Miniatur präsentiert sich ein ähnliches Bild wie Dhaka: Viele Rickshaws und CNG's, Garküchen und Armut. Überall wird gebettelt. In der Peripherie haben sich Öko-Resorts etabliert. Ein gewisser Tourismus hat sich entwickelt und eine kleine Infrastruktur entstehen lassen. Die Besuchenden rekrutieren sich mehrheitlich aus vermögenden Bengalen aus der Hauptstadt und wenigen westlichen Reisenden. Von der neuen Einnahmequelle profitieren im Moment nur wenige. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung arbeitet für einen bescheidenen Lohn auf den Teeplantagen und Reisfeldern.
Es gibt einen Fahrradverleih, drei Restaurants für westliche Ansprüche, diverse Unterkünfte im Low Budget- bis zum Highend- Bereich. Über allen ragt das Grand Sultan Tea Resort & Golf ausserhalb der Stadt. In der Innenstadt gibt es einige einfache Gästehäuser mit attached Bathroom. Die Jamaat hat sich in Dhaka für eine budgetkonforme Öko-Loge ausgesprochen und wir sind den Empfehlungen von Mutschli gefolgt. Nach der Ankunft mit der Bangla-Rail versuchen zwei Elektro-Rickshaws den Nahtransport bis zur Unterkunft zu bewältigen. Es zeigt sich schnell, dass die Fahrer trotz vorheriger Zusicherung, die Adresse nicht kennen. Bengalen-Bengel eben, wer regt sich denn schon wegen einer solchen Lappalie noch auf. Unser ortskundiger Begleiter versucht per mobilem Telefon die Öko-Loge ausfindig zu machen. Wir fahren immer weiter aus der Stadt, erreichen ländliches Gebiet und fahren immer noch weiter.
Ein erneuter Halt ist nötig um telefonische Erkundigungen einzuziehen. Wir fahren etwas zurück, biegen in eine Naturstrasse und vor einer Fussgängerbrücke geht es nicht mehr weiter. Unser OB erklärt, dass wir von hier an zu Fuss weiterlaufen müssen. Wir überqueren die Holzbrücke, gelangen bald einmal an ein offenes Feld und das Öko-Resort ist noch nicht einmal in Sichtweite. Ich halte an und weigere mich auch nur einen Meter weiterzulaufen. Keinesfalls bin ich als passionierter Cityboy bereit, mich hier aufs Land in die Verbannung schicken zu lassen. Auf weite Sicht existiert hier keine Infrastruktur, nicht einmal der Lichtblick einer McDonalds- oder Coca-Cola-Reklame ist erkennbar. Ich werde, falls nötig, mit dem Fahrer alleine in die Stadt zurückkehren und mir ein Gästehaus suchen. So etwas macht der Pitcairn-Urbano keinesfalls mit. Es scheint, dass ich die anderen nicht besonders überzeugen muss, denn sie kommen auch alle gerne in die Stadt zurück. Wir hätten doch wenigstens die Ökologe noch anschauen können, mault Tofu-Schämpu. Wie Regentropfen auf einer Windschutzscheibe perlen seine Worte an mir ab. "Warum hat er es denn nicht getan?", denke ich. "Meinerseits besteht kein Bedarf. Der Standort ist für mich absolut indiskutabel."
Schon das Hillside-Resort in Bandarban, weit ab vom Schuss, hat mir gereicht - und nun das. Nööö, das ist mit Pitcairn nicht zu machen.
Wir benötigen drei weitere Anläufe, bis wir ein geeignetes und bezahlbares Gästehaus mitten im Kuchen finden. Extra-Miggu belegt mit mir und Tofu-Schämpu mit Balance-Glucke ein Zimmer.
Abends treffe ich im Restaurant am Nebentisch auf ein Deutsches Ehepaar mittleren Alters. Sie absolvieren eine zehntägige organisierte Privatreise mit Guide und übernachten in einem Upperclass-Resort ausserhalb der Stadt.
Die Dame ist entrüstet und froh, gegenüber mir als Kulturnachbar etwas Luft abzulassen: "Was ich hier sehe, übertrifft alle meine grössten Befürchtungen", klagt sie mir. In Dhaka wollte ich am liebsten dem Fahrer sagen, er solle umkehren und mich wieder zum Airport zurück bringen, nur mein Mann hielt mich davon ab. Gelle Herbert?!" "Ja Schatzilein, es war schlimm für dich." "An einigen Tagen habe ich das Hotel gar nicht mehr verlassen", fährt sie ihr Klagelied weiter fort. "Nur hier in Sreemangal ist es einigermassen erträglich". "Oh, ich kann es kaum erwarten, wieder im Allgäu zurück zu sein. Keine zehn Pferde bringen mich je wieder nach Asien." Es war scheinbar zu viel für sie, auf so einen Kontrast war die Wohlstandsverwahrloste nicht vorbereitet

Bangladesch ist in weiten Teilen ein flaches Land, doch die Gegend um Sreemangal ist hügelig, grün und saftig. Schon ein paar Minuten ausserhalb der Stadt bedecken rechts und links der Strasse hüfthohe Teesträucher die Hügel wie ein dunkelgrüner Teppich. Ihre Blätter sind fest wie Visitenkarten. Zwischen den Büschen stechen alle paar Meter schlanke Laubbäume in den Himmel, die den Pflanzen im Sommer Schatten spenden. Das ist auch nötig, denn Sreemangal ist eines der am tiefsten gelegenen Teeanbaugebiete der Welt – und eines der heissesten. Im Sommer zeigt das Thermometer Spitzenwerte bis zu 40 Grad. Tee bevorzugt naturgemäss eher höhere und kühlere Lagen. In der Gegend um Sreemangal bauen mehrere Dutzend Unternehmen die knorrigen Büsche auf etlichen Quadratkilometern an. Die Jahresproduktion von 60'000 Tonnen wird fast ausschliesslich im Land selbst verbraucht. Eine Tasse Tee beim Strassenverkäufer kostet über 5 Taka. Soweit das Auge reicht, siehst du herrliche Teefelder. Dazwischen sind grössere Bäume in regelmässigen Abständen gepflanzt. Diese Vegetation und Ordnung verdankt das Land einmal mehr der früheren Präsenz des Britischen Raj. Generell erachte ich die seinerzeitige volkswirtschaftliche und infrastrukturelle Hinterlassenschaft der Engländer als grossartig. Die Präsenz der Briten war ein Segen für das Land. Weniger begeistert bin ich, was die Nachfolgeregierungen daraus gemacht haben. Da gab es nur noch Stillstand und Rückschritt, wie in vielen anderen ehemaligen Kolonien auch.

Der Morgennebel hebt sich in einem Silberwind, die Vögel in schreienden Schwärmen, schiessen davon zu irgend einem fernen Fluss, alle Schöpfräder in Hörweite fangen an zu arbeiten, Wasserbüffel beginnen ruhig und kraftvoll ihre Pflüge durch die Felder zu ziehen, Teepflückerinnen zupfen den First Flush - Bangladesch erwacht. Extra-Miggu folgt den Empfehlungen unserer Lonely Planet-Bibel und lässt es sich nicht nehmen, mit einem Fahrrad durch die Teegärten zu radeln. Er muss einige Herausforderungen überwinden, bis er aus privater Hand ein Fahrrad zur Benutzung erhält, denn die wenigen in der Stadt erhältlichen Mieträder sind schon alle weg.
Er verabschiedet sich und wir sehen ihn abends wieder zum Nachtessen. Balance-Glucke, Tofu-Schämpu und ich entscheiden uns für eine ganztägige Exkursionstour per AUTO (Elektro-Rickshaw).
Die Tagestour beginnen wir sinnvollerweise mit dem am weitesten entfernten Spot – dem Madhabpur Lake. Auf der gemütlichen, einstündigen Fahrt strahlt in der Morgensonne der Tau in den vorbeiziehenden Teegärten, gefolgt von dichtem Wald und bestellten Feldern. Es herrscht Morgenfrische, die dünne Jacke leistet mir im Fahrtwind gute Dienste und ich lege sie erst bei der Ankunft ab.
Jetzt wärmt uns die Sonne und wir geniessen die schon so fremd gewordene Ruhe. Der Madhabpur-See ist ein Naturgewässer. Das Wasser scheint sauber und klar und ist eingebettet zwischen Hügeln, die mit Teesträuchern bepflanzt sind. Zugvögel aus kälteren Ländern überwintern hier. Wir gönnen uns einen zweistündigen Rundgang auf dem trockenen Naturpfad um die Naturschönheit zu betrachten und die Ruhe auf uns wirken zu lassen. Auf dem Rückweg werfen wir einen Blick auf den 1250 Hektar grossen Lawachara National Forest. Er beherbergt jede Menge Säugetiere, Vögel, Reptilien und Pflanzenarten. Die einzige Menschenaffenart des Subkontinents, der Weissbrauengibbon, ist hier beheimatet. Wir laufen ein Stück durch den dunklen, dichtbewaldeten Nationalwald. Ziemliche viele Besuchergruppen sind unterwegs und die Tiere sehen wir kaum; einzig ein gelegentliches Raschel in den Bäumen ist zu hören. Es würde Sinn machen, in aller Frühe herzukommen, da hätte man eine bessere Chance verschiedene Spezies zu sichten. Wir rollen weiter Richtung City und halten in einer der zahlreichen Teeplantagen an, um einen legendären Nilrantha 7 Layers Tea zu kosten.
Die Pflückmamsells sind noch fleissig am zupfen, als wir den Fahrer anweisen, unser Öko-Gefährt vor dem plantageneigenen Teelokal zu parkieren. Ich will es genauer wissen und bestelle mir einen mehrschichtigen Aufguss. Das Heissgetränk wurde von einem Bengalen namens Ram Gour aus Sreemangal, der als mobiler Tee-Wallah auf den Plantagen arbeitete, erfunden. Damit sich der Tee beim Trinken nicht vermischt, muss das Getränk eine bestimmte Konsistenz und Zuckergehalt aufweisen. Weitere Details sind nicht zu erfahren, denn der Erfinder will das genaue Rezept für sich behalten. Von einem Engländer wurden ihm – so die überlieferte Story - scheinbar US $ 40'000 dafür angeboten, doch Ram Gour lehnte ab. Wegen seiner Erfindung wurde er zur Bekanntheit im Städtchen und plante, das Rezept patentieren zu lassen und eine Reihe von Teeshops nach dem Modell Starbucks aufzubauen. Doch der Schuss ging völlig nach hinten raus. Es wäre besser gewesen, er hätte die Kohle einkassiert und auf den Putz gehauen. Heute bieten weitere Teeköche einen Sondertee mit bis zu 10 Layers an. Das Gesöff ist mittlerweile selbst in einem Pub im englischen Bristol aufgetaucht. Es dauert geraume Zeit, bis das Heissgetränk kreiert und serviert ist. Nach den ersten paar Schlucken wird mir klar, dass 100 Taka in den Sand gesetzt sind und ich lasse das übersüsse Zeugs stehen. Igitt!

Zurück nach Dhaka
In die Hauptstadt Dhaka benötigt der Zug für 200 Kilometer je nach Verkehrssituation zwischen 5 - 6 Stunden. Wir verlassen Sreemangal um 10.35 Uhr und erreichen die Hauptstadt um 16.30 Uhr. Geraume Zeit verlieren wir in Warteposition, weil irgend ein hoher Politiker aus Dhaka unterwegs ist und aus Security reasons die Strassen und Schienenwege blockiert sind, damit sich seine Wagenkolonne unbehindert und ausserhalb von möglichen Gefahrenzonen bewegen kann. Die Bahnlinie führt über Noyapara und Mandapur. In den ersten Ausläufern von Dhaka holen uns wieder die Slumsiedlungen ein. Slums sind die Anlaufstationen von Landflüchtlingen. Die Elendsviertel verfügen über keine Toiletten, kein Wasser und keinen Strom. Die meisten sind Klimaflüchtlinge, die in der Provinz keine Existenz mehr haben und in die Stadt kommen und versuchen zu überleben. Viele versuchen sich als Rickshakuli oder Tagelöhner, sofern sie überhaupt eine Arbeit finden. Es versteht sich von selbst, dass alle Familienmitglieder inklusive Kinder, gleich welchen Alters, jede Arbeit zu einem auch noch so kleinen Entgelt annehmen müssen. Die Familie kann sich nicht den Luxus leisten, Pläne zu schmieden, sondern muss täglich um einen gefüllten Magen kämpfen. Der Leser mag denken, dass die Leute im ersten Anlauf problemlos in einem der Slums unterkommen. Dem ist selbst in einem Elendsviertel keinesfalls so, du kommst meist nur über Beziehungen rein. Neulinge sind von ständigem Rauswurf bedroht und müssen anfänglich beschützt werden; natürlich gegen Geld. Wer als Frau im Slum wohnt, muss mitten in der Nacht aufstehen, wenn es noch dunkel ist, und bis zum Rand der Hüttensiedlung laufen und da den Sari heben und sich über den offenen Abflusskanal hocken. Und dann schleicht sie sich auf Zehenspitzen zurück zum Mann ins Bett, und wartet den ganzen Rest des Tages bis es endlich wieder dunkel ist. Ihr Bauch fühlt sich an, als ob er voller Nadeln wäre, ihre Eingeweide brennen wie verrückt, aber sie kann nichts dagegen tun, nein, sie musst warten, bis es dunkel ist und alle Männer endlich schlafen, damit sie einmal am Tag ungestört austreten kannst.


Pitcairn, seit 40 Jahren auf der endlosen Reise.

Pitcairn hat mit seinem vierköpfigen Reiseteam Bangladesch in den Monaten Oktober - Dezember 2014 individuell bereist. Der Bericht ist ein Auszug aus der über zweihundertseitigen Globalversion Ein Land im fortgeschrittenen Zerfall. Die Publikation im Forum wird in den kommenden Monaten erfolgen.

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