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Pitcairn auf seiner ungewöhnlichen Individualreise quer durch Bangladesch.
Die gewaltigen Ströme Padma, Meghna und Jamuna mit ihren unzähligen Nebenflüssen dominieren die Umwelt, bilden ein gigantisches Verkehrsnetz und vereinigen sich zum grössten Delta der Erde – dem Gangesdelta - im Golf von Bengalen. Die Ufer des Padma sind teilweise so weit voneinander entfernt, dass sie nur als graue Streifen am Horizont zu erkennen sind. Die Ströme führen von den Südhängen des Himalaya sowie saisonal bedingte Wassermassen der Monsun-Zone ins Meer ab. Das Ganges-Delta inklusive den vorangehenden Sundarbans, umfasst ein Gebiet von etwa 10'000 km². Davon liegen etwa 6'000 km² in Bangladesch und 4'000 km² im indischen Bundesstaat Westbengalen. Das artenreiche Ökosystem ist weit verzweigt und schwer zugänglich, insbesondere weil die Deltagebiete der drei Ströme hier ineinander übergehen. 1987 wurden die Sundarbans als UNESCO-Weltnaturerbe anerkannt.
Der vom Aussterben bedrohte Bengalische Königstiger und der endemische Sundari-Baum sind hier beheimate. Hier befindet sich auch der Lebensraum diverser Säugetiere und Reptilien. Den Sundarbans, von der Natur mit einer reichen Flora und Fauna ausgestattet, droht der Untergang. Es tickt eine Zeitbombe - die globale Erderwärmung. Sollte sich das Aufheizen der Atmosphäre fortsetzen, dürfte der Meeresspiegel in den nächsten Jahrzehnten massiv, bis gegen 40 cm ansteigen.
Da helfen höhere Gummistiefel nicht mehr. Die Bewohner können praktisch zuschauen, wie sich das Wasser Zentimeter um Zentimeter in das Land frisst und ihnen den Lebensraum wegnimmt. 75 Prozent des Kulturland und der Mangrovensümpfe werden dadurch überschwemmt. Wo werden die Menschenmassen hinflüchten? Logisch - zuerst nach Dhaka. Aber dann kollabiert die Metropole vollständig. Indien und Bangladesch sind sich über die Bedrohung der Sundarbans einig und haben sich zu grenzüberschreitender Zusammenarbeit erklärt, um dieses Ökosystem erhalten bleibt. Natürlich ist dies nur ein Lippenbekenntnis, angesichts anderer bestehender Herausforderungen. Dass die Sundarbans untergehen werden ist so gewiss, wie die heilige Kaaba in Mekka steht.
Die meisten Leute im Gangesdelta beschäftigen sich mit der Aufzucht von Krabben. Es sind sogenannt Landlose, die auf den Deichen leben. Die Teiche bringen beachtliche Probleme mit sich und sind eine neue Bedrohung, da das Ökosystem beeinträchtigt wird. Um Erkrankungen zu vermeiden und das Wachstum zu beschleunigen, werden in den Kulturbecken Antibiotika und Pestizide eingesetzt, wie es praktisch in allen anderen asiatischen Produktionsländer der Fall ist. Dadurch werden nicht nur die Tiere verseucht, sondern auch die Abwässer aus diesen Teichen; sie gelangen in die umliegenden Mangrovenwälder. Sind die Becken verbraucht, werden neue angelegt. Und dafür wird wieder Mangrovenwald gerodet. Die ländliche Beschaulichkeit trügt und Diebe kommen in der Nacht. Deshalb schlafen die Besitzer in Schilfhütten auf Stelzen über dem Wasser und schieben Wache. Die Sundarbans sind Schauplatz des Romans "Hunger der Gezeiten“ von Amitav Gosh. Die Story handelt von einer Reise voller Unwägbarkeiten in eine gefährdete Regionen der Erde. Das Buch – der Begriff dürfte den Älteren unter uns noch etwas sagen - ist gut geeignet, um sich im Vorfeld auf einen Besuch im Gangesdelta vorzubereiten.
Unsere dreitägige Sundarbans-Tour mit einem gecharterten Schiff und eigener siebenköpfiger Mannschaft inklusive Koch und Bodyguard, haben wir vorsorglich bereits bei einem Agenten in Dhaka gebucht und bezahlt. Der Tourguide holt uns im Hotel ab und führt uns zu Fuss zum nahegelegenen Hafen. Er berichtet, dass noch zwei weitere Touristen zu uns stossen werden und wir mit dem Auslaufen warten müssen. Ihre Ankunft verzögere sich wegen einer Autopanne. Gar nichts müssen wir! Als ich das höre, gehe ich die Palme hoch und informiere meine übrigen Kollegen. Wir sind alle keinesfalls gewillt auf diese Nötigung des Agenten einzutreten. Die Abmachung lautete klar auf Charter und wir sind nicht bereit, auf unsere getroffene Vereinbarung und festgelegten Konditionen zurückzukommen. Tofu-Schämpu war persönlich für die Reservation besorgt. Jetzt kommt ihm die Galle hoch und er greift zum Telefon und wünscht dem Agenten die Schwindsucht an den Hals. Lautstark in Brighton-Englisch mit Romandie-Akzent, macht er ihm unseren Standpunkt unmissverständlich klar. Der Agent hat die Frechheit, eine Zusatzzahlung von
US$ 500.--zu fordern, die wir empört ablehnen. Soll er sich die 500 Kröten selber in den Arsch stecken! Einmal mehr ein typisches Beispiel der sprichwörtlichen bengalischen Bescheissermentalität. Von wegen Guardian Angel nach Lonely Planet. Das war vielleicht einmal, der Mann greift hemmungslos zu und ignoriert getroffene Vereinbarungen.
Das Telefongespräch wird unterbrochen. Da kommt der Bursche bei unserer Jamaat nie durch. Wenn wir nach Dhaka zurückkehren, werden wir uns den Fettwanst ganz persönlich zur Brust nehmen. Wir erteilen dem Guide Befehl, unser gesamtes Gepäck ins Dingi zu schaffen und zum Reiseschiff in tieferem Wasser überzusetzen; dann laufen wir sofort aus. Am letzten Reisetag werden wir feststellen, dass sich Agent Mutschli aus der Affäre zieht, indem er unter fadenscheiniger Begründung von Terminüberlastung, unsere verlangte Aussprache verweigert. Er hat auch keinen Mut, telefonisch mit uns zu sprechen und lässt uns diese Meldung über eine Drittperson zukommen. Von einer finanziellen Nachforderung ist keine Rede mehr.
Khulna oder Mongla sind die Hauptausgangstore für Exkursionen in die Mangrovengebiete der Sundarbans und das Gangesdelta. Ich bin sicher, dass wir auch ad hoc vor Ort ein Schiff mit Crew gefunden hätten.Vielleicht hätten wir bis zum Auslaufen ein bis zwei Tage warten müssen, aber was sollst, wir haben ja mehr als reichlich Zeit. In Mongla beginnt unsere Erkundungsfahrt. An Bord begrüsst uns eine nette, anfänglich 6-köpfige Crew, die für unser leibliches Wohl, die naturkundlichen Erläuterungen zu Lande und zu Wasser und für den Transport verantwortlich ist. Die Mannschaft unterteilt sich in einen Organisator, der sich als Guide bezeichnet, Bordingenieur und ortsspezifischer naturkundlicher Guide, Steuermann, Koch, Hilfskoch, Schiffsjunge und Leibwächter. Der Schutzmann wird in einer Stunde an Bord kommen.
Wir nutzen die frühe Stunde, um uns in den einfachen Privatkabinen im Unterdeck einzurichten. Es gibt im Kabinenkorridor eine zentrale Waschschüssel mit fliessendem Wasser und im Schiffsheck eine geräumige Toilette mit Duschgelegenheit. Sensitiven Reisenden wird nach der ersten Nacht bewusst, dass je näher ihre Kabinen in Distanz zum Maschinenraum angeordnet sind, sie umso mehr unter Geräusch- und Geruchsemissionen zu leiden haben. Zum Glück gibt es leere Kabinen und Extra-Miggu zieht am zweiten Tag unter Protestgemurmel mit Sack und Pack nach vorne in den Bug. Balance-Glucke ist eingeladen mitzukommen, doch sie entscheidet sich wie Tofu-Schämpu für die Beibehaltung des Status quo. Ich selber bin wenig Lärm- und Geruchsempfindlich, aber rein zufällig etwas weiter vorne einquartiert und bekomme die Querelen nur am Rande mit.
Wir machen es uns auf dem Oberdeck in der Lounge bequem. Bald wird Breakfast mit Paratha, Kaffee und Cha und als Nachgang Bananen und Orangen aufgetischt. Mit einem Morgenkaffee sieht die Welt schon ganz anders aus.
Wir tuckern durch natürliche Flusswege, gesäumt von endlosen Mangrovenwäldern in Richtung unteres Gangesdelta. Nach einer Stunde legen wir bei einem einheimischen Dorf kurz an und ein grünuniformierter, mit Flinte bewaffneter Nationalpark-Wächter, bittet um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen. Nun ist unsere Schicksalsgemeinschaft komplett und wir können loslegen und gegen menschenfressende Tiger, schnappende Krokodile, fleischfressende Pflanzen, auf Bäumen lauernde Giftschlangen, aggressive Stechmücken, lästige Schmeissfliegen, widerwärtige Kakerlaken und wilde Piraten antreten. Nach drei Tagen werden wir wissen, dass eine Sundarbans-Safari eher ein wenig belastender Schwangerschaftsausflug mit interessanten Begegnungen und Beobachtungen ist.
Die Sundarbans sind eines der grössten Mangrovenwaldgebiete der Welt und der Name bedeutet Schöner Wald. Die Bewohner nennen den Archipel auch Bhatir desh, Gezeitenland. Ein Wald im Gezeitenbereich; kilometerweit entfaltet sich ein lückenloses grünes Dach. Die Bäume, deren Standplatz sich im Wasser befindet, erreichen Höhen von zwei bis zehn Meter. Charakteristisch sind die aus dem Wasser ragenden Luftwurzeln. Über diese werden die Mangroven im Schlammbereich mit Sauerstoff versorgt, da sonst die Pflanze, die im Wasser steht, ersticken würde. Die Fortpflanzung der Bäume geschieht auf ungewöhnliche Weise. Der Same keimt noch auf der Mutterpflanze und wird bis zu dreissig Zentimeter lang. Der Keimling, der die Form einer Zigarre hat, fällt durch die Schwere seiner Wurzelseite von der Mutterpflanze in den Schlick. Hier wächst der Keimling weiter. Die Sundarbans sind für Botaniker und Freunde der Natur eine einmalige, wilde natürliche Schönheit.
Wir legen erneut am Ufer an und verlassen das Schiff zu einem ersten Landgang.
Der Parkwächter observiert die Umgebung, die Flinte entsichert und im Anschlag. Dann gibt er dem Guide das OK-Zeichen; der Weg ist freigegeben und wir können losmarschieren. Wir sehen allerlei Pflanzen und Kleingetier, nichts Spektakuläres.
Eine Aussichtswarte lockt mit schöner Aussicht zur Wildbeobachtung. Einer nach dem andern steigt die Sprossen hoch. Dann passiert es: Bei Tofu-Schämpu bricht eine morsche Sprosse und er donnert von zwei Meter Höhe runter auf die Erde und schürft sich das linke Schienbein auf. Die Wunde sieht hässlich aus, ist aber zum Glück nicht tief. Seine Knochen sind unversehrt und er kann weiterlaufen. Nach der Rückkehr wird er auf dem Schiff sofort ambulant versorgt, denn Wunden entzünden sich in den Tropen fortwährend und selbst kleine Verletzungen verheilen nur langsam. Ich habe unversorgte Verletzungen in Erinnerung, in die in kurzer Zeit Maden eindrangen, sich anschliessend entzündeten und das Fleisch vom Knochen wegzufaulen begann. Doch wehe jedem, dem hier ein gröberes Missgeschick widerfährt: Wie ein Biss der unzähligen giftigen Schlangen, beispielsweise. Die Zivilisation ist zu weit entfernt, um rechtzeitig Hilfe leisten zu können.
Wenn man älter wird, lassen Dinge wie Sex normalerweise etwas nach, die Intervalle werden grösser, dafür wird gutes Essen immer wichtiger. Essen ist die Erotik des Alters. Bei mir jedenfalls ist das so, obschon ich ganz gerne zwischendurch noch eine nette Göre knalle. Hier auf unserem Schiff spielt die Kombüse ohne Zweifel nicht in der Major League, und der Chefkoch versteht nicht einmal zwischen Somalier uns Sommelier zu unterscheiden. Das Essen hier in Ostbengalen ist im Grossen und Ganzen nordindische Küche mit gewissen nationalen Einflüssen und Spezialitäten. Mir schmeckt es nur im Ausnahmefall, aber hier auf dem Boot ist die Verpflegung einigermassen geniessbar. Das soll bedeuten, besser als vielerorts ashore. Ich möchte den Lesenden nicht vorenthalten, dass meine kulinarischen Ansprüche generell auf höherem Level angesiedelt sind. Meine Aussagen sind für kulinarische Blindgänger und Normalos nicht repräsentativ. Heute gibt’s zur Abwechslung einmal Langusten à la mode de Pitcairn auf französische Art. Verglichen mit schweizerischen Massstäben, ist die Küche hier ein einziger Skandal. Da will ich doch zur Abwechslung einmal selber etwas nachhelfen. Essen ist ein Bedürfnis, geniessen eine Kunst! Ich lebe um zu essen und nicht umgekehrt.
Ich gebe zu, dreimal in meinem Leben geweint zu haben: Als ich Ian Gillan von den Deep Purple, im Hallenstadion in Zürich das erste Mal When a blind man cries singen hörte, als ich Phuong in den Klongs von Bangkok das dritte Mal und für immer verliess und als bei einem Bootspicknick in Aquitaine ein getrüffelter Truthahn über Bord fiel.
Hunger haben gehört hier zum Alltag. Irgendwie ist es dekadent, über das Kulinarische zu schreiben. Doch die bengalische Küche ist untrennbarer Bestandteil der bengalischen Kultur und Informationen über das Essen vervollständigen und bereichern meinen Reisebericht. Aufgrund seiner geographischen Lage, wird das Essen im Land stark von der Küche Indiens beeinflusst, allerdings wird in Bangladesch weitaus häufiger Fleisch gegessen, als dies im Nachbarstaat Indien der Fall ist. Typisch für das Land sind Reisgerichte, die mit Huhn, Lamm oder Fisch zubereitet und mit blossen Händen gegessen werden. Aufgrund der zahlreichen Gewässer und der Lage am Golf von Bengalen, spielen in der bengalischen Küche Fisch und Meeresfrüchte eine entscheidene Rolle. Beliebt ist auch der Trockenfisch Shutki. Gemüse wird als Beilage serviert.
Ebenfalls sehr beliebt ist die Verwendung von Hülsenfrüchten. Alle Speisen werden in der Regel scharf gewürzt. Am häufigsten findet man Knoblauch, Ingwer, Kreuzkümmel, Koriander, Kurkuma oder Chili in den verschiedenen Gerichten.
Für Süssspeisen hingegen werden häufig Zimt oder Kardamom verwendet. Speziell erwähnenswert sind süsse, konfektähnliche Schlemmereien wie Sandesh oder aber die mittlerweile auch in westlichen Ländern beliebten Getränkejoghurts Lassi. Als Nationalgetränk des Landes gilt Tee. Alkohol wird im Land hingegen aufgrund der vorherrschenden islamischen Gesetze so gut wie gar nicht getrunken.
Von kulinarischen Höhenflügen hat Tofu-Schämpu noch nie etwas gehört. Ich könnte dem Vegetarier in einem Nachttopf Tee aufbrühen, er würde es nichts merken. Er reklamiert Verdauungsprobleme bei Fleischkonsum, kann das schreiende Unrecht der leidenden Tiere nicht verantworten und gönnt sich lieber einfach nur einen Teller Reis mit Gemüse. Ich futtere die Meeresviecher schon alleine weg. Zu einem Hummer Thermidor mit Pouilly Fuissé, können wir uns hier auf diesem Kahn nicht steigern, aber zumindest werden wir Langusten auf französische Art veredlen. Allein ein Gericht ohne Garam Masala ist hier bereits der kulinarische Wahnsinn. Lege dir schon mal Papier und Kugelschreiber zurecht. Ich gebe eine kurze Instruktion und lasse dann die Kochmannschaft nach meinen Anweisungen das Mise en place vorbereiten: Riesencrevetten halb geschält mit Flügelschnitt und entferntem Darm, reichlich Knoblauch geschält und in hauchdünne Scheiben geschnitten, Frühlingszwiebeln in feine Ringe geschnitten (als Ersatz von Schnittlauch), zwei Birds-eye Chillies (kleine rote Chillies) mit Kernen, fein gehackt, schwarzer Pfeffer und Salz. Garam Masala ist bei Todesstrafe verboten! Das Öl wird im Wok stark erhitzt und der Knoblauch kurz angebraten. Ich werde Zeuge wie der Duft den Wokrand überwindet, in die Höhe steigt und meine Nasenschleimhäute tapeziert.
Wir nähern uns langsam einer kulinarischen Erektion. Jetzt folgen der Chilly und die Krustentiere. Alles wird kurz überschlagen – um Gottes Willen nicht lange -, alles abgeschmeckt mit Salz und Pfeffer. Als ich vor dem Wok wirble, entgeht meinem Auge nicht, dass der Chefkoch in einem Reflex nach der Garam Masala-Büchse greift. Es geht ihm einfach nicht in die Birne, dass man ein Menu auch ohne dieses elende Curryzeugs zubereiten kann. Ich stoppe ihn vehement und nehme ihm die schändliche Büchse aus den Pfoten. Jetzt folgt das Grünzeug und sofort kann der Küchenjunge den Service angehen. Als Beilage gibt es Reis und etwas Gemüse, allerdings wie üblich mit dem landestypischen Geschmack. Die Riesencrevetten schmiegen sich an meine Zunge; sanft, zart, so gut, so aromatisch, wie wir wohl keine zweiten auf dieser Reise mehr kriegen werden. "Khub bhalo, sehr gut", quittiere ich das Resultat. Zu trinken gibt es keinen eisgekühlten Chardonnay, dafür Wasser oder Tee. Auch das ist ein kulinarisches Verbrechen und eine Beleidigung der edlen Krustentiere, aber wo sollte ich denn Weisswein herkriegen? Hierzulande wirst du zur Besäufnisverweigerung angehalten und musst auf längere Distanz dem Alkohol entsagen. Noch stundenlang nach dem Essen oszelliert in meinen Gedanken ein weiss gedeckter Tisch: ich sehe dampfende Porzellanschüsseln, darin niedergegartes Fleisch mit rosiger Mitte, Rotweinsauce, Kartoffelgratin mit brauner Kruste, Château Richbourg in bauchigen Gläsern.
Dem Königstiger - Panthera tigris -, auch Bengal-Tiger oder Indischer Tiger genannt, kommen wir gefährlich nahe. Es handelt sich bei dieser Spezies um eine Festlandunterart. Er ist auf dem Indischen Subkontinent verbreitet und wird von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) als Endangered (gefährdet) eingestuft. Die weltweit höchste Population wird auf weniger als 400 Individuen, davon 250 in den Sundarbans, geschätzt und die Ikone ist vom Aussterben bedroht. Jährlich fallen ihnen in Bangladesch, Nepal und Indien insgesamt 50 Menschen zum Opfer. Ein Jäger wird zum Gejagten. Der Königstiger ist das Nationaltier Indiens und Bangladeschs. Im Sunderbans Tiger Reserve leben diese scheuen Raubkatzen in freier Wildbahn.
Bei einem weiteren Landgang folgen wir den Spuren des Tigeridylls, doch heute zeigt sich Shirkan nicht. Die Fussabdrücke und Kratzspuren an den Baumrinden beweisen mir zur Genüge, wie meine Haut aussehen würde, geriete sie unter die Pranken des Royal Tigers. Zwar begleitet uns ein bewaffneter Wächter vom Forest Department, aber mein Vertrauen in seine Ausrüstung und Kampfwille ist beschränkt. Die Waffe, die er stolz um die Schulter gehängt trägt, stammt aus dem Unabhängigkeitskrieg, die Patronen sind out of calender. Zudem fürchten sich die Bengalen schrecklich vor den wilden Tieren des Waldes. Ob er überhaupt je seine Waffe abfeuern würde, steht in den Sternen. Die Hauptbeschäftigung der Parkwächter besteht zudem darin, die illegalen Tätigkeiten im Dschungel zu organisieren. Sie sind die Wächter darüber, dass nicht zu viel gewildert und gefällt wird, und gleichzeitig die Organisatoren derselben Aktivitäten. Wie alle Staatsangestellten können sie von ihren Gehältern nicht leben. So machen sie gemeinsame Sache mit den Wilderern und Holzfällern. Es wir beschissen, wie es eben ein Bengale tut. An den Forest Guards kommt niemand vorbei, weder gut noch böse. Zum Glück wird alles noch manuell gemacht. Wehe den Sundarbans, wenn die erste Kettensäge angeworfen wird. Die Dichte des Dschungels ist allerdings gleichzeitig sein Schutz: Wer in den Sumpf hinein will, versinkt bis zu den Knöcheln. Wir haben es ausprobiert. Weit kommst du nicht. Auch mit Piraten müssen wir es weniger aufnehmen: Diese sind zwar eine permanente Gefahr für die einheimischen Fischer, die auf ihren Booten leben, doch wir sind eine Nummer zu gross. Aus einer englischsprachigen, bengalischen Tageszeitung entnehme ich kurz nach der Tour, dass gerade während unserer Sundarbans-Exkursion 31 Fischer mit ihren Booten von Piraten geentert wurden. Die Drahtzieher gehen rauf bis ins nationale Parlament.
Ein Zoobesuch kann dir den fehlenden Tiger ersetzen, nicht aber die besondere Stimmung frühmorgens im Nationalpark. Das Ganze hat etwas mit Dark side oft the moon von Pink Floyd, insbesondere am Anfang dieser Melodie zu tun. Es ist 6.00 Uhr und wir sitzen im Beiboot und rudern praktisch geräuschlos über das Wasser. Um diese Tageszeit verträgt der Reisende gern eine dünne Jacke, später ab 9 Uhr kommst du mit einem T-Shirt gut klar, wenn die Sonne herabstrahlt.
Der naturkundliche Experte bittet um Ruhe, was mir schwerfällt, denn ich quatsche gerne und habe seinerzeit bei den Vorlesungen schon meine Professoren an der Uni auf die Palme gebracht. Die Geräusche nehmen zu bis zum Crescendo, doch wenn du diese perfekte Stimmung rüberbringen willst, muss du dir die weissen Kopfhörer ins Ohr stecken. Immer wieder werden wir mit Handzeichen auf Tiere hingewiesen. Unser Fachmann hat in der Tat ein geschultes Auge. Mir würde nicht die Hälfte der Kreaturen auffallen. Wir sehen Rehe, Hirsche, wilde Eber, Salzwasser-Krokodile, Irawaddy-Delphine, Rhesusaffen, Ottern, Fische, eine Vielzahl exotischer Vögel, die hier leben oder während ihrer Zugreise Station machen. Shirkan kann nicht kommen und hat sich abgemeldet. Im Licht der aufgehenden Sonne spiegeln sich die Bäume im Wasser. Wir gleiten lautlos dahin, nur das Ruder im Wasser und das Klicken der Fotoapparate ist zu vernehmen.
Eingesperrt auf unserem Boot, geniessen wir drei Tage in unendlicher Stille.
Der Kontrast zu Dhaka könnte grösser nicht sein. Der einzige Lärm ist unser eigener Diesel, und die lieblichen Geräusche, welche Rotwild, Affen und unzählige Vögel hinterlassen. Für Naturliebhabende quasi der heaven on earth. Der Himmel spiegelt sich im Wasser, die Grenze zwischen unten und oben ist verwischt.
Hier könnte das Ende der Welt vermutet werden; für einen Städter wie mich fast zum verrückt werden. Mir fehlt nach drei Tagen bereits der brausende Verkehr, urbaner Dieselgestank, tropfende Ölwannen, eine Auswahl an Lokalen, lachende Frauen, pulsierendes Leben. Sobald jeweils die Nacht über den Wald und die Bay of Bengal fällt, spenden uns nur noch die Notbeleuchtung auf dem Oberdeck und die Sterne Licht. Viel zu tun gibt es nicht, ausser Erfahrungen auszutauschen, zu philosophieren und in die Nacht hinein zu lauschen. Was mir persönlich fehlt ist - ich sag's immer wieder - ein doppelter Black-Label. Da muss ich beim nächsten Trip unbedingt daran denken, vor der Reise im Dutyfree eine Flasche einzustecken. Damit wäre die Stille und Natur besser zu ertragen.
Zum Abschluss besuchen wir auf der Rückreise nach Mongla ein Bauerndorf und machen einen stillen Rundgang. Über das Dorfleben, die Kultur, Anpflanzungen erhalten wir keinerlei Informationen und müssen uns selber einen Reim darauf machen. Zu begeistern vermag mich der Dorfmetzger, der gerade dabei ist draussen auf dem Feldweg ein Rind zu zerlegen. Das Tier ist bereits in grössere Teile zerschnitten, der abgesetzte Kopf auf dem Tisch sieht mich teilnahmslos an. Wir spazieren weiter und Kinder folgen uns. Wir benutzen die Gelegenheit, um Fotos zu schiessen. Das Boot folgt uns nebenher und nach einer Stunde setzen wir die Fahrt fort.
Fazit: Ich erachte die Sundarbans als besuchenswert, möchte ihnen aber die Einstufung als Touristspot Number 1 des Landes absprechen. Den ganzen Ausflug würde ich auf zwei Tage reduzieren. Die Landbesuche geben nicht wirklich viel her, zeitweise wandelst du im Sumpf und musst dich immer wieder waschen. Die ganze Gegend sieht mehr oder wenig überall ähnlich aus: Mangroven, nichts als Mangroven, Richtung Gangesdelta dann Sandstrand, aber keine Bar und kein kaltes Bier. Nicht auslassen solltest du die Wildbeobachtungen frühmorgens. So ein Ausflug mit dem Beiboot ist speziell und wer gerne Viecher spottet, liegt da richtig. Die Chance einen Man Eating Tiger zu sichten kannst du dir praktisch abschminken. Als Ersatz ziehst du dir besser das folgende Video auf YouTube rein.
Man Eating Tigers Of The Sundarbans - BBC: https://www.youtube.com/watch?v=4u3zDpe5AS4
Pitcairn, seit 40 Jahren auf der endlosen Reise.
Pitcairn hat mit seinem vierköpfigen Reiseteam Bangladesch in den Monaten Oktober - Dezember 2014 individuell bereist. Der Bericht ist ein Auszug aus der über zweihundertseitigen Globalversion Ein Land im fortgeschrittenen Zerfall. Die Publikation im Forum wird in den kommenden Monaten erfolgen.
Die gewaltigen Ströme Padma, Meghna und Jamuna mit ihren unzähligen Nebenflüssen dominieren die Umwelt, bilden ein gigantisches Verkehrsnetz und vereinigen sich zum grössten Delta der Erde – dem Gangesdelta - im Golf von Bengalen. Die Ufer des Padma sind teilweise so weit voneinander entfernt, dass sie nur als graue Streifen am Horizont zu erkennen sind. Die Ströme führen von den Südhängen des Himalaya sowie saisonal bedingte Wassermassen der Monsun-Zone ins Meer ab. Das Ganges-Delta inklusive den vorangehenden Sundarbans, umfasst ein Gebiet von etwa 10'000 km². Davon liegen etwa 6'000 km² in Bangladesch und 4'000 km² im indischen Bundesstaat Westbengalen. Das artenreiche Ökosystem ist weit verzweigt und schwer zugänglich, insbesondere weil die Deltagebiete der drei Ströme hier ineinander übergehen. 1987 wurden die Sundarbans als UNESCO-Weltnaturerbe anerkannt.
Der vom Aussterben bedrohte Bengalische Königstiger und der endemische Sundari-Baum sind hier beheimate. Hier befindet sich auch der Lebensraum diverser Säugetiere und Reptilien. Den Sundarbans, von der Natur mit einer reichen Flora und Fauna ausgestattet, droht der Untergang. Es tickt eine Zeitbombe - die globale Erderwärmung. Sollte sich das Aufheizen der Atmosphäre fortsetzen, dürfte der Meeresspiegel in den nächsten Jahrzehnten massiv, bis gegen 40 cm ansteigen.
Da helfen höhere Gummistiefel nicht mehr. Die Bewohner können praktisch zuschauen, wie sich das Wasser Zentimeter um Zentimeter in das Land frisst und ihnen den Lebensraum wegnimmt. 75 Prozent des Kulturland und der Mangrovensümpfe werden dadurch überschwemmt. Wo werden die Menschenmassen hinflüchten? Logisch - zuerst nach Dhaka. Aber dann kollabiert die Metropole vollständig. Indien und Bangladesch sind sich über die Bedrohung der Sundarbans einig und haben sich zu grenzüberschreitender Zusammenarbeit erklärt, um dieses Ökosystem erhalten bleibt. Natürlich ist dies nur ein Lippenbekenntnis, angesichts anderer bestehender Herausforderungen. Dass die Sundarbans untergehen werden ist so gewiss, wie die heilige Kaaba in Mekka steht.
Die meisten Leute im Gangesdelta beschäftigen sich mit der Aufzucht von Krabben. Es sind sogenannt Landlose, die auf den Deichen leben. Die Teiche bringen beachtliche Probleme mit sich und sind eine neue Bedrohung, da das Ökosystem beeinträchtigt wird. Um Erkrankungen zu vermeiden und das Wachstum zu beschleunigen, werden in den Kulturbecken Antibiotika und Pestizide eingesetzt, wie es praktisch in allen anderen asiatischen Produktionsländer der Fall ist. Dadurch werden nicht nur die Tiere verseucht, sondern auch die Abwässer aus diesen Teichen; sie gelangen in die umliegenden Mangrovenwälder. Sind die Becken verbraucht, werden neue angelegt. Und dafür wird wieder Mangrovenwald gerodet. Die ländliche Beschaulichkeit trügt und Diebe kommen in der Nacht. Deshalb schlafen die Besitzer in Schilfhütten auf Stelzen über dem Wasser und schieben Wache. Die Sundarbans sind Schauplatz des Romans "Hunger der Gezeiten“ von Amitav Gosh. Die Story handelt von einer Reise voller Unwägbarkeiten in eine gefährdete Regionen der Erde. Das Buch – der Begriff dürfte den Älteren unter uns noch etwas sagen - ist gut geeignet, um sich im Vorfeld auf einen Besuch im Gangesdelta vorzubereiten.
Unsere dreitägige Sundarbans-Tour mit einem gecharterten Schiff und eigener siebenköpfiger Mannschaft inklusive Koch und Bodyguard, haben wir vorsorglich bereits bei einem Agenten in Dhaka gebucht und bezahlt. Der Tourguide holt uns im Hotel ab und führt uns zu Fuss zum nahegelegenen Hafen. Er berichtet, dass noch zwei weitere Touristen zu uns stossen werden und wir mit dem Auslaufen warten müssen. Ihre Ankunft verzögere sich wegen einer Autopanne. Gar nichts müssen wir! Als ich das höre, gehe ich die Palme hoch und informiere meine übrigen Kollegen. Wir sind alle keinesfalls gewillt auf diese Nötigung des Agenten einzutreten. Die Abmachung lautete klar auf Charter und wir sind nicht bereit, auf unsere getroffene Vereinbarung und festgelegten Konditionen zurückzukommen. Tofu-Schämpu war persönlich für die Reservation besorgt. Jetzt kommt ihm die Galle hoch und er greift zum Telefon und wünscht dem Agenten die Schwindsucht an den Hals. Lautstark in Brighton-Englisch mit Romandie-Akzent, macht er ihm unseren Standpunkt unmissverständlich klar. Der Agent hat die Frechheit, eine Zusatzzahlung von
US$ 500.--zu fordern, die wir empört ablehnen. Soll er sich die 500 Kröten selber in den Arsch stecken! Einmal mehr ein typisches Beispiel der sprichwörtlichen bengalischen Bescheissermentalität. Von wegen Guardian Angel nach Lonely Planet. Das war vielleicht einmal, der Mann greift hemmungslos zu und ignoriert getroffene Vereinbarungen.
Das Telefongespräch wird unterbrochen. Da kommt der Bursche bei unserer Jamaat nie durch. Wenn wir nach Dhaka zurückkehren, werden wir uns den Fettwanst ganz persönlich zur Brust nehmen. Wir erteilen dem Guide Befehl, unser gesamtes Gepäck ins Dingi zu schaffen und zum Reiseschiff in tieferem Wasser überzusetzen; dann laufen wir sofort aus. Am letzten Reisetag werden wir feststellen, dass sich Agent Mutschli aus der Affäre zieht, indem er unter fadenscheiniger Begründung von Terminüberlastung, unsere verlangte Aussprache verweigert. Er hat auch keinen Mut, telefonisch mit uns zu sprechen und lässt uns diese Meldung über eine Drittperson zukommen. Von einer finanziellen Nachforderung ist keine Rede mehr.
Khulna oder Mongla sind die Hauptausgangstore für Exkursionen in die Mangrovengebiete der Sundarbans und das Gangesdelta. Ich bin sicher, dass wir auch ad hoc vor Ort ein Schiff mit Crew gefunden hätten.Vielleicht hätten wir bis zum Auslaufen ein bis zwei Tage warten müssen, aber was sollst, wir haben ja mehr als reichlich Zeit. In Mongla beginnt unsere Erkundungsfahrt. An Bord begrüsst uns eine nette, anfänglich 6-köpfige Crew, die für unser leibliches Wohl, die naturkundlichen Erläuterungen zu Lande und zu Wasser und für den Transport verantwortlich ist. Die Mannschaft unterteilt sich in einen Organisator, der sich als Guide bezeichnet, Bordingenieur und ortsspezifischer naturkundlicher Guide, Steuermann, Koch, Hilfskoch, Schiffsjunge und Leibwächter. Der Schutzmann wird in einer Stunde an Bord kommen.
Wir nutzen die frühe Stunde, um uns in den einfachen Privatkabinen im Unterdeck einzurichten. Es gibt im Kabinenkorridor eine zentrale Waschschüssel mit fliessendem Wasser und im Schiffsheck eine geräumige Toilette mit Duschgelegenheit. Sensitiven Reisenden wird nach der ersten Nacht bewusst, dass je näher ihre Kabinen in Distanz zum Maschinenraum angeordnet sind, sie umso mehr unter Geräusch- und Geruchsemissionen zu leiden haben. Zum Glück gibt es leere Kabinen und Extra-Miggu zieht am zweiten Tag unter Protestgemurmel mit Sack und Pack nach vorne in den Bug. Balance-Glucke ist eingeladen mitzukommen, doch sie entscheidet sich wie Tofu-Schämpu für die Beibehaltung des Status quo. Ich selber bin wenig Lärm- und Geruchsempfindlich, aber rein zufällig etwas weiter vorne einquartiert und bekomme die Querelen nur am Rande mit.
Wir machen es uns auf dem Oberdeck in der Lounge bequem. Bald wird Breakfast mit Paratha, Kaffee und Cha und als Nachgang Bananen und Orangen aufgetischt. Mit einem Morgenkaffee sieht die Welt schon ganz anders aus.
Wir tuckern durch natürliche Flusswege, gesäumt von endlosen Mangrovenwäldern in Richtung unteres Gangesdelta. Nach einer Stunde legen wir bei einem einheimischen Dorf kurz an und ein grünuniformierter, mit Flinte bewaffneter Nationalpark-Wächter, bittet um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen. Nun ist unsere Schicksalsgemeinschaft komplett und wir können loslegen und gegen menschenfressende Tiger, schnappende Krokodile, fleischfressende Pflanzen, auf Bäumen lauernde Giftschlangen, aggressive Stechmücken, lästige Schmeissfliegen, widerwärtige Kakerlaken und wilde Piraten antreten. Nach drei Tagen werden wir wissen, dass eine Sundarbans-Safari eher ein wenig belastender Schwangerschaftsausflug mit interessanten Begegnungen und Beobachtungen ist.
Die Sundarbans sind eines der grössten Mangrovenwaldgebiete der Welt und der Name bedeutet Schöner Wald. Die Bewohner nennen den Archipel auch Bhatir desh, Gezeitenland. Ein Wald im Gezeitenbereich; kilometerweit entfaltet sich ein lückenloses grünes Dach. Die Bäume, deren Standplatz sich im Wasser befindet, erreichen Höhen von zwei bis zehn Meter. Charakteristisch sind die aus dem Wasser ragenden Luftwurzeln. Über diese werden die Mangroven im Schlammbereich mit Sauerstoff versorgt, da sonst die Pflanze, die im Wasser steht, ersticken würde. Die Fortpflanzung der Bäume geschieht auf ungewöhnliche Weise. Der Same keimt noch auf der Mutterpflanze und wird bis zu dreissig Zentimeter lang. Der Keimling, der die Form einer Zigarre hat, fällt durch die Schwere seiner Wurzelseite von der Mutterpflanze in den Schlick. Hier wächst der Keimling weiter. Die Sundarbans sind für Botaniker und Freunde der Natur eine einmalige, wilde natürliche Schönheit.
Wir legen erneut am Ufer an und verlassen das Schiff zu einem ersten Landgang.
Der Parkwächter observiert die Umgebung, die Flinte entsichert und im Anschlag. Dann gibt er dem Guide das OK-Zeichen; der Weg ist freigegeben und wir können losmarschieren. Wir sehen allerlei Pflanzen und Kleingetier, nichts Spektakuläres.
Eine Aussichtswarte lockt mit schöner Aussicht zur Wildbeobachtung. Einer nach dem andern steigt die Sprossen hoch. Dann passiert es: Bei Tofu-Schämpu bricht eine morsche Sprosse und er donnert von zwei Meter Höhe runter auf die Erde und schürft sich das linke Schienbein auf. Die Wunde sieht hässlich aus, ist aber zum Glück nicht tief. Seine Knochen sind unversehrt und er kann weiterlaufen. Nach der Rückkehr wird er auf dem Schiff sofort ambulant versorgt, denn Wunden entzünden sich in den Tropen fortwährend und selbst kleine Verletzungen verheilen nur langsam. Ich habe unversorgte Verletzungen in Erinnerung, in die in kurzer Zeit Maden eindrangen, sich anschliessend entzündeten und das Fleisch vom Knochen wegzufaulen begann. Doch wehe jedem, dem hier ein gröberes Missgeschick widerfährt: Wie ein Biss der unzähligen giftigen Schlangen, beispielsweise. Die Zivilisation ist zu weit entfernt, um rechtzeitig Hilfe leisten zu können.
Wenn man älter wird, lassen Dinge wie Sex normalerweise etwas nach, die Intervalle werden grösser, dafür wird gutes Essen immer wichtiger. Essen ist die Erotik des Alters. Bei mir jedenfalls ist das so, obschon ich ganz gerne zwischendurch noch eine nette Göre knalle. Hier auf unserem Schiff spielt die Kombüse ohne Zweifel nicht in der Major League, und der Chefkoch versteht nicht einmal zwischen Somalier uns Sommelier zu unterscheiden. Das Essen hier in Ostbengalen ist im Grossen und Ganzen nordindische Küche mit gewissen nationalen Einflüssen und Spezialitäten. Mir schmeckt es nur im Ausnahmefall, aber hier auf dem Boot ist die Verpflegung einigermassen geniessbar. Das soll bedeuten, besser als vielerorts ashore. Ich möchte den Lesenden nicht vorenthalten, dass meine kulinarischen Ansprüche generell auf höherem Level angesiedelt sind. Meine Aussagen sind für kulinarische Blindgänger und Normalos nicht repräsentativ. Heute gibt’s zur Abwechslung einmal Langusten à la mode de Pitcairn auf französische Art. Verglichen mit schweizerischen Massstäben, ist die Küche hier ein einziger Skandal. Da will ich doch zur Abwechslung einmal selber etwas nachhelfen. Essen ist ein Bedürfnis, geniessen eine Kunst! Ich lebe um zu essen und nicht umgekehrt.
Ich gebe zu, dreimal in meinem Leben geweint zu haben: Als ich Ian Gillan von den Deep Purple, im Hallenstadion in Zürich das erste Mal When a blind man cries singen hörte, als ich Phuong in den Klongs von Bangkok das dritte Mal und für immer verliess und als bei einem Bootspicknick in Aquitaine ein getrüffelter Truthahn über Bord fiel.
Hunger haben gehört hier zum Alltag. Irgendwie ist es dekadent, über das Kulinarische zu schreiben. Doch die bengalische Küche ist untrennbarer Bestandteil der bengalischen Kultur und Informationen über das Essen vervollständigen und bereichern meinen Reisebericht. Aufgrund seiner geographischen Lage, wird das Essen im Land stark von der Küche Indiens beeinflusst, allerdings wird in Bangladesch weitaus häufiger Fleisch gegessen, als dies im Nachbarstaat Indien der Fall ist. Typisch für das Land sind Reisgerichte, die mit Huhn, Lamm oder Fisch zubereitet und mit blossen Händen gegessen werden. Aufgrund der zahlreichen Gewässer und der Lage am Golf von Bengalen, spielen in der bengalischen Küche Fisch und Meeresfrüchte eine entscheidene Rolle. Beliebt ist auch der Trockenfisch Shutki. Gemüse wird als Beilage serviert.
Ebenfalls sehr beliebt ist die Verwendung von Hülsenfrüchten. Alle Speisen werden in der Regel scharf gewürzt. Am häufigsten findet man Knoblauch, Ingwer, Kreuzkümmel, Koriander, Kurkuma oder Chili in den verschiedenen Gerichten.
Für Süssspeisen hingegen werden häufig Zimt oder Kardamom verwendet. Speziell erwähnenswert sind süsse, konfektähnliche Schlemmereien wie Sandesh oder aber die mittlerweile auch in westlichen Ländern beliebten Getränkejoghurts Lassi. Als Nationalgetränk des Landes gilt Tee. Alkohol wird im Land hingegen aufgrund der vorherrschenden islamischen Gesetze so gut wie gar nicht getrunken.
Von kulinarischen Höhenflügen hat Tofu-Schämpu noch nie etwas gehört. Ich könnte dem Vegetarier in einem Nachttopf Tee aufbrühen, er würde es nichts merken. Er reklamiert Verdauungsprobleme bei Fleischkonsum, kann das schreiende Unrecht der leidenden Tiere nicht verantworten und gönnt sich lieber einfach nur einen Teller Reis mit Gemüse. Ich futtere die Meeresviecher schon alleine weg. Zu einem Hummer Thermidor mit Pouilly Fuissé, können wir uns hier auf diesem Kahn nicht steigern, aber zumindest werden wir Langusten auf französische Art veredlen. Allein ein Gericht ohne Garam Masala ist hier bereits der kulinarische Wahnsinn. Lege dir schon mal Papier und Kugelschreiber zurecht. Ich gebe eine kurze Instruktion und lasse dann die Kochmannschaft nach meinen Anweisungen das Mise en place vorbereiten: Riesencrevetten halb geschält mit Flügelschnitt und entferntem Darm, reichlich Knoblauch geschält und in hauchdünne Scheiben geschnitten, Frühlingszwiebeln in feine Ringe geschnitten (als Ersatz von Schnittlauch), zwei Birds-eye Chillies (kleine rote Chillies) mit Kernen, fein gehackt, schwarzer Pfeffer und Salz. Garam Masala ist bei Todesstrafe verboten! Das Öl wird im Wok stark erhitzt und der Knoblauch kurz angebraten. Ich werde Zeuge wie der Duft den Wokrand überwindet, in die Höhe steigt und meine Nasenschleimhäute tapeziert.
Wir nähern uns langsam einer kulinarischen Erektion. Jetzt folgen der Chilly und die Krustentiere. Alles wird kurz überschlagen – um Gottes Willen nicht lange -, alles abgeschmeckt mit Salz und Pfeffer. Als ich vor dem Wok wirble, entgeht meinem Auge nicht, dass der Chefkoch in einem Reflex nach der Garam Masala-Büchse greift. Es geht ihm einfach nicht in die Birne, dass man ein Menu auch ohne dieses elende Curryzeugs zubereiten kann. Ich stoppe ihn vehement und nehme ihm die schändliche Büchse aus den Pfoten. Jetzt folgt das Grünzeug und sofort kann der Küchenjunge den Service angehen. Als Beilage gibt es Reis und etwas Gemüse, allerdings wie üblich mit dem landestypischen Geschmack. Die Riesencrevetten schmiegen sich an meine Zunge; sanft, zart, so gut, so aromatisch, wie wir wohl keine zweiten auf dieser Reise mehr kriegen werden. "Khub bhalo, sehr gut", quittiere ich das Resultat. Zu trinken gibt es keinen eisgekühlten Chardonnay, dafür Wasser oder Tee. Auch das ist ein kulinarisches Verbrechen und eine Beleidigung der edlen Krustentiere, aber wo sollte ich denn Weisswein herkriegen? Hierzulande wirst du zur Besäufnisverweigerung angehalten und musst auf längere Distanz dem Alkohol entsagen. Noch stundenlang nach dem Essen oszelliert in meinen Gedanken ein weiss gedeckter Tisch: ich sehe dampfende Porzellanschüsseln, darin niedergegartes Fleisch mit rosiger Mitte, Rotweinsauce, Kartoffelgratin mit brauner Kruste, Château Richbourg in bauchigen Gläsern.
Dem Königstiger - Panthera tigris -, auch Bengal-Tiger oder Indischer Tiger genannt, kommen wir gefährlich nahe. Es handelt sich bei dieser Spezies um eine Festlandunterart. Er ist auf dem Indischen Subkontinent verbreitet und wird von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) als Endangered (gefährdet) eingestuft. Die weltweit höchste Population wird auf weniger als 400 Individuen, davon 250 in den Sundarbans, geschätzt und die Ikone ist vom Aussterben bedroht. Jährlich fallen ihnen in Bangladesch, Nepal und Indien insgesamt 50 Menschen zum Opfer. Ein Jäger wird zum Gejagten. Der Königstiger ist das Nationaltier Indiens und Bangladeschs. Im Sunderbans Tiger Reserve leben diese scheuen Raubkatzen in freier Wildbahn.
Bei einem weiteren Landgang folgen wir den Spuren des Tigeridylls, doch heute zeigt sich Shirkan nicht. Die Fussabdrücke und Kratzspuren an den Baumrinden beweisen mir zur Genüge, wie meine Haut aussehen würde, geriete sie unter die Pranken des Royal Tigers. Zwar begleitet uns ein bewaffneter Wächter vom Forest Department, aber mein Vertrauen in seine Ausrüstung und Kampfwille ist beschränkt. Die Waffe, die er stolz um die Schulter gehängt trägt, stammt aus dem Unabhängigkeitskrieg, die Patronen sind out of calender. Zudem fürchten sich die Bengalen schrecklich vor den wilden Tieren des Waldes. Ob er überhaupt je seine Waffe abfeuern würde, steht in den Sternen. Die Hauptbeschäftigung der Parkwächter besteht zudem darin, die illegalen Tätigkeiten im Dschungel zu organisieren. Sie sind die Wächter darüber, dass nicht zu viel gewildert und gefällt wird, und gleichzeitig die Organisatoren derselben Aktivitäten. Wie alle Staatsangestellten können sie von ihren Gehältern nicht leben. So machen sie gemeinsame Sache mit den Wilderern und Holzfällern. Es wir beschissen, wie es eben ein Bengale tut. An den Forest Guards kommt niemand vorbei, weder gut noch böse. Zum Glück wird alles noch manuell gemacht. Wehe den Sundarbans, wenn die erste Kettensäge angeworfen wird. Die Dichte des Dschungels ist allerdings gleichzeitig sein Schutz: Wer in den Sumpf hinein will, versinkt bis zu den Knöcheln. Wir haben es ausprobiert. Weit kommst du nicht. Auch mit Piraten müssen wir es weniger aufnehmen: Diese sind zwar eine permanente Gefahr für die einheimischen Fischer, die auf ihren Booten leben, doch wir sind eine Nummer zu gross. Aus einer englischsprachigen, bengalischen Tageszeitung entnehme ich kurz nach der Tour, dass gerade während unserer Sundarbans-Exkursion 31 Fischer mit ihren Booten von Piraten geentert wurden. Die Drahtzieher gehen rauf bis ins nationale Parlament.
Ein Zoobesuch kann dir den fehlenden Tiger ersetzen, nicht aber die besondere Stimmung frühmorgens im Nationalpark. Das Ganze hat etwas mit Dark side oft the moon von Pink Floyd, insbesondere am Anfang dieser Melodie zu tun. Es ist 6.00 Uhr und wir sitzen im Beiboot und rudern praktisch geräuschlos über das Wasser. Um diese Tageszeit verträgt der Reisende gern eine dünne Jacke, später ab 9 Uhr kommst du mit einem T-Shirt gut klar, wenn die Sonne herabstrahlt.
Der naturkundliche Experte bittet um Ruhe, was mir schwerfällt, denn ich quatsche gerne und habe seinerzeit bei den Vorlesungen schon meine Professoren an der Uni auf die Palme gebracht. Die Geräusche nehmen zu bis zum Crescendo, doch wenn du diese perfekte Stimmung rüberbringen willst, muss du dir die weissen Kopfhörer ins Ohr stecken. Immer wieder werden wir mit Handzeichen auf Tiere hingewiesen. Unser Fachmann hat in der Tat ein geschultes Auge. Mir würde nicht die Hälfte der Kreaturen auffallen. Wir sehen Rehe, Hirsche, wilde Eber, Salzwasser-Krokodile, Irawaddy-Delphine, Rhesusaffen, Ottern, Fische, eine Vielzahl exotischer Vögel, die hier leben oder während ihrer Zugreise Station machen. Shirkan kann nicht kommen und hat sich abgemeldet. Im Licht der aufgehenden Sonne spiegeln sich die Bäume im Wasser. Wir gleiten lautlos dahin, nur das Ruder im Wasser und das Klicken der Fotoapparate ist zu vernehmen.
Eingesperrt auf unserem Boot, geniessen wir drei Tage in unendlicher Stille.
Der Kontrast zu Dhaka könnte grösser nicht sein. Der einzige Lärm ist unser eigener Diesel, und die lieblichen Geräusche, welche Rotwild, Affen und unzählige Vögel hinterlassen. Für Naturliebhabende quasi der heaven on earth. Der Himmel spiegelt sich im Wasser, die Grenze zwischen unten und oben ist verwischt.
Hier könnte das Ende der Welt vermutet werden; für einen Städter wie mich fast zum verrückt werden. Mir fehlt nach drei Tagen bereits der brausende Verkehr, urbaner Dieselgestank, tropfende Ölwannen, eine Auswahl an Lokalen, lachende Frauen, pulsierendes Leben. Sobald jeweils die Nacht über den Wald und die Bay of Bengal fällt, spenden uns nur noch die Notbeleuchtung auf dem Oberdeck und die Sterne Licht. Viel zu tun gibt es nicht, ausser Erfahrungen auszutauschen, zu philosophieren und in die Nacht hinein zu lauschen. Was mir persönlich fehlt ist - ich sag's immer wieder - ein doppelter Black-Label. Da muss ich beim nächsten Trip unbedingt daran denken, vor der Reise im Dutyfree eine Flasche einzustecken. Damit wäre die Stille und Natur besser zu ertragen.
Zum Abschluss besuchen wir auf der Rückreise nach Mongla ein Bauerndorf und machen einen stillen Rundgang. Über das Dorfleben, die Kultur, Anpflanzungen erhalten wir keinerlei Informationen und müssen uns selber einen Reim darauf machen. Zu begeistern vermag mich der Dorfmetzger, der gerade dabei ist draussen auf dem Feldweg ein Rind zu zerlegen. Das Tier ist bereits in grössere Teile zerschnitten, der abgesetzte Kopf auf dem Tisch sieht mich teilnahmslos an. Wir spazieren weiter und Kinder folgen uns. Wir benutzen die Gelegenheit, um Fotos zu schiessen. Das Boot folgt uns nebenher und nach einer Stunde setzen wir die Fahrt fort.
Fazit: Ich erachte die Sundarbans als besuchenswert, möchte ihnen aber die Einstufung als Touristspot Number 1 des Landes absprechen. Den ganzen Ausflug würde ich auf zwei Tage reduzieren. Die Landbesuche geben nicht wirklich viel her, zeitweise wandelst du im Sumpf und musst dich immer wieder waschen. Die ganze Gegend sieht mehr oder wenig überall ähnlich aus: Mangroven, nichts als Mangroven, Richtung Gangesdelta dann Sandstrand, aber keine Bar und kein kaltes Bier. Nicht auslassen solltest du die Wildbeobachtungen frühmorgens. So ein Ausflug mit dem Beiboot ist speziell und wer gerne Viecher spottet, liegt da richtig. Die Chance einen Man Eating Tiger zu sichten kannst du dir praktisch abschminken. Als Ersatz ziehst du dir besser das folgende Video auf YouTube rein.
Man Eating Tigers Of The Sundarbans - BBC: https://www.youtube.com/watch?v=4u3zDpe5AS4
Pitcairn, seit 40 Jahren auf der endlosen Reise.
Pitcairn hat mit seinem vierköpfigen Reiseteam Bangladesch in den Monaten Oktober - Dezember 2014 individuell bereist. Der Bericht ist ein Auszug aus der über zweihundertseitigen Globalversion Ein Land im fortgeschrittenen Zerfall. Die Publikation im Forum wird in den kommenden Monaten erfolgen.
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