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Swami Pitcairn auf seiner Reise durch Südindien
Wachtraum
Wie von Geisterhand setzen sich plötzlich Lamellenstoren automatisch in Bewegung und reduzieren die Intensität der einströmenden Nachmittagshelle bis sich der Behandlungsraum in gedämpftem Licht präsentiert. Die Deckenpaneelen werden von indirektem blauen Licht angestrahlt, der Duft von Moschus und Kardamom erfüllt den Raum von schätzungsweise satten 50 m2 und eine wohlige Atmosphäre gewinnt langsam Oberhand.
Fingerspitzen streichen mir über die Wange, der Raum erwacht zu neuem Leben. Eine Hand, die aus dem Nichts heranzugleiten scheint, schält mich sanft aus meinem T-Shirt, eine andere öffnet mir den Gurt, hilft mir behände mich der Trekkingshorts zu entledigen und eine dritte zieht mir meinen türkisfarbenen Odlo-Herrenslip über die Hüften nach unten. Ich bin nackt. Wie von fern sehe ich die Haut meiner Brust und meiner Schenkel und ich frage mich, ob dies mein eigener Körper ist. Dann sind andere Hände da, die mir den Weg durch eine Türe in eine im Boden eingelassene Wanne mit gewärmtem Wasser weisen. Doch alles erst ganz schön der Reihe nach. Wir wollen doch nicht gleich mit der Türe ins Haus fallen.
Mentale Auseinandersetzung
Indien ist mehr Kontinent als Land. Von Norden nach Süden und Osten nach Westen sind Leute, Sprachen und Gebräuche sehr verschieden, nicht aber die aufdringliche Art. Es gibt wenige Länder auf der Erde mit solch einer Vielfalt. Hier gibt es Leute aus Rajasthan, Bengal, Tamil Nadu, Pushkar, Cochin etc; Angehörige der Unberührbaren, Brahmanen, Hindus, Buddhisten, Muslime, Christen, um nur einige zu nennen; Leute mit heller, brauner und dunkler Haut; Jegliche Gesichtsformen und Kleidungen mit verschwenderischer Vielfalt. Ein Subkontinent, der vollumfänglich unter die Haut geht. Man kann diesen grossen Flecken Erde lieben oder hassen, niemals aber ignorieren. Ein äusserst schwieriges Reiseland – und trotzdem kommen die Globetrotter immer wieder zurück. Hier auf diesem Pflaster kann der Individualtraveller seine Meisterprüfung ablegen. Ich nehme es gleich vorweg: Am besten legst du bei der Ankunft alle westlichen Massstäbe ab und gehst in die mentale Kampfposition. Andernfalls wird dir jeder Tag in Indien zur Qual und du verfluchst bald einmal alles. Dazu gehören auch Gewohnheiten und Vorlieben. Der englische Spruch "When in Rome, do as the Romans do“, passt hier sehr gut; Aber bitte mit einer Messerspitze Vernunft. Gehe nie so weit wie die Einheimischen, welche sich aufgrund ihres angepassten Organismus alles erlauben können. Verwende zum Zähneputzen und Trinken vorsorglich Mineralwasser und konsumiere auch kein Eis. Goffi und Chai kannst du von jedem Strassenstand bedenkenlos güllern. Immodium, Aspirin und ein Breitband-Antibiotikum (Bactrim forte) hast du vorsorglich immer griffbereit im Daypack. Jetzt bist du für die Auseinandersetzung mit dem Scheisshaufen Gottes gewappnet.
Vorwort des Autors
Die nachfolgenden Reiseerlebnisse sind Informationen für Individualtraveller. Ich berichte über Vieles, das in offiziellen Reisehandbüchern zu kurz kommt oder nicht ausgesprochen werden darf. Ich spucke dir Tatsachen ins Gesicht. Bei diesem Report steckt der Ekel schon im Titel! Ich schreibe Berichte ohne den erhobenen Zeigefinger, bin aber von meinen Aussagen überzeugt. Das heisst noch lange nicht, dass du dich meiner Auffassung anschliessen musst. Es gibt immer verschiedene richtige Meinungen, Wahrheiten und Antworten. Mein Leserkreis erhält scharfkonturierte Eindrücke aus erster Hand. Ich bin schonungslos in der Analyse, schnörkellos in der Sprache. Ich veranstalte kein Kniggeseminar, lasse meine Hintergedanken rausrutschen. Der Report ist ungeeignet für ein sogenannt anständiges Publikum mit moralisierender Penetranz und Besserwisserei; die literarische Belastung hat sich in Testversuchen bei dieser Zielgruppe als zu stark erwiesen. Ich könnte meine Zunge auch in Honig tauchen, wenn ich das möchte. Aber wer kann verstehen, was ich sagen will, wenn ich es auf schöne Art tue? Wir sind hier nicht in einem Parlament. Deshalb nenne ich die Dinge beim Namen. Wer es dann noch immer nicht versteht, der will es einfach nicht. Gute Unterhaltung!
Erstberührung
Als ich aus dem Hotel in Chennai heraustrete bedrängen mich auf der Strasse elf arme Schlucker. Aber es ist der falsche Zeitpunkt, denn ich benötige keine Rasur, keine geputzten Schuhe, keine Fahrkarte, kein Mädchen, keine Massage, kein Zimmer, keine gefälschte Rolex, kein Marihuana, kein Kamagra, keine giftige Brillenschlange im Körbchen und auch kein Spendenfutter für den Tempelelefanten – einfach nichts. Worauf ich auf der Suche bin und wirklich Bedarf habe, ist eine indische SIM-Karte für mein mobiles Telefon. Diese Aktion wird in der Reise-Neuzeit ein wiederkehrendes Ritual, meine Ersthandlung nach der Ankunft in jedem Drittweltland, wo ich länger bleibe. Früher war das noch anders. Alle vier Wochen einen Dreiminuten-Anruf an Muttilein, um zu melden, dass ich noch am Leben bin und genügend saubere Unterwäsche im Rucksack habe; gelegentlich mal eine Postkarte.
Dank dem kurzen periodischen Beruhigungstelefon, hatte ich nach der Rückkehr Zuhause mehr als genug zu erzählen. Heute sind die Zeiten anders. Wegen der elektronischen Hundeleine kennen viele Angehörige die gesamte Reisestory ihrer Lieben bereits vor der Rückkehr. Modern Times will ich mich nicht ganz verschliessen. Mein Cellularphone benutze ich dosiert und greife mit Vorliebe auf SMS und Email zurück. Überhaupt schreibe oder simse ich lieber, als dass ich telefoniere. Doch wir leben in einer digitalen Zeit und da haben Eigenbrötler in der Gesellschaft wenig Chancen. Kommunikationswahn, Erreichbarkeitswahn, Anwesenheitswahn, Informationswahn - die Lösung heisst nicht digitale Diät, aber umso mehr deren massvolle Benutzung. Das Leben mit Web ist genauso wenig falsch, krank und unnatürlich, wie ein Leben ausserhalb, heutzutage nicht das wahre, gesunde, natürliche sein kann.
Ebenso ist für mich die Definition von Alter nicht eine Frage von aufgeleierten Lebensjahren. Leute sind dann alt, wenn sie nicht mit der Zeit gehen. Hohe Achtung habe ich vor Senioren, die sich im vorgerückten Rentenalter mit digitalen Belangen befassen; beispielsweise einen Internetkurs belegen, sich einen Laptop anschaffen oder auf andere Art neue Projekte anreissen und sich dem Zeitgeist nicht verschliessen. Enorm jung war auch der 75-jährige pensionierte Staatsanwalt aus der Zentralschweiz, der mich vorletztes Jahr eine Weile als Fusspilger auf dem Jakobsweg in Frankreich und Spanien begleitete und dann schnellen Schrittes vor mir den Horizont nach Santiago de Compostela anpeilte. Vor solchen Leuten ziehe ich meinen Hut - forever young!
Ich laufe ein paar Meter und winke eine schwarz-gelbe Auto-Rikshaw herbei. Es handelt sich um jene praktischen, motorisierten und überdachten Dreiradfahrzeuge, die sich ihrer geringen Grösse wegen gut durch den chaotischen Verkehr in Indiens Städten bewegen können. Nebst dem Fahrer haben hinten bis zu vier unterernährte Inder oder zwei vollgefressene Westler mit Gepäck Platz. Nur mit einem Motorrad ist man hier noch schneller. Telefonshop und SIM-Card versteht der Fahrer, wiegt seinen Kopf und fährt unter lautem Geknatter los, nachdem ich ohne viel Aufwand den Preis mit ihm fixiert habe. Das geht ja verdächtig schnell. Nach hundert Meter macht er einen U-Turn und fährt zurück an den Ausgangspunkt und zeigt lächelnd auf den Telefonshop, der sich gleich neben unserer Hotelausfahrt befindet. "Sir, thirty Rupies please!" Mir klappt die Kinnlade runter. Für dreissig Rupien hätte er mich um die halbe Stadt karren müssen. Ich bin zum x-ten Mal in Indien und bereits in den ersten Stunden von einem Rikshaw-Walla arglistig beschissen worden.. Ich bin nicht sauer, nein, ich muss lachen über so viel Unverfrorenheit und Impertinenz. Es ist ihm wahrlich gelungen mich zu täuschen. Herr, was bin ich sowas von blöd! Der tägliche Kampf mit dieser ewigen Abreisser- und Bescheisser-Mentalität nimmt seinen Anfang. Well, so good, so far.
Ich bin bereit für einen zweimonatigen Combat. Ich traue hier in diesem Lande seit Ewigkeiten keinem männlichen Zweibeiner, Knaben ab Grundschulalter eingeschlossen. Eine Nation voller Schlitzohren. Der früher oft benutzte Satz Du lügst wie ein Bengale, trägt mehr als nur einen Funken Wahrheit in sich. In diesem Land ist es besser auf seinen Verstand als auf sein Herz zu hören. Andernfalls wirst du mit wiederkehrender Regelmässigkeit übers Ohr gehauen. Allein die Schärfe ihres Blicks, das Starren, die Hast und Hektik ihrer Bewegungen und ihrer Sprache, das permanente Drängeln, Fordern, Vorprellen, Dazwischenfahren ist für uns eine echte Herausforderung. Bevor du zum Fahrstuhl raus bist, drängen sich schon fünf rein und pöbeln dich an. Die Bandbreite der Betrachtungen geht hier vom neugierigen Beäugen bis zum penetranten Anstarren. Für Leute mit Verfolgungswahn ist Indien das falsche Pflaster. Unser westlicher, kultureller Hintergrund macht es nicht einfach, Indien zu verstehen. Augen erspähen und verfolgen dich, wohin du auch gehst. Du bist ein roter Hund, hast keine Privatsphäre und wirst zum Allgemeingut. Alleinsein kannst du in Indien nur im Kopf.
Leidenszeit
Trotzdem komme ich als passionierter Masochist seit vier Jahrzehnten immer wieder in diesen Schmelztiegel um zu leiden und meine Nerven kaputtzumachen. Zugestanden, das Land hat etwas Bizarres und Faszinierendes, eine interessante Geschichte, eine einzigartige Kultur, gigantische Bauten wie Tempel und Paläste von unbeschreiblicher Schönheit, in gewissen Regionen attraktive Landschaften, graziöse Frauen (Rajasthan - ich komme wieder, immer wieder!), rauschende Feste, dankbare Fotoobjekte, ein von britischen Ingenieuren geschaffenes, landesweites Eisenbahnnetz, brauchbare Strassen, Busverbindungen ins hinterste Kaff und ein Sättigungspotenzial, dass ich mich nach spätestens zwei Monaten abschütteln lasse und aus dem Lande Mahatma Gandhi abhaue, um mich in Südostasien bei verträglicheren Mentalitäten und anderer Kost zu erholen.
Anders verhält sich das Gebaren der indischen Frau. Es steht stark im Einklang mit ihrer Herkunft und der Zugehörigkeit zur Kaste und Religion. Am aufgeschlossensten sind die Christinnen. An zweiter Stelle folgen die Hindus und zuletzt die Muslime. Eine spezielle Gattung für sich bilden die modernen und selbstsicheren Frauen aus Mumbai, die an den Stränden von Goa knappe Shorts tragen und Alkohol trinken; unisono Girls aus bessergestellten Familien und höheren Kasten. Da bleibt nichts mehr übrig von der Hingabe, wenn indische Frauen im Sari beide Hände vor der Brust falten, sich leicht nach vorne beugen und mit einem Lächeln im Gesicht den Gruss Namaste aussprechen und fragen "Gebieter, was wünschst du?". Oftmals sind Inderinnen gute und erfolgreiche Geschäftsfrauen, niemals aber so penetrant aufdringlich und ungehobelt wie ihre Männer. Ein reines Frauenindien wäre für den Reisenden ein besseres Indien. Aber wären die Inderinnen selbst damit einverstanden?
Bundeshauptstadt von Tamil Nadu
Chennai ist ein Viermillionen Drecksnest in Südindien, früher Madras genannt, und da beginnt meine Reise. Hier ist jeder Atemzug ein zorniger kleiner Sieg. Der Lärm und die Luftverpestung dieser Metropole sind ungeheuerlich. Bereits nach kurzer Zeit kratzt mich der Hals. Mit noch so viel Mühe ist es schwierig, etwas Positives über Chennai zu berichten. Die Strassen sind verstopft, das Wetter drückend und heiss, und interessante Sehenswürdigkeiten gibt es nicht wirklich. Die Stadt ist primär ein Verkehrsknotenpunkt. Wichtige Verbindungen von Strassen, Schienen und Airlines treffen hier zusammen. Chennai ist auch Ausgangsbasis um auf die Trauminselkette der Andamanen zu gelangen.
Die Stadt gilt als Südindiens Zentrum von Tanz und Musik. In der ansässigen Filmfabrik werden Illusionen und Sehnsüchte für Millionen befriedigt. In den Produktionsorten im westlich gelegenen Stadtteil Kodambakkam geht es um Herz und Schmerz, glutäugige Helden und hingebungsvolle Geliebte; kurz gesagt, um das geheime Reservoir an Kitsch und Schmacht, das sich hervorragend für die prächtige Inszenierung auf der Leinwand eignet. Allerdings werden die bis zu 100 Filme im Jahr auf Tamil gesprochen, der offiziellen Sprache im Bundesland Tamil Nadu. Den Nachwuchs für ihre Scheingefechte und Formationstänze bekommt die Filmindustrie aus den Kunstschulen, privaten Gesellschaften und der Akademie. Das Stadtviertel weist auch eine hohe Konzentration von Strip-Clubs, Erwachsenentheater, Karaokebars und Bordellen auf.
Definitionen haben keinen Platz in Chennai und allein die Frage nach dem Zentrum seiner Stadt, beantwortet jeder Einwohner anders. Ist das eigene Stadtviertel der Mittelpunkt der urbanen Welt oder die St.-Thomas-Basilika? Markiert die mehrspurige Autobahn oder das Gerichtsgebäude im Zuckerbäckerstil den Kern des alten Madras? Ist es das Gebiet rund um den Bahnhof Edmore? Tatsache ist, dass die südindische Stadt für Millionen von Menschen zur Heimat geworden ist. Ihre Träume sind so unterschiedlich wie die Kasten und Kulturen, deren Traditionen die Bewohner der expandierenden Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu bis heute pflegen.
Die Kolonialisierung von Madras begann im 17. Jahrhundert. Damals erkannten Mitglieder der Britischen Ost-Indien-Kompanie die gute Lage des Fischerdorfes Madraspatnam an der Koromandelküste. Von hier aus wurde bereits in vorchristlicher Zeit Handel getrieben: Chinesen, Phönizier, Griechen, Römer, Franzosen, Armenier und Araber nutzten seitdem den flachen Küstenbereich, um ihre Waren in den südostasiatischen Raum zu verschiffen. Im 16. Jahrhundert errichteten die Portugiesen ein Fort, 100 Jahre später kamen die Niederländer und schliesslich die Briten, die mit dem Fort St. Georg den Grundstein für das heutige Chennai legten. Mit dem Tuchhandel wuchs die Siedlung und verleibte sich nach und nach die umliegenden Orte ein. Mylapore etwa oder Triplicane blicken auf eine viel längere Geschichte zurück.
Chennai ist ein Treffpunkt der Kasten und Kulturen. Die Bewohner jener alten, gewachsenen Stadtteile, die meist um Tempel und grosse Wasserbassins herum entstehen, bleiben ihren Vierteln treu. In die neuen Bezirke strömen die Zuwanderer vom Land und bringen ihre Sprachen und Eigenheiten mit, halten fest an ihren Gewohnheiten und Kochkünsten. Den Stadtteil Sowkarpet bevorzugen Leute aus Rajasthan, Menschen aus Westbengalen finden in Besant Nagar zusammen, Mitglieder der Nadar-Kaste lassen sich um die Bahnhöfe nieder. Neuankömmlinge erleben eine gewisse Solidarität. Wenn ein Nadar dazu stösst, kauft er Reis, Kleidung oder was auch immer, in dem Laden eines anderen Nadars. Umgekehrt hilft seine Kaste dem Zuwanderer, wenn nötig beim Aufbau eines eigenen Geschäftes. Auch Chennais Ureinwohner, die Fischer, pflegen ihre Identität und achten bis heute darauf, ihre Kinder nur innerhalb ihrer Kaste und Religion zu verheiraten.
Searching SIM-Card
Mit einer indischen SIM-Card schlage ich den hohen westlichen Roaminggebühren ein Schnippchen und kann mit meinem Umfeld im Westen und in Südostasien für einen Pappenstil wichtige Kontakte unterhalten. Leute mit Billignummern und Billig-Telefonkarten können mich direkt in Indien auf dem mobilen Telefon erreichen. Zur Regelung benötigt der Tourist eine Kopie seines Reisepasses inkl. Visa und eine farbige Passfoto. Die Erledigung in einem Shop dauert nicht länger als zehn Minuten, sofern sich kein einheimischer Frechdachs vordrängt – und die gibt es hier zuhauf. Den Vordrängler heble ich mit meinem rechten Arm und den Worten "Verpiss dich!" vom Ladentisch. Natürlich versteht der Unflat kein Schweizerdeutsch, aber sinngemäss schnallt er bestens, dass er bei Swami Pitcairn zu weit gegangen ist.
Im Ausland bin ich Gast und trete allen mit dem nötigen Respekt und Verständnis gegenüber. Ich behandle Menschen gewöhnlich so, wie ich selber gerne von ihnen behandelt werden möchte. In Indien kommst du mit dieser Philosophie nicht weiter. Die Leute sind hier recht barsch zueinander - N.B. auch gegenüber Touristen. Mit einem herrisch neokolonialen Auftreten gelingt es, die ungehobelten Fritzen in den Senkel zu stellen und Oberhand zu gewinnen. Hier beanspruche ich den Sahib-Status.
Die SIM-Karte kostet umgerechnet keinen ganzen Schweizerfranken. Ich gönne mir eine Load von Rs 1‘000. Damit kann ich schon etwas Gescheites anfangen, selbst eine Weile interkontinentale Gespräche führen und unzählige SMS weltweit versenden. "Onethousand Rupies, Sir, are you really sure?“, fragt mich der Mann ungläubig hinter dem Verkaufstresen noch einmal. "Yeah, you gonna put a load of onethousand bucks, that’s all right man“, bestätige ich noch einmal und knalle ihm zur Beruhigung einen Tausender auf den Ladentisch. Sobald das Welcome-SMS von Airtel eingetroffen ist, geht es um die Prepaid-Load. Für den geneigten Indientraveller ist ergänzend zu präzisieren, dass mit Charge hier die Akkuaufladung des Mobilephones und mit Load die Gesprächsguthaben gemeint sind. Das gilt übrigens für ganz Asien. Bedient man sich dieser Ausdrücke, gibt es weniger Missverständnisse. Nun bin ich als Airtel-Customer erfolgreich dem indischen Mobil-Telefonnetz angeschlossen. Es geht nicht lange, da kommen die ersten Werbe-SMS rein. Wer die Mitteilungen nicht ignoriert und auf Fragen antwortet, verursacht Kosten – das muss der budgetbewusste Tourist wissen. Ansonsten darf man sich über solche SMS nicht nerven. Das ist hier völlig normal und nicht anders als zum Beispiel in Thailand.
Arrival
Seit ein paar Stunden bin ich jetzt in dieser Stadt. Vergeblich halte ich beim Flughafen-Arrival nach meinem Namensschild Ausschau. Das Hotel der unteren Mittelklasse hat seine Zimmer und Dienstleistungen per Internet angeboten. Vereinbart ist, meinen Reisekumpel und mich am Airport mit dem Hotelvan abzuholen. Doch nach der Landung herrscht gähnende Leere, kein müdes Schwein erscheint. Nirgendwo ist ein hochgehaltenes Schildchen mit meinem vermutungsweise falsch geschriebenem Namen ausfindig zu machen. Nach langem Suchen, Geldwechseln, Eindecken mit Trinkwasser, schaue ich mich selber nach einem geeigneten Transportmittel um. Wir sind am frühen Morgen angekommen und haben keinen Grund zur Eile. In der Nacht oder bei schlechtem Wetter nutzen die Taxifahrer die besondere Situation ergiebig aus und verlangen um 25% höhere Preise. Jetzt bin ich am längeren Drücker. Um findig zu werden, muss ich Kohorten von Nepper und Schlepper überwinden, bis ich mit schwerem Gepäck auf der Zufahrtsstrasse zum Flughafen stehe.
Welcome to Chennai Airport steht in überdimensionalen Lettern an der Gebäudefront geschrieben und gleich daneben, in nicht eben kleinerer Schrift, ISO 9001 Certified. Da hat die Airport Authority of India die Prozesse wohl nur bis zum Baggage Claim überprüfen lassen. Bist du mal zum Gate raus, kümmert sich kein Schwein mehr um das Wohl der Reisenden. Da stehst du dann einsam und verlassen im richtigen Indien. Nach zehn Minuten Verhandeln und mehrmaligem Weglaufen, habe ich einen Schlepper mental weichgeknüttelt und einen halbwegs marktgerechten Preis auf Einheimischen-Niveau fixiert. Mich überkommt das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein, als wir in einem antiquierten Hindustan Ambassador, nachgerüstet mit Sicherheitsgurten, der Unterkunft entgegen holpern. Das Auto wurde einst "Der König der indischen Strassen" genannt. Erinnerungen an die 1970er-Jahre in Rangoon werden in mir wach. Der Bruder einer Brieffreundin von mir fuhr eine solche Kiste und wir machten Ausflüge im Umkreis der Stadt. Ich konnte nie lange herumreisen - ein Visum gab es damals nur für sieben Tage. Trotzdem war es eine gute Zeit und Touristenschweine waren fast nicht auszumachen. Morgens um 6.00 Uhr war Shwedagon ganz in meinem alleinigen Besitz. Doch das ist lange vorbei. Pitcairn, vergiss die Nostalgie! Du tust gut daran, dich auf das Heute, Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Im Hotel angekommen, ist zumindest die Zimmerreservation vorgemerkt. Wegen dem fehlgegangenem Abholservice erwähne ich nichts, zumal der selbstorganisierte Transfer weniger gekostet hat. Ich erinnere vorsorglich erneut, dass mein Reisekollege und ich ein Zimmer mit zwei separaten Betten benötigen, wie im Email erwähnt und vom Hotel rückbestätigt worden ist.
"No problem, Sir", äussert sich die Rezeptionistin mit niedergeschlagenen Augen. Sogenannte anständige Frauen schauen in Indien einem fremden Manne nie direkt ins Gesicht. Wenn sie es trotzdem tun, sind es meist Prostituierte und die erkennt man am knallroten Lippenstift und der speziell farbigen Kleidung. "Das Zimmer ist noch nicht hergerichtet und ihr müsst warten", gibt sie uns zu verstehen. Nach einer halben Stunde dränge ich darauf, zumindest die Anmeldeformalitäten zu regeln. Die sind in Indien nicht unerheblich und viel umfassender als in anderen Ländern. Selbst der Pass und das Visum werden fotokopiert. Kleinere Hotels senden einen Laufjungen ins nächste Kopierzentrum, wenn kein eigenes Gerät vorhanden ist. Doch es ist nicht jedermanns Sache, wenn in einer schäbigen Absteige jemand mit deinem Pass abschleicht. Willst du das nicht, erstellst du vor der Reise selber eine Reihe von Kopien. Das Einschreiben wird peinlich genau vorgenommen und der Tourist muss ein paar Mal unterzeichnen; selbst wenn er anderntags wieder aus dem Hotel auscheckt und die Rechnung zum Voraus bezahlt hat. Ohne Austrittssignatur darf dir in einem indischen Hotel kein Portier die Türe aufmachen. Anschliessend schleppt der Roomboy meinen Rucksack ins vorgesehene Zimmer in die dritte Etage – natürlich, wie könnte es anders sein, mit einem Doppelbett. Ich bin keine Schwuchtel und möchte mit meinem Reisekumpel auch nicht unbedingt im gleichen Bett kuscheln. Ich sitze zehn Minuten auf der Treppe, bis der Tamile mit einem anderen Zimmerschlüssel anrückt. Das kleine Zimmer mit zwei Einzelbetten ohne Fenster, mit Ventilator und AC, westlicher Toilette und einer verkalkten Dusche ohne Wasserdruck, erfüllt für Rs 900 unsere Ansprüche.
Extreme Gegensätze
Indien besitzt eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Trotzdem profitiert der grösste Teil der Bevölkerung kaum von dieser Boomphase. Zum Land gehört eine soziale Vielfalt, die vom besitzlosen Bauer in Bihar zum Atomphysiker in Delhi, über den reichen Weizenbauern im Pandschab bis zum Direktor einer Maschinenfabrik in Maharashtra reicht. Ein schillerndes Land, das von uralten Traditionen lebt und bereits in seiner High-Tech-Zukunft angekommen ist. Indien ist ein Land der extremen Gegensätze und einer sehr komplizierten Mischung von Menschen, Sprachen und Dialekten. Ein einheitlicher roter Faden zieht sich allerdings durch alles hindurch: die Religion.
Ein weiteres Bindeglied ist die Familie. Für die meisten Inder ist es nahezu unvorstellbar, Mitte Dreissig noch nicht verheiratet zu sein und keine Kinder zu haben. Eheschliessungen werden oft von den Eltern arrangiert und sind nicht zuletzt auch eine Zweckverbindung um vorhandenes Vermögen zu halten oder zu mehren. Bei Frauen geht es auch um die soziale Absicherung. Sympathie, Zuneigung oder sogar Liebe, darf sich nachrangig entwickeln. Einige Inderinnen, die in Gästehäusern arbeiten und den unteren Kasten angehören, erwähnten mir gegenüber, dass sie ihren Ehemann selber gefunden haben. Ehepartner werden von jüngeren Generationen zunehmend in den einschlägigen Webseiten evaluiert. Trotzdem gibt es noch einen konventionellen Inseratemarkt in der Tagespresse. Ich erinnere mich an das Inserat einer Inderin, die ihrem Wunschprinzen die einzige Auflage machte, sich täglich sauber zu rasieren. Diese einfache Hürde kann selbst eine Vielzahl westlicher Touristen nicht überwinden. Sie finden es lässig und angepasst, wie weiland 1970 in schmutzigen, zerlumpten Kleidern, fettigen Haaren und Stoppelbart im Lande herumzugammeln.
Sicherheit
Indien klingt nach Fremde, Abenteuer, Gefahr und Ferne. Ich habe als Male Traveller Indien immer als relativ sicheres Reiseland wahrgenommen. Nie hatte ich Bedenken, nachts alleine herumzulaufen, nie wurde mir etwas geklaut. Hier herrschen keine zentral- und südamerikanischen Verhältnisse. Selbst in den endlosen Weiten des sonst friedlichen Südpazifiks waren meine T-Shirts auf der Wäschleine nicht immer sicher. In Indien sind mir Überfälle auf Touristen zu Ohren gekommen, die alleine in abgelegenen Regionen des Kaschmirs unterwegs waren und sich keinem offiziellen Tourguide anvertrauten. Da wurde später, vereinzelt die eine oder andere Leiche mit leeren Taschen gefunden. Aus meiner Sicht ist dies der falsche Weg, ein paar Rupien einzusparen. Viel besser tun sich Alleinreisende mit anderen zusammen und teilen sich die Kosten eines amtlich registrierten Führers. Das bedingt oft im Routing eine gewisse Kompromissbereitschaft, aber ein vernünftiges Sicherheitsdispositiv muss vorgehen. Ein weiterer Fall eines deutschen Trekkers ist mir kürzlich bekannt geworden. Zuerst bestand nachrichtenlose Abwesenheit, dann folgten erpresserische Geldforderungen der Entführer. Nach drei Monaten wurde der Mann enthauptet in einem Gletschergebiet aufgefunden. Im Kaschmir gibt es noch immer politisch motivierte Entführungsfälle. Es ist jedem Reisenden selber überlassen, ob er in solche Regionen vorstossen will. Das heisst aber noch lange nicht, dass du dich deswegen abschrecken lässt und generell zuhause eine dieser furchtbaren Gruppenreisen buchen sollst. (Siehe separate Rubrik).
Verschiedene politisch motivierte Attentate forderten in den letzten Jahren zahlreiche Tote und Verletzte. Die terroristischen Angriffe in Mumbai vom 26. bis 29. November 2008 richteten sich erstmals auch gezielt gegen Ausländer. Am 13. Februar 2010 wurde in Pune ein Anschlag auf ein Bäckerei-Café verübt, das bei Ausländern beliebt ist. Seither haben weitere Anschläge Todesopfer und Verletzte gefordert, unter anderem am 7. September 2011 beim Delhi High Court und auf einem Markt in Hyderabad im Februar 2013. Trotz erhöhter Sicherheitsmassnahmen ist im ganzen Land mit weiteren Anschlägen zu rechnen, besonders in den Grossstädten und Touristenorten. Vor allem im Umfeld von öffentlichen Transportmitteln (z.B. Züge, Bahnhöfe, Flughäfen), grossen Menschenansammlungen, religiösen Stätten, auf Märkten, in Hotels und Restaurants ist erhöhte Vorsicht und risikobewusstes Verhalten angezeigt.
Frauenhölle?
Alleinreisende, jüngere Frauen, sind in neuerer Zeit Opfer von Vergewaltigungen geworden. Überall werden sie von Männern mit Blicken aus einer Mischung von Skepsis und Erregung verfolgt. Die Rollenverteilung ist gesetzt. Du fotografierst eine Sehenswürdigkeit, die Inder fotografieren ungefragt dich: "Madame, photo pleeease!" Zur Abhilfe solltest du diese wenigen Worte lernen: "Muje akela chordo!" - Lassen Sie mich in Ruhe! Wenn du an Busbahnhöfen aussteigst, bist du von aufdringlichen Touranbietern und Rikshaw-Fahrern umringt. Mädchen! - gucke Männern nie direkt in die Augen, lächle nie - das wird hierzulande von der Männerwelt direkt als sexuelle Aufforderung verstanden. Eine anständige indische Frau spricht hierzulande nicht einmal mit einem fremden Mann. Sonst musst du deinen Schlüpfer mit beiden Händen gut festhalten. Wiederkehrend kommt es ohnehin vor, dass dir Männer an den Hintern oder an die Brüste fassen. Versuche Nachtfahrten zu meiden oder zumindest nicht die Verkehrsmittel morgens um 3 Uhr zu wechseln.
Verbotene Nähe suchen sich indische Männer auch im Gedränge öffentlicher Verkehrsmittel um sich an den Frauen zu reiben. Das ist der Grund, weshalb die staatliche Eisenbahngesellschaft - INDIAN RAILWAY (IRY) - spezielle Frauenwagen in den Zugskompositionen führt. Es kann sein, dass dir ein Rikshaw-Fahrer den Rucksack ungefragt quer durch den Busbahnhof schleppt; meist in guter Absicht, aber halt nicht immer. Es ist besser, wenn du für längere Fahrten Zweckgemeinschaften mit anderen Touristen bildest, die du vielleicht im Hotel kennengelernt hast. Nach Einbruch der Dunkelheit schliesst du dich mit anderen Westlern zusammen, um gemeinsam Abend zu essen. Das ist nicht nur sicherer, sondern macht auch mehr Spass.
Ausgerechnet dem Land, das seine Tollereien mit dem Kamasutra als erstes zu Papier brachte, mangelt es heute beträchtlich an Fantasie. Vieles, was mit Sex zu tun hat, ist tabu. Während Indien wächst, sich entwickelt und modernisiert, bleibt es auf diesem Gebiet erschreckend altmodisch. Und die konservative Welt, in der die jungen Inder aufwachsen, kontrastiert lebhaft mit den Bildern, die ihnen über Internet, Kino und Werbeindustrie vermittelt werden. Besonders schlimm steht es um das Frauenbild: Westliche Frauen gelten seit langem als freizügig und frivol, doch auch die indische Frau ist in neueren Bollywoodstreifen und indischen Medien meist kaum mehr als ein reines Sexobjekt.
Ein eherner Keuschheitsgürtel umschliesst das Land. In sexueller Hinsicht ist Indien eines der verkorksten Länder auf dem gesamten Globus. Ich realisiere indische Männer als sexuell völlig verklemmte Kreaturen. Männer sehen ihre eigenen Frauen oft nicht einmal nach der Hochzeit vollständig nackt. Alles läuft im Dunkeln ab.
Mittlerweile habe ich auch herausgefunden, weshalb die Cyber-Cafés ihre Kunden mit überdimensionalen Zwischenwänden und Vorhängen oder sogar in separaten Kabinen abgrenzen. Ich komme mir in diesen Kisten immer wie Bud Spencer im Beichtstuhl vor (Film: Vier Fäuste für ein Halleluja). Einmal richtig durchatmen, und dann fliegt der ganze Bretterverschlag auseinander. Wer die einschlägigen URLs im ungeleerten Browser-Cache des vorgängigen Kunden sichtet, weiss Bescheid.
Mädchen, ich rate dir eine gewisse Grundskepsis zu erhalten. Ich weigere mich, Indien als Frauenhölle zu bezeichnen; doch das Reisen in männlicher Gesellschaft dürfte sich für Frauen als praktischer und sicherer erweisen. Die Grossnation hat etwas ChamäGesperrter-Doppelaccountnhaftes. Häufiger als in anderen Ländern, weisst du selbst als erfahrener Traveller nicht, ob es sich um eine harmlose Situation handelt oder ob du dich besser schnellstens ins Hotel zurückziehst. Mit Rücksicht aufs Bauchgefühl - und darin sind die Frauen stark - wird man Indien von seiner einzigartigen, schönen und unbeschreiblichen Seite erleben.
Ursünde
Als Mitglied des Sachverständigenrates der World-Backpacker-Association, weise ich auf Reiseunsitten sowie auf die Todsünde Gruppenreise hin )). Im Brustton tiefster Überzeugung rate ich dir davon ab. Du wirst zu Gepäck degradiert. Wenn du nicht auf eigene Faust reist, lernst du ein Gastland nie von der authentischen Seite kennen. Du begehst die Ursünde des Reisens. Angeführt von einem Fähnchen tragenden Guide, der dir permanent ein Ohr abkaut, bewegst du dich im Rudel durch die Welt, wirst nicht verzaubert, erreichst die Quelle des Ganges und bist mental trotzdem noch in Westeuropa. Da kannst du gleich zuhause einen Dokumentarfilm in den DVD-Player schieben und eine Bauernbratwurst mit Kartoffelsalat mampfen. Gruppenreisen sind gleichbedeutend mit Bevormundung, gefilterten Informationen, gestellten Besuchen, normierten Aktivitäten, fehlende Flexibilität, wenig Direktkontakte, höhere Kosten. Von der Situationsdramatik nimmst du nichts mehr wahr. Schliesslich hast du mehr bezahlt und da soll sich gefälligst der Reiseleiter alleine Sorgen machen. Dir wird ein völlig verzerrtes Landesbild vorgesetzt. Zu guter Letzt glaubst du noch die ganze Kacke und denkst, die Mentalität der Leute entspreche der des Hotelpersonals im 4-Sterne-Hotel. Die permanent gute Dauerlaune des trinkgeldgeilen Reiseleiters, der wie ein Dampfhammer künstlich auf dich einlacht, ist auf Dauer nicht auszuhalten.
Wenn du Pech hast, findest du dich wieder in einer Gruppe von Angsthasen, Outsidern, Weltverbesserer, Ökofuzzies und Biedermännern. Einige machen auf eine Mischung von Truckdriver und erfolglosem Schlagersänger. Mit Safarihemd, Schulterpatten, Tropenhelm oder Che-Guevara-Kappe, wollen sie sich als Traveller legitimieren. Ein Drittel der Touris ist behindert, manchmal ist es auch die Hälfte; das hängt vom Wetter ab. Eine solche Gruppe kann Schrecken und Atemlähmung auslösen. Als erfahrener Insider nehme ich die Deutungshoheit in Anspruch und rate dir vehement von einer Gruppenreise ab. Ein solcher Trip ist an Schrecklichkeit nicht mehr zu überbieten. Krähen fliegen in Schwärmen, ein Adler fliegt allein!
Essen
In Indien ist die Küche ein Raum mit beschränktem Zutritt und gilt in vielen Familien als Refugium der Frau. Darin dürfen, wie bei einem Tempelbesuch, keine Schuhe getragen werden. Männer kochen in der Regel nur in Restaurants, Hotels und im Militär. Gegessen wird weitgehend vegetarisch. Fleisch gibt es nur in speziellen Lokalen; sie sind alle mit Non-Veg bezeichnet. Allerdings essen die Hindus kein Kuhfleisch und die Muslime kein Schweinefleisch. Dies bewog die internationale Fast-Food-Kette McDonald's, in Indien nicht den weltweit standardisierten Big Mac, sondern einen aus Schaffleisch bereiteten Muttonburger anzubieten. Trotz diesem Kompromiss, bevorzugen die Inder vegetarisches Essen. Der Fast-Food-Riese sah sich gezwungen, unter anderem einen an den Landesgaumen angepassten Mc Veggie, sowie einen würzigen Chicken Maharaja Mac, auf den Menüplan zu setzen und diese in einer separaten Küche zuzubereiten.
Solche Konzessionen machen auf die streng vegetarischen Angehörigen der Jain-Religion keinen Eindruck. Sie dürfen weder Fleisch noch Fisch oder Eier essen. Für sie sind auch Gemüse, die unter der Erde wachsen, wie Zwiebeln, Rüben, Knoblauch, ungeniessbar. Strenge Jain verzichten sogar auf Kartoffeln und Tomaten. Ihr oberstes Gebot ist Ahimsa - die Nichtverletzung eines anderen Lebewesens. Sie dürfen nur bei Tageslicht essen, um ja keine Insekten - auch unbeabsichtigt - zu verschlucken.
In Indien besteht eine Mahlzeit aus einzelnen Gängen, deren Reihenfolge regional verschieden ist. Beispielsweise werden im südindischen Gliedstaat Tamil Nadu die Süssigkeiten vor der Hauptmahlzeit serviert und zum Abschluss des Essens Reis gereicht, was signalisiert, dass kein Gang mehr folgt. In den westlichen Gliedstaaten Maharashtra und Gujarat ist es gerade umgekehrt. Hier werden zuerst Salz, Pickels und Reis mit Linsen aufgetischt. Oft wird dabei dem salzhaltigen, gewürzten Gemüse noch Zucker beigemischt. Die meisten indischen Gewürze wurden ursprünglich ihrer Heilkräfte wegen und nicht allein zur Geschmacksverbesserung beigegeben: Gewürznelke und Kardamom wegen ihrer antiseptischen Wirkung, Ingwer gegen Blähungen und für gute Verdauung, Gelbwurz gegen Hautprobleme, Quetschungen und Prellungen. Nach beendeter Mahlzeit wird häufig Paan, ein dunkelgrünes Blatt mit verschiedenen verdauungsfördernden Ingredienzen, oder Anis mit Kristallzucker, serviert. Als westlicher Gourmet und Hobbykoch stelle ich in Indien immer wieder fest, dass mir die Küche spätestens nach zwei Wochen zum Halse raus hängt. Eigentlich mag ich den Geschmack von Masala (Currymischung) und zuhause bereite ich gelegentlich ein originalindisches Curry aus der Malabarküste oder ein Chicken Tandoori zu. Zwei mehrwöchige Kurse ermöglichten mir seinerzeit den Zugang zur aufwändigen indischen Küche; doch jeden Tag indisch essen, und allenfalls noch vegetarisch, schmeckt mir nicht. Als Antivegetarier und Fleischfresser bin ich überzeugt, dass ein mit Liebe verdrückter Hamburger gesünder ist als eine mit Verachtung gekaute Gemüsegurke mit Raita.
Meine halbe Heimat
Vielliebchen schickte ich in Warteposition auf die Philippinen - sie kann Indien, insbesondere das Essen dort, nicht ausstehen und wollte nicht mitkommen. Über Weihnachten verbrachte ich ein paar Tage in der Heimat bei meinem betagten Muttilein im Land der Schwarzmaler und Dauernörgler; doch jetzt muss ich wieder weg. Heimat hat etwas mit Erinnerung zu tun. Sie befindet sich für mich dort, wo Leute sind, die mir nahestehen. Meine Heimat besteht zu einer Hälfte aus der Schweiz und zur anderen, am ehesten vielleicht aus Thailand - nicht etwa die Philippinen, wie Aussenstehende denken könnten. Doch zwei Hälften ergeben nur in der Mathematik ein Ganzes. Richtig daheim fühle ich mich nirgendwo.
Was ist das typische Bild eines Ausländers von meiner halben Heimat Schweiz? Wenn du jemanden fragst, dann sagt er oft "Ich trinke Nestlé". Das ist für viele die Schweiz. Erst nachher kommt die Story von der Schokolade und der Armbanduhr.
Herr und Frau Schweizer wohnen seit 50 Jahren in der gleichen Strasse, im gleichen Mehrfamilienhaus, in der gleichen Etage und in der gleichen Wohnung. Kein Sonnenschirm mit Werbung auf dem Balkon, man darf nicht grillen und schon gar nicht schwarzen Rauch verursachen, nicht bei offenem Fenster Musik hören, nach 22 Uhr nicht mehr draussen sitzen und reden. Noch drei Meter unter der Erde hört der sensitive Schweizer einen Maulwurf kacken. Eigentlich darf man den Sommer gar nicht geniessen, wenn es nach dem Hausmeister geht. Bei der Ordnung in der Waschküche, versteht der Eidgenosse keinen Spass. Verstösse werden von aufrichtigen Bürgern der Verwaltung gemeldet.
Es ist eine Eigenart der Schweizer, sich mit Vorliebe mit anderer Leute Fehlerhaftigkeit zu beschäftigen und sie bei Dritten durchzuhächeln. Frau Schweizerin ist zwar charmant, vornehm bescheiden, aber hoffnungslos verstaubt bis schrecklich verkorkt. Herr Schweizer pustet in ein vier Meter langes Horn um Musik zu machen, wenn er traurig ist.
In der Tramway (Strassenbahn) sehen alle so aus, als seien sie gerade durch eine Prüfung gerasselt: Immer ein bisschen missmutig und leicht verzweifelt über sich selbst. Das Lächeln der Schweizer ist unentschlossen, ihre Gesten kraftlos, und manche sehen aus, als seien sie müde geboren und lebenslang von Fehlschlägen gepeinigt. Obwohl es schier unmöglich ist, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, kann man in ihren Gesichtern viel lesen, besonders in denen, die um keinen Preis etwas entschleiern möchten und durch ihr Gegenüber hindurchstarren. Umso überraschender ist ihre Offenheit im Fernsehen, wo alle hektisch aufeinander einreden. Manchmal versteht man minutenlang kein Wort. Da werden ganz intime Dinge erörtert, die Arbeitsteilung im Haushalt, die Lieblingsstellung im Bett oder der private Alkoholkonsum. Niemand bekommt rote Ohren, alle sprechen sehr ernsthaft, und nur ganz selten wird gelacht.
In urbanen Regionen möchte der Schweizer lieber jemand anders sein. Deshalb reden sie so peinliche Phrasen wie, "Also morgen, same time, same place."
Wie zwischen Mord und Totschlag wird zwischen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung unterschieden. Nirgendwo sonst in der Welt wirst du am Flughafen mit einem grossen Plakat eines teuren Bordells namens Aphrodisia begrüsst. Edelnutten, das sind Zürichs wahre Sehenswürdigkeiten. Ich kenne Geschäftsleute, die innerlich jubeln, wenn Sitzungen in Zürich stattfinden. Denn anders als in Paris, werden sie von ihren Ehefrauen nicht begleitet, da Zürich als bieder gilt. So haben die Männer freie Hand.
Die Schweizer machen ihr Land kleiner als es ist. Dabei ist die CH gleich gross wie die Bundesrepublik Deutschland - man muss sie nur etwas glattbügeln. Proportional zur Entfernung von der Heimat nimmt der Patriotismus zu. Der Schweizer - eine Mischung zwischen Minderwertigkeitskomplex und Grössenwahn. Die Schweiz - eine Nation, die sich um Luxusprobleme kümmert.
Approaching India
Reset - zurück zur Reise. Wir starten pünktlich um 14.40 Uhr in Zürich-Kloten mit Emirates Richtung Dubai. Wie immer habe ich mir einen Ile-Seat in der Zweier-Reihe hinten im schmäler werdenden Rumpf des Airbus A320 reserviert; da ist das Lavatory auch nicht weit. Angenehm ist mir sonst auch ein Sitz beim Emergency-Exit. So kann ich meine langen Beine ausstrecken, ohne dass jemand darüber stolpert. Mein eigenwilliger Reisekumpel hat sein Ticket selber gebucht und einen anderen Platz ein paar Reihen vor mir erhalten. Neben mir am Fenster sitzt ein Schweizer, der sich später als Hugo (Name geändert) aus Sargans vorstellen wird. Er fliegt nach Manila, um den Bau seines Appartementhochhauses mit 50 Stockwerken im Stadtteil Malate zu überwachen, . Dass ein so betuchter Mann in der Economy fliegt, kommt mir etwas suspekt vor. Der Wolkenkratzer befindet sich ganz in der Nähe des Robinson Shopping Centers, Nähe Pedro Gil an der J. Bocabo Street, eine Gegend, wo ich mich seit Präsident Ferdinand Marcos Zeiten gut auskenne. Sofort macht er mir ein Kondominium schmackhaft und bietet es mir zum Kauf an. Für Outsider sei speziell darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Bezeichnung nicht um ein von Vatikan-Franze genehmigtes, neues philippinisches Kondomprodukt handelt, sondern vielmehr um Stadtwohnungen; obschon solche Gummitüten in den Quartieren Ermita und Malate selbst in der heutigen Zeit beste Dienste leisten könnten. Seine Holde hat er vor drei Jahren in der CH durch Scheidung entsorgt und seither geniesst er das Leben in vollen Zügen. Er schwärmt von den philippinischen Frauen und ich pflichte ihm bei. Mit Sicherheit meinen wir beide aber nicht die gleiche Kategorie, denn eine anständige Frau aus diesem Lande zieht vor der Verehelichung niemals mit einem Mann alleine um die Häuser, trinkt Bier und lässt sich im Hotelzimmer flach legen.
Viele seiner Aussagen kommen etwas suspekt daher, doch ich lasse ihn reden und bestelle mir bei der fliegenden Serviertochter noch ein weiteres Glas Rotwein aus dem Nappa Valley. Es handelt sich um einen gefälligen, nicht ausgebauten Cabernet Sauvignon aus Kalifornien mit schlankem Abgang. Zu meiner Enttäuschung serviert der Maître de cabin den Wein und nicht die nette Göre von vorher; ich wollte doch noch ein wenig schäkern. Ich schwatze trotzdem ein paar Takte mit dem Mann arabischer Provenienz und lobe aufrichtig und zu Recht, den bekömmlichen Rotwein von Emirates Airlines. Der Gebauchpinselte realisiert, dass ich im Gegensatz zu Asiaten, Rotwein von Brandy unterscheiden kann. Er vermerkt mit Stolz, dass es an Bord noch besseren Wein zu trinken gäbe - den sollten wir probieren. Vermutlich kann er als Muselmane den guten Wein nur im Preis von billigem unterscheiden. Ich kann es nicht fassen: Es vergehen keine fünf Minuten, da kommt der Knabe mit einer Flasche Aloxe-Corton aus der Business Klasse daher. Mit Sicherheit kann er dimensional nicht abschätzen, was er mir ins Glas einschenkt. Ich erlaube ihm, die Flasche gleich bei uns zu deponieren. Na dann Prost! Die Party nimmt ihren weiteren Verlauf und die Zeit vergeht im wahrsten Sinn des Wortes wie im Fluge. Wir quatschen und lachen bis Dubai. Wenn ich mal länger in Manila bin, nehme ich mir den Wolkenkratzer von Hugo etwas genauer unter die Lupe. Hochstapler ja oder nein, ich werde es herausfinden.
DC 8 - Fliegende Bar und Amüsiermeile
Was heute in Sachen guter Stimmung im Jet abläuft, lässt sich mit diversen ausufernden Parties in den 1970er-Jahren nicht mehr vergleichen. Meistens konvertierte ich damals kostenlos - das waren noch Zeiten - mein Rückflug-Ticket im Clearingverfahren auf eine andere Airline, z.B. von Air Colombo auf SAS. Nicht des Essens wegen - das haben die Nordländer bis auf die Neuzeit noch nie speziell hingekriegt, dafür umso mehr aber das Trinken. Die Flugroute der Skandinavier führte über Jahre mit wiederkehrender Regelmässigkeit auch über Karachi; dort kamen abgemusterte Seeleute an Bord.
Nach mehrmonatiger Schiffsreise und langer Alkoholabstinenz haben die Knaben ihren Job abgeschlossen und reisen mit prallgefüllter Geldbörse zurück nach Stockholm, Helsinki oder Oslo. Nach einer Unterbrechung erhalten sie wieder eine neue Heuer in den Golf runter. Die Spirale dreht sich weiter im Kreis. Im Flugzeug bestellt gleich jeder zum anfangen für sich zwei Bier, später folgt der Whiskey und weiss Gott noch alles. Ich sitze schon damals immer auf einem Aussensitz und die Matrosen belegen die verschiedenen Sitzreihen um mich herum. Da gibt es kein Entrinnen - ich weile im Zentrum des Geschehens. An Literatur, Bord-Entertainment oder Schlaf ist nicht zu denken. Ungefragt landen die Getränke auf meinem Tablett. Die Stimmung wird zunehmend gelöster - ich bin voll dabei.
Infolge diverser Zwischenlandungen im Mittleren Osten dauert die Reise besonders lange. Zweimal wechselt die Crew und das neue Team hat keine Kontrolle über den vorherigen Ausschank. Später wird Matrosen, die lallen und nicht mehr in der Lage sind, ihren Sitzgurt selber zu schliessen, die Bedienung mit alkoholischen Getränken verweigert. Doch wir üben Solidarität, bestellen für sie und reichen ihnen die Biere bis zum Abwinken weiter und bis sie nach der Kotztüte greifen. Der Jet ist nur halbbesetzt - die Crew hat weniger Arbeit. Besonders kontaktfreudige Air-Serviererinnen haben ebenfalls ihren Spass und halten sich auffällig viel in unserer Partyzone auf. Sie lassen sich sogar vereinzelt in unsere Sitzreihe ziehen und begrabschen, bis die eifersüchtige Pomeranze de Cabin bemerkt, was da abgeht. Eine Verwarnung lässt uns kalt - wir sind schliesslich nicht nur ein wenig angetrunken. Ein zweiter Übergriff nach dem Takeoff in Athen bringt schliesslich das Fass zum Überlaufen. Die Maître de cabin verpetzt uns im Cockpit. Der Flugkapitän erteilt unserer Gruppe bis zur Enddestination Stockholm absolutes Alkoholverbot; rausschmeissen kann er uns ja nicht )). In Zürich verpenne ich nahezu das Aussteigen, bis mich mein Nachbarkumpel weckt und darauf anspricht: "Hey man, don't you need to get off here?" Am Baggage Claim dreht mein Rucksack still und mutterseelenallein seine Runden.
Wüstenterminal
Bei der Zwischenlandung in Dubai mache ich Bekanntschaft mit dem brandneuen Flughafen. Ich fliege oft mit Emirates über den Heimatflughafen Dubai; die Fluggesellschaft ist mir sympathisch. Vor drei Jahren wurde ich noch im alten Gebäude abgefertigt. Ich bleibe gleich ein paar Tage und sichte Burj Al Arab, den Souk, all die Shoppingmalls, sehe den Eiskunstläufern und Skifahrern drinnen in den Hallen zu und karre mit einem Landcruiser über die Sanddünen. Es ist Ramadan und das heisst tagsüber Fasten - nur mein Toyota kriegt genügend Diesel zum Saufen. Essen und Trinken gibts nur nach Sonnenuntergang. Tagsüber erreicht das Quecksilber 47° Celsius im Schatten; selten habe ich so heiss gehabt. Da wird die AC zur lebenswichtigen Notwendigkeit.
Dubai International Airport (DXB)
Nun bin ich wieder zurück. Zwischen künstlichen Palmen lagert hier im Wüstenterminal jede Nacht ein beinahe repräsentativer Querschnitt der reisenden Menschheit. Eine Gruppe Männer mit roten Schirmmützen und der Aufschrift India hat es sich am Boden bequem gemacht. Für Transit-Passagiere gibt es bequeme Liegesessel, aber Inder legen sich immer gerne auf den Boden. Nicht ganz alle – eine indische Familie schlummert auf den Sitzbänken unter riesigen Wandbildern edler Pferde. Nicht weit davon hockt eine Asiatin im Schneidersitz auf dem Teppich im Dünenlook und bearbeitet ihr Netbook. Eine Gruppe philippinischer Seeleute sitzt auf Stahlstreben ausserhalb einer Airline-Lounge. Und ein Afrikaner im weissen Gewand zieht seinen Koffer bedächtig durch den insgesamt 1‘800 Meter langen Flughafen während arabische Grossfamilien, in ihre Gewänder gehüllt, vorbeiflanieren. Sonnenverbrannte australische Urlauber mit auffälligen Tätowierungen schwärmen gemeinsam mit Deutschen und Engländern durch die unzähligen Duty Free Shops. In der Emirates-Business-Class-Lounge gönnen sich zwei Flight Attendants ein Frühstück, während nebenan im Sessel ein Schwarzafrikaner auf einem rot karierten Kissen schlummert.
Das Konzept überzeugt mich nicht vollständig. Kein Vergleich zu Zürich, Bangkok, Singapore und Osaka; meine Lieblingshubs rund um den Globus. Immerhin ist der Flughafen vollgepumpt mit Leuten und es wird eine Menge Duty Free in den Läden umgesetzt. Die grosse Mehrheit der hier arbeitenden englischsprechenden Angestellten wird von den Philippinen gestellt. Sie verdingen sich hier zu einem bescheidenen Lohn in den Emiraten als Overseas-Contractworkers. Immer noch besser so, als zuhause ohne Arbeit rumzuhängen und zu jammern. Andererseits eine Riesengemeinheit, die Leute mit Kleinst-Monatslöhnen um die US $ 300 abzuspeisen. Ich bin wohl kein Freund des Sozialismus, aber mit sozialer und gerechter Marktwirtschaft kann ich mich alleweil identifizieren. Im Verhältnis zur gigantischen Grösse des Hubs, sind die Verpflegungsmöglichkeiten hier im Flughafen noch ausbaufähig. Die grossmaulig als Foodcourt bezeichneten Standorte bieten zu wenig Auswahl. Ich habe Kohldampf, denn meist verzichte ich als Economy-Vielflieger auf das eintönige Airline-Catering. Ausnahmen mache ich bei Thai Airways, Singapore Airline und Air Austral. Diese drei haben auch in der Unterhund-Klasse das Essen bestens im Griff.
Die Form der Gebäude assoziiere ich aus Innensicht am ehesten mit einem gestreckten Hangar. Da wurde viel Zement, Glas und Metall sehr ästhetisch verbaut. Es dürfte eine halbe Stunde dauern, um die Hallen vom Anfang bis zum Ende zu durchschreiten. Durch den Hangar hindurch laufen verschiedene Ebenen. Beim Umsteigen gibt es erneut eine umfassende Kontrolle des Handcarry. Laptops müssen – wie mittlerweile an allen Flughäfen üblich - separat aufs Transportband gelegt werden. Auch den Gürtel mit Metallschnalle ziehe ich ab, um etwelchen Problemen bei der Detektion vorzubeugen.
Incident Report
Im Flug von Dubai nach Chennai findet bereits Indien statt. Der ganze Jet ist überfüllt mit rückkehrenden Contract-Workers, die sich in den Vereinigten Arabischen Emiraten verdingen. Die Leute husten mir ins Gesicht und viele lassen jegliche Kinderstube vermissen. Mein unkultivierter indischer Sitznachbar schreibt während des Fluges SMS und kümmert sich in keiner Weise um bestehende Weisungen. Krampfhaft versucht er die Beine zusammenzuziehen und sich auf seinem Sitzplatz einzukugeln. "Junge, du bist hier nicht im Teeshop zuhause!" Das geht natürlich zu Lasten meiner Seitenfreiheit und ich muss den Unflat immer wieder mit dem linken Ellbogen in die Seite kicken und wegstossen. Weiter vorne kratzt sich ein Reserve-Sadhu in seinen verfilzten und fettigen Dreadlocks und drei Sitzreihen weiter, nimmt ein schmieriger Bengale sein Handgepäck zum zehnten Male aus dem Overhead-Container.
"Ladies and Gentlemen, this is your Captain speaking. We’ve already started our descent procedure into Chennai International Airport. We expect to land as scheduled in 30 minutes. If you want to adjust your watch, it is 9 AM local time in the city now. The weather is a bit overcast and the temperature is 29 degrees Celsius. We wish you a pleasant stay and we hope to see you again very soon. On behalf of all our crew, thank you for choosing Emirates Airlines."
Was jetzt folgt ist unter Incident Report im Cabin Operation Manual (COM) zu lesen. Kurz vor der Landung öffnet mein Nachbar seinen Sitzgurt und versucht ohne ein bemerkbares Signal über mich zu steigen. Vermutungsweise will er mich nicht begatten, sondern einfach nur raus, kombiniere ich, denn er behält seine schmutzigen Hosen an und der Stall bleibt geschlossen. Er spricht kein Wort Englisch und der Rüppel macht einfach drauflos. Doch es gelingt ihm nicht; ich muss aufstehen. Er entnimmt sein Handcarry und läuft nach vorne und wartet neben dem Notausgang. Alle Sitze sind belegt und er muss stehen. Im Stehen darf man nicht landen, und schon gar nicht einen Emergency Exit blockieren. Um in Kenntnis solch wertvoller Informationen zu gelangen, braucht man keinen indischen Fortuneteller zu konsultieren. Es kommt, wie es kommen muss. Der Unzivilisierte wird auf freundliche, aber sehr bestimmte Art von der Flugbegleiterin zurückkomplementiert. Natürlich muss ich armes Schwein wieder aufstehen und der Kreatur Platz machen.
Wenig später setzt der amerikanische Pilot die Maschine zur Landung auf dem Runway auf und wir rollen gegen das Terminalgebäude zu. Einmal mehr ignoriert mein Sitznachbar die Aufforderung des Flugpersonals in mehreren Sprachen, N.B. auch in Tamil und Hindi, sitzen zu bleiben und zu warten, bis das Flugzeug still steht: "Please remain seatet until the aircraft comes to a complet stop". Ich stehe nicht auf, doch der Unhold steigt über die Armlehnen auf irgendeine Geissenart über mich, öffnet das Gepäckfach, nimmt sein Handgepäck und läuft Richtung Ausgang nach vorne. Die Overhead Compartment bleibt geöffnet und die restliche Ladung dürfte demnächst mit Sicherheit einigen Passagieren an die Köpfe fliegen. Natürlich wird er wieder gestoppt, dieses Mal auf sehr unsanfte Art. Er kriegt Schelte ab und muss sich zu meinem Leidwesen wieder auf seinen Sitz zurückziehen.
Exploring Chennai
Die zentrale Lage Chennais und die guten Verbindungen des öffentlichen Verkehrs machen die Stadt zu einem praktischen Anfangspunkt für eine Indienreise. Das sind auch meine Beweggründe hier zu beginnen. Mittlerweile sind wir gelandet, haben einen Transport in die Stadt organisiert, die Unterkunft bezogen und das Handy auf einen indischen Provider ausgerichtet. Als nächstes steht die Organisation des Weitertransportes an. Der Egmore-Bahnhof, von dem die meisten Züge Richtung Süden abfahren, ist gleich gegenüber unseres Hotels, www.hotelchandrapark.com. Ich habe diesen Standort nicht ohne Grund ausgesucht. Wir wollen wissen, wann der nächste Zug bei Tag Richtung Puducherry fährt und suchen nach dem Billettschalter. Ein unwissender Passagier sendet uns zu einem Gramper, der unten bei den Geleisen werkelt. Dieser schüttelt den Kopf und zeigt auf das Büro des Bahnhofvorstandes. Der Mann weiss Bescheid und schickt uns weiter nach vorne, wo es einen Schalter gibt. Wir laufen 50 Meter weiter und finden nichts. Ein anderer Mann in Uniform weist auf den ersten Stock nach oben, doch wir müssen zuerst auf die andere Seite des Bahnhofs wechseln und dann hochsteigen. In der Tat finden wir eine Treppe zum Fahrkarten- und Auskunftsbüro. Auskünfte bekommt man an dem einen, Billette an einem anderen Schalter. Ich will abkürzen, doch erhalte ich immer wieder dieselbe Antwort. "First, you are going to inquire over there, after that you return back to here“ Indische Logik, die ich nicht verstehe, aber akzeptiere.
Also stelle ich mich beim Informationsschalter duckmäuserisch an und warte bis ich an der Reihe bin. Als der Bürochef sieht, dass hier ein weisses Langschwein in der Reihe steht, winkt er mich in sein klimatisiertes Büro und lässt dem Sahib aus dem Abendland eine Individualberatung angedeihen; es geschehen noch Zeichen und Wunder! Ich erfahre, dass der Zug nach Pondy jeden Tag morgens um 6.30 Uhr abfährt. Fahrkarten sind nur am Reisetag eine Stunde vor Abfahrt am Schalter unten in der Halle erhältlich. Platzreservationen sind nicht möglich. Mein Reisekollege hält seine kleine Knipse schussbereit in den Händen und ignoriert meinen Hinweis, dass fotografieren in indischen Bahnhöfen untersagt ist. Der Blitz verrät ihn und prompt muss er eine Rüge des Bürochefs einstecken. Das wäre nicht nötig gewesen und mein lupenreines Ausländerimage ist nun unverschuldet angekratzt. Anschliessend begeben wir uns zur Doppelabklärung zum besagten Schalter im Erdgeschoss, wo eine Traube von Leuten auf ihre Abfertigung wartet. Jeder versucht den anderen wegzudrängen. Es dauert zehn Minuten bis ich mich zum Schaltergitter vorgekämpft habe. Dank meiner Körpergrösse bin ich gegenüber jedem Curryfresser im Vorteil. Ich bringe in Erfahrung, dass der Schalter morgens ab 5.00 Uhr öffnet und dass jetzt keine Fahrkarten verkauft werden. Alles klar, die Information stimmt also! Morgen werde ich auf Anhieb den richtigen Schalter anpeilen und mir dann einen guten Fensterplatz auf Meeresseite sichern.
Die restliche Tageszeit nutzen wir zu einer Stadtrundfahrt mit einer Auto-Rikshaw. Zweimal nötigt uns der Fahrer zum Besuch von Souvenirshops. Wir haben keinerlei Interesse, tun ihm aber den Gefallen, weil seiner Aussage nach, seine Kinder von den Geschäften unentgeltlich Schulmaterial erhalten. Das ist natürlich eine faustdicke Lüge. Nach fünf Minuten sind wir jeweils wieder draussen ohne etwas zu kaufen. Das gefällt ihm nicht und er beginnt sich über uns zu beschweren. Wir bedauern unsere Gutmütigkeit und machen ihm klar, dass wir zu keinen weiteren Gefälligkeiten bereit sind.
Ich erwache im Hotel um 06.45 Uhr. Die Zeitverschiebung von 4 ½ Stunden hat meine innere Uhr gestört. Den Handy-Wecker hatte ich nachlässigerweise nicht eingestellt. Wir haben keine Fahrkarten und unser Zug, der einzige heute, ist längst weg. Mein Reisekumpel war scheinbar wegen meines Geschnarches und des Strassenlärms rechtzeitig wach, fühlte sich jedoch zu müde, um aufzustehen. "Das ist ja eine schöne Reisepartnerschaft", denke ich. "Wenn das auf Dauer nur gutgeht". Da wir ohnehin zu spät dran sind, gönnen wir uns Zeit zum Morgenessen. Um keinen vollen Tag zu verlieren, bleibt uns nichts anderes übrig, als mit dem Bus nach Puducherry zu reisen. Busfahren in diesem Lande ist nichts für schwache Nerven. Der Kamikaze-Fahrstil der indischen Chauffeure und der Zustand der Autos und Strassen sind ein gefährliches Gemisch. Die Fahrer verlassen sich hier nicht auf ihr Hirn, sondern auf den Glücksquotienten. Deswegen bevorzugen viele Touristen, wenn immer möglich, den Zug gegenüber dem Bus. Nicht ganz so schnell und auch weniger pünktlich, ist die Sicherheit auf der Schiene grösser. Eine Auto-Rikshaw bringt uns samt Gepäck zum Busbahnhof Chennai Mofussil Bus Terminus. AC-Busse gibt es bei den Transportgesellschaften KPN oder Rathi Meena. Diese starten vom weniger chaotischen Busbahnhof gleich nebenan bei der Tankstelle. Der Rikshaw-Walla wirft uns auf hundert Meter Sichtweite vor dem Busbahnhof raus; er weigert sich in eine Einbahnstrasse reinzufahren. Um direkt vor die Busstation zu gelangen, müsste er eine Umwegschleife fahren. Bei sengender Hitze schleppen wir unser Gepäck über eine stark befahrene Hauptstrasse dorthin. Das nächste Mal lasse ich mir das nicht mehr bieten. Zuerst muss ich mich in Indien wieder assimilieren, Aggressivität hochfahren und Gutmütigkeit und Freundlichkeit ablegen.
Approaching Pondy
Der Bus nach Pondycherry ist schon weg und der nächste fährt in drei Stunden. Wie von Geisterhand ist sofort ein williger Fahrer zur Stelle, der uns mit seinem Privatwagen an unsere Zieldestination chauffieren will. Nach langem Feilschen einigen wir uns auf einen Preis von Rs 2‘300. Das ist zu viel, aber er muss die Leerfahrt zurück einkalkulieren. In einer unspektakulären Fahrt erreichen wir Pondy nach zwei Stunden. Der Fahrer macht bereits bei der Stadteinfahrt Tänze und will wissen, wo wir genau hinwollen. Längst haben wir ihm vor der Abfahrt klar gemacht, dass wir nach der Ankunft mit seinem Wagen auf Suchtour für ein adäquates Hotel gehen wollen. Jetzt will er nichts mehr davon wissen und zeigt seinen wahren Schweinecharakter – typisch indische Abreissermentalität. Meine Stimmlage hebt sich bedenklich und es wird ungemütlich im Fahrgastraum. Als Anhaltspunkt gebe ich ihm eine Adresse. Er versucht zu telefonieren, aber sein Handy funktioniert nicht. Er versucht den Akku zu wechseln und gibt dann verärgert auf. Er verlangt nach meinem Handy, er bittet nicht, doch ich habe keinen Bock, diesem arroganten Kerl aus der Patsche zu helfen. Sahib Pitcairn lehnt sich im Fonds zurück und wartet der Dinge, die da kommen. Dies zwingt ihn, sich durchzufragen, doch sein fehlender Orientierungssinn verbockt ihm alles. Das Dumas Guest House findet er letztlich nur mit unserer Unterstützung und Lonely Planet. Es ist Hochsaison und das Hotel voll besetzt. Gleich nebenan hat das Hotel-Restaurant Le Club ein freies Zimmer, allerdings für Rs 3‘000. Ich kann den Preis nicht tiefer als auf RS 2‘500 herunter würgen, mehr ist nicht zu machen. Unser Fahrer wird immer ungemütlicher, will unser Gepäck auf die Strasse stellen und wieder abhauen.
Doch wir sind am längeren Hebel, denn er hat die Kohle noch nicht auf seiner Kralle. Ich mache mich zu Fuss auf die Suche nach einer passablen Bleibe. Mein Reisekollege wartet im Wagen und bewacht das Gepäck. Das erste Mal kann ich einen Vorteil erkennen, nicht alleine zu reisen. In der gleichen Strasse finde ich schliesslich ein schönes Zimmer im L’Escale Guest House für Rs 1‘500 pro Nacht, www.lescalepondicherry.com. Die Unterkunft ist in jeder Hinsicht in Ordnung, jedoch klar Rs 500 über unserem Budget. Optimal wäre, wegen des Kostenteilers, das Zimmer zu Dritt zu belegen. Ein englisch-französisches Ehepaar mit zwei Kindern führt dieses Gästehaus. Es gibt einen wunderschönen Dachgarten, gratis WiFi, super Morgenessen mit richtigem Kaffee, heisser Milch, dunklem Brot und Hörnchen, Eier, Butter, Konfitüre, allerdings exklusive. Der Support der Gäste durch den britischen Inhaber Nicolas lässt keine Wünsche offen. Der Mann macht keinen Job, er ist berufen! An diesem Standard könnten sich eine Menge Hoteliers eine Scheibe abschneiden. Wir sind rundum zufrieden. Bis zum Ende meiner Indientour konnte kein Hotel das Preis-Leistungsniveau des L’Escale toppen.
Das Gästehaus arbeitet mit Mayle Tour zusammen, www.mayiletour.com (Tel. 9443085463). Wooly der Geschäftsführer ist ein Kollege von Nicolas und kommt am Abend persönlich vorbei. Als überzeugte Individualreisende buchen wir einen Trip mit Kleinwagen und Fahrer zum Preis von Rs 2‘000 pro Tag all incl. Dazu gehören alle Parkgebühren, Dieseltreibstoff, Rückführungskosten Wagen, Essen und Unterkunft des Fahrers. Somit kommt mein täglicher Transportanteil auf gut CHF 20.-- zu stehen. Taxifahrten werden zusätzlich eingespart. Theoretisch steht uns der Fahrer rund um die Uhr zur Disposition; doch er muss nie mehr als insgesamt neun Stunden täglich fahren. Gerne hätten wir aus Kostengründen eine weitere Person partizipieren lassen.
Mein feiner Reisekollege verträgt keinen Luftzug und verlangt, dass im Tata ohne AC kein Fenster auch nur einen Spalt weit geöffnet werden darf. Babu und ich schauen einander wortlos an. Wir sind für diesen Unsinn nicht zu haben und ignorieren diplomatisch seine Forderung. Wir finden eine Lösung, indem er vom Hinter- auf den Beifahrersitz vorne links wechselt. Dort kann er seine Scheibe geschlossen halten, sein Foulard um den Hals wickeln und ist einigermassen zufrieden.
Ein eigenes Fahrzeug bietet unbestreitbar grosse Vorteile und erhöhte Flexibilität. Es ist ein Zugeständnis an mein gereiftes Alter und als Belohnung für vergangene Strapazen gedacht. Ich predige Wasser und trinke Wein. Doch ich bin auch nur ein in die Jahre gekommener Traveller und Mensch. Zu schämen brauche ich mich deshalb nicht. Meine Frau schleppt mich im Supermarkt auf den Philippinen schliesslich auch bereits an die Rentnerkasse. Mein Selbstbewusstsein wird zunehmend dezimiert. Glaube mir, wenn du dir eine Gummimatte mit Saugnäpfen in die Badewanne legst, sind das die ersten Symptome, dass du älter wirst.
Älter werden
Ich habe mein Leben von Anfang an mit sicherer Hand geführt, wenig dem Zufall überlassen und oft ein gutes Karma gehabt. Nie bin ich heil- und planlos durch die Welt geirrlichtert, bin weder geflautet noch habe ich mich treiben lassen. Meine bewegende Vita sieht für sogenannte Normalos erschreckend aus; dazu gehört auch ein Hauch des Skandalösen. Das Leben ist wohl zu vier Fünfteln gelaufen - meine Biografie ist unumkehrbar. Es steht niemandem zu, mich über mein Leben zu befragen. Wenn es mir behagt, schreibe ich gelegentlich davon.
Periodisch bin ich wiederkehrend rein privaten Ambitionen gefolgt und habe meine berufliche Weiterentwicklung ruhen lassen. Trotzdem ist es mir im Verlaufe der Jahrzehnte immer wieder gelungen, beruflich Fuss zu fassen, meine Existenz abzusichern und erneute Geldmittel zu generieren. Meine längste Pause, welche auch gleichzeitig zu meiner längsten Reise wurde, dauerte von 1996 bis 2001 – satte fünf Jahre. Während dieser Zeitspanne hielt ich mich in Down Under und in den Weiten Ozeaniens auf. Aussenstehende könnten denken, dass ein Mensch nach solch langer zeitlicher Distanz den Bezug zu seinem früheren Beruf und den Willen, täglich mehr als zwölf Stunden zu arbeiten, vollständig verloren hat. Ausnahmslos haben sich alle in ihrer Annahme getäuscht. Nun bin ich wiederum bald sieben Jahre fern eines Erwerbsprozesses und im Durchschnitt zehn Monate pro Jahr auf Reisen. Ich wundere mich, womit andere Ruheständler ihre Tage füllen: Enkel hüten, Skattreffen, Gartenarbeiten, die Alte besänftigen. Ich bin ruhiger geworden, doch geniesse ich das Leben immer noch auf ungezügelte Art. Als Spätpubertierender will ich noch etwas bewegen. Mit einem Siegesgrinsen blicke ich zurück.
Puducherry
Aufgrund meiner Reisevorbereitung entscheiden wir uns für das folgende Routing: Puducherry – Thanjavur – Madurai – Kanyakumari (Cap Comorin) – Kovalan - Thiruvanandapuram (Trivandrum) – Alappuzha – Kochi – Mettupalayam – Ooty –Masinagudi – Mysore – Shimoga – Jog Falls – Goa. Wooly verlangt Vorauskasse. Die gewählte Route kann jederzeit abgeändert oder die Dauer verlängert werden. Zusätzliche Aufwendungen werden extra verrechnet. Bei einer vorzeitig beendeten Reise erfolgt keine Rückerstattung. Von anderen Reisen weiss ich, dass diese Konditionen in ganz Indien Standard sind. Durch die Vermittlung von Nicolas haben wir Vertrauen in Mayile Tour und werden auf der ganzen Reise auch nicht enttäuscht. Der Tourist muss wissen, dass der Fahrer primär Fahrer und kein Fremdenführer ist. In der Regel sprechen alle Fahrer wenig bis kein Englisch, andernfalls wären sie als besserbezahlte Fremdenführer in Aktion. Der Individualtourist muss sich selber zu helfen wissen. In komplexeren Situationen hat Wooly am Telefon auf Tamil übersetzt. Generell hat er uns jeden Tag angerufen und sich erkundigt, ob alles in Ordnung sei. Bei dieser Gelegenheit macht er auch auf stattfindende kulturelle Veranstaltungen aufmerksam. Ich kann diesen Jungunternehmer mit seiner Organisation jederzeit weiterempfehlen.
Unser momentaner Standort Puducherry, so lautet der neue offizielle Name, ist eine Stadt im gleichnamigen Unionsterritorium Puducherry in Südindien. Sie befindet sich knapp 150 Kilometer südlich von Chennai. Die ehemals französische Kolonie wird begrenzt vom indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Im Osten lehnt die Stadt an den Golf von Bengalen an.
Diese Stadt hat durch ihren französischen Anstrich etwas Charme. Sie wurde im 18. Jahrhundert durch die Franzosen als koloniale Enklave besiedelt und entwickelte sich im 20. Jahrhundert mehr und mehr zu einer beliebten Touristenattraktion. Puducherry bietet mehr Sehenswürdigkeiten als man denkt. Im etwas ruhigeren touristischen Zentrum nahe der Küste finden sich einige Überbleibsel französischen Bauschaffens, z.B. breite Boulevards, etwas Kopfsteinpflaster, das französische Konsulat, die Strandpromenade, Kirchen und Weiteres. Der Film Life of Pi (Schiffbruch mit Tiger) von Regisseur Ang Lee, beginnt hier im fiktiven Zoo.
In Tat und Wahrheit gibt es nur einen Botanischen Garten. Zum Stadtbild gehören auch der Ganesh-Tempel, die grosse Kathedrale, der Lebensmittelmarkt und ein Ashram.
An einem Nachmittag ziehe ich mich mit meinem Netbook und zwei grossen Büchsen Carlsberg für ein paar Stunden auf die Dachterrasse unseres Gästehauses zurück. Der Ausblick ist traumhaft und inspiriert jeden Schreiberling. Auf der einen Seite präsentiert sich die Bay of Bengal und auf der anderen Seite erblicke ich die Dächer des französischen Quartiers von Pondy. Ich bin noch nicht lange am tippen, da setzt sich unsere Zimmerfrau zu mir. Sie spricht nur zehn Wörter Englisch, doch bringen wir eine kleine Konversation zustande. Erste gegenseitige Standardfragen richten sich in Indien meistens nach dem Alter, der Religion und Familie; in westlichen Ländern andererseits immer nach der Nationalität und dem Beruf. Allein über diese Thematik könnte jemand eine Diplomarbeit abfassen. Aus ihrer Äusserung, "I am first wife" kombiniere ich, dass sich ihr Mann, ein Hindu, eine zweite Frau genommen hat. Sie scheint dies gelassen akzeptiert zu haben, zumal sie ihrem Gatten bereits einen Buben und ein Mädchen geschenkt und somit ihre wichtigsten Pflichten als indische Ehefrau erfüllt hat. Gegenüber der zweiten Frau nimmt sie eine übergeordnete Rolle ein und es bleibt zu hoffen, dass ihr die ebenfalls im gleichen Haushalt lebende Schwiegermutter nicht das Leben zur Hölle macht.
Auf einem Stadtrundgang lasse ich die kontrastreiche Verbindung zwischen französischer Architektur und dem hektischen Alltagsleben mit all seinen Klängen, Aromen und Düften auf mich einwirken. Sonst aber ist Pondy überwiegend Tamil-Nadu und damit ein hup-brüll-kreischendes Chaos.
Sinnsuchende im Ort der Anstrengung
Der Ashram ist so etwas wie eine Klappsmühle für meditierende Junggreise, unzufriedene Westemanzen und arbeitsscheues Gesindel und Tagediebe. Die Lokalitäten sind sauber und neutral. Mitarbeitende der Nachfolgegurus beaufsichtigen die Mahlzeiten, die Meditationssitzungen, Seminare und Workshops. Es ist eine in sich geschlossene Gemeinschaft, in der strenge, unverrückbare Regeln gelten. Niemand spricht mit normaler Lautstärke, alle flüstern. Niemand runzelt ärgerlich die Stirn, grinst schadenfroh oder jammert. Barfüssig, die Gesichter verzückt oder träumerisch versonnen, wandeln die Leute umher wie seinerzeit die Patienten im Streifen One flew over the cuckoo‘s nest. In diesem Film brilliert Jack Nicholson in seiner Paraderolle als McMurphy, der sich der Routine der Anstalt nicht anpassen will; er rebelliert gegen das strenge Regelwerk und sichert sich damit die Gunst seiner Mitinsassen.
Die Sinnsuchenden im Ashram werden auf unerträgliche Weise bevormundet. Unter vielem Anderem gilt ein Ausgehverbot ab 22.00 Uhr. Alkohol und Drogen sind tabu, die Kost vegetarisch. Fleisch gibt Kraft, von wegen nur Gras und Kräuter fressen. Das darf man höchstens einem heilig gesprochenen Rindviech zumuten. Ich habe kein Talent für spirituelle Abenteuer. Ich lade nur Einsichten aufs Hirn runter, die ich selber geprüft und für gut befunden habe. Ashram bedeutet Ort der Anstrengung. Warum soll ich mich dort anstrengen und erst noch dafür bezahlen? Ich habe keinen Bock, mich bevormunden zu lassen, auf Abstinenz und Meditation zu machen, eine Geistesphilosophie und die göttlichen Wahrsagungen eines Grossgurus sel. nachzuplappern und zu lobpreisen. Viel lieber gehe ich diesen ewigen Weisheiten andächtig aus dem Weg und halte mich an mein autogenes Training. Ich bin eingeklemmt in die kurze Spanne zwischen Geburt und Tod, in der es viel zu verrichten gibt. Ich habe meine eigene Mission. Für Hindus ist dieses kurze Dasein eine von vielen Durchgangsstationen zur weit bedeutenderen Form der Erleuchtung. Super, wenn‘s eintrifft. Ich mag’s jedem gönnen, wenn es bei ihm kräftig in der Birne leuchtet. Mein eigener Gott geht nicht so verschwenderisch mit der Zeit um. Aber halt aufgepasst, ich habe eine zündende Idee: Eigentlich könnte ich zusammen mit dem Methernita-Vati von Linden bei Oberdiessbach einen Ashram nach meinem Gusto aufmachen. Schnell wäre eine Lebensphilosophie zurechtgeschustert, die passt und genügend Kröten einbringt. In weissem Gewand, wallendem Bart und einem akzentvollen Englisch, könnte dann Swami Pitcairn seine Lebensklugheiten über die Sannyasins ergiessen. Piselotten, Abkassieren – es lebe der Kapitalismus!
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Um sich dem leidvollen Zyklus der Wiedergeburt zu entziehen, muss man als Mensch genügend Selbsterkenntnis erlangen. Jeder Einzelne wird immer wieder geboren. Dieser Vorgang wird Samsara genannt. Die Qualität der Wiedergeburten hängt vom eigenen Karma, das heisst vom Verhalten und von Handlungen im früheren Leben ab. Wer viel schlechtes Karma angesammelt hat, kann auch als Tier wiedergeboren werden. Doch nur die Wiedergeburt als Mensch führt irgendwann schliesslich ins Nirwana. So weiss ich nun, dass meine Mastschweine zuhause auf den Philippinen im früheren Leben alles Versager in Indien waren und die Qualifikation in ein neues Menschenleben nicht geschafft haben. Auf ein gutes Kotelett auf dem Grill, oder auch zwei, werde ich trotzdem nicht verzichten, selbst wenn ich als Mastschwein wiedergeboren werden sollte.
Tempeltour
Ein neuer Tag beginnt. Wir starten um 10.15 Uhr in Pondy mit dem Tata-Kleinwagen und Fahrer Babu Richtung Süden. Unser junger Driver ist 26jährig, verheiratet und Vater einer kleinen Tochter. Seine Hupe ist rekordverdächtig und könnte einen Tsunami aufhalten.
Auf dem Weg besuchen wir zuerst den Darasuram-Tempel: Kein absolutes Muss, aber wenn man schon in der Nähe daran vorbeirollt, sicher einen Augenschein wert. Im heutigen Etappenziel Thanjavur angekommen, checken wir im Hotel Tamil Nadu ein (Rs 1‘000). Thanjavur ist eine chaotische, schmutzige, moderne, indische Stadt. Jenseits der hupenden Busse und des fröhlichen, öffentlichen Urinierens, befinden sich das UNO-Weltkulturerbe des Brihadishwara-Tempels und der weitläufige Maratha-Palast. Würde man im Palast alle Kunstfiguren studieren, könnte hier ein Begeisterter viele Stunden verbringen. Ich geniesse die interessante Architektur und begnüge mich mit der Begehung der verschiedenen Grossräume, Hallen, Türme und Terrassen. Die Aufstiege und Durchgänge sind auf indische Körpergrössen ausgerichtet und ich habe Mühe, meine hundert Kilo und 187 Zentimeter Länge und zusätzlichen 3 Zentimeter Flachsandalen hindurch zu schieben. Mein Kollege ist von geringerer Grösse und käme besser durch. Doch er hat keinen Nutzen, da er im Auto pennt und mit dem Fahrer auf mich wartet.
Anschliessend besuche ich die kolossale eintausend jährige Brihadiswhara-Tempelanlage von König Rajaraja Chola. Meine Teva-Sandalen binde ich hinten an den Tagesrucksack - die Anlage darf nur ohne Schuhe betreten werden. Die Tempelaufsicht weist mich zurecht; Schuhe müssen nicht nur ausgezogen, sondern dürfen auch nicht, gleich auf welche Art, in die heilige Stätte gebracht werden. Als er mir den Rücken zuwendet, nehme ich die Sandalen aus dem Sichtfeld der Empörten und packe sie in meinen Tagesrucksack. Eine Pilgergruppe spricht mich an und bittet um ein Gruppenfoto. Hier bin einmal ich der Exote. Selbstverständlich mache ich mit und erhalte Gegenrecht. Das ist immer eine gute Basis für einen Informationsaustausch. Später sprechen mich noch zwei 20jährige Girlies an. Ich fühle mich als gebauchpinselter Gockel. Doch merke ich bald, dass es den Studentinnen weniger um die plumpe Anmache eines angegrauten Backpackers, sondern vielmehr um die Praktizierung ihrer englischen Sprachkenntnisse geht.
Madurai
Chennai mag das Herz und die Hauptstadt von Tamil Nadu sein, Madurai ist seine Seele. Der Tempel Sri Meenakshi Amman gehört zu den grossartigsten Tempelanlagen Indiens. Er hat als ästhetisches Erbe für die Region den gleichen Wert wie das Taj Mahal in Nordindien. Der 6 Hektar grosse Komplex ist Shiva gewidmet und von zwölf Gopurams umgeben, wovon der höchste 52 Meter gigantisch über die Stadt ragt. Alle sind mit einem übervollen Aufgebot von Götter- und Dämonen-Figuren versehen. Unzählige Pilger ziehen um und durch die dunklen Anlagen.
Der Verkehr ist gleich dramatisch wie in jeder indischen Stadt. Die Luft ist verpestet und es riecht nach Benzin, Kot und Urin. In der Nähe des Tempels steige ich aus dem Wagen und da warten wiederum alle auf mich als ob mich da jemand angekündigt hat: Räucherstäbchen-Schwenker, Ofenputzer, Matratzenaufschütter, Ohrenreiniger, Fussmasseur, Rattenfänger, Essens- und Chai-Wallas, Floristen, Wäscher, Wasserträger, Gasflaschenmänner, Tänzer, Sänger, Akrobaten, Wahrsager, Pulsmesser, Tempeldiener, Feuerschlucker, Affendresseure, Schlangenbeschwörer, Bärenführer, Fakire, Paperpusher – alles ehrbare Berufe mit Erbfolge und alle leben von den Touristen und der Betriebsamkeit dieser Strasse. Das Gesicht vernarbt, sieben von zehn Fingern von der Lepra weggefressen, zerren die restlichen drei an meinem frisch gewaschenen atmungsaktiven T-Shirt. Eigentlich will ich den Mann wegstossen, aber da reisse ich ihm womöglich noch die restlichen drei Finger aus. Nein, ich will heute nichts Gutes tun, kein Geld spenden und Karma einkaufen. Ich will nichts anderes, als in Ruhe gelassen werden und fordere etwas Respekt und Privatsphäre. Mit schnellen Schritten entferne ich mich aus der Begehrlichkeitszone und rette mich in eine Teeküche.
Armut in Freiheit?
Mein Gefühl vermittelt mir den Eindruck, dass die Strassen in Südindien schlechter ausgebaut und unterhalten sind als im Norden des Landes. Wenn ich an die Strecke von New Delhi nach Rajasthan bis zur pakistanischen Grenze denke, ist da schon ein erheblicher Komfortunterschied festzustellen. Die indischen Gliedstaaten scheinen alle selber für den Bau und Unterhalt der Strasseninfrastruktur zuständig zu sein. Übergeordnete nationale Tiefbauprojekte sind unbekannt, Föderalismus wird gross geschrieben. Selbst zwischen den einzelnen indischen Gliedstaaten werden von den Telefonprovidern Roaminggebühren erhoben. Beim Grenzübertritt gibt es Kontrollen. Eine wirtschaftliche, nationale Verbundenheit scheint nicht zu existieren. Es ist daher auch verwunderlich, weshalb die islamischen Territorien vor einem halben Jahrhundert auf Biegen und Brechen von Indien abgespalten werden mussten. Das war wohl wieder so ein Furz von Mahatma Gandhi. Mit jedem neuen Hungerstreik zwängte er seinen Willen beim Parlament durch. Die Emotionen von Millionen ungebildeter Staatsbürger verschafften den notwendigen Nachdruck. Indien ist ein Vielvölkerstaat und hat einen zehn Prozent-Anteil an Muselmanen. Unter dem bisherigen politischen Dach hätte der Nordwesten weiterhin seinen halbautonomen Platz gehabt. Jetzt geht es den Bürgern nicht besser und die Konflikte sind noch grösser geworden. Ich kann das Ketzern nicht lassen. Hand aufs Herz; wäre Indien heute nicht geordneter, zivilisierter, mit besserem Lebensstandard wenn die Engländer 1947 geblieben wären? Ist Wohlstand in Ketten nicht besser, als Armut in Freiheit?
Disqualifikation
Frühstück ist ausnahmsweise in unserem Hotel inbegriffen. Normalerweise verfügen unser Herbergen über kein Restaurant oder kennen nur indische Verpflegung. Das Pseudo-Westernbreakfast besteht aus Rührei, einer Art Brot sowie Butter und Marmelade, welche bereits auf allen Tischen platziert sind. Mein Kumpel kürzt ab, bedient sich direkt aus den Töpfen und schmiert Butter und Marmelade aufs Brot. Mit der Zeit sind der Buttertopf mit Marmelade und der Marmeladetopf mit Butter verschmiert. "Du machst ja eine Riesenschweinerei" bemerke ich, denn ich kann es nicht ertragen, wenn sich Leute nicht zuerst in den eigenen Teller schöpfen; Klar ein Zeichen fehlender Erziehung und Kinderstube. "Ich bin Schweizer", bekomme ich selbstherrlich zur Antwort. Auch wenn es ungesagt bleibt, dieser Äusserung müsste man noch folgende Worte anhängen: "Meine Nationalität steht über den anderen. Das Wohl der anderen ist mir egal. Ich nehme mir heraus, mich direkt aus den Töpfen zu bedienen. Wen es stört, soll weggucken". Ich sage nichts. Das ist Swissness auf umgekehrte Art. Mein feiner Reisekollege disqualifiziert sich mit diesem Verhalten selbst.
Kanyakumari
Ein neuer Reisetag beginnt. Bald sind wir aus der Stadt raus. Mit Überraschung gelangen wir auf eine passable Autobahn bis nach Kanyakumari (Cap Comorin). Hier endet die Strasse in den Süden am Schlusspunkt des indischen Subkontinents und hier treffen der Bengalische Strom, das Arabische Meer und der Indische Ozean zusammen. Im April findet jeweils ein einzigartiges Erlebnis statt, wenn der Mond und die Sonne gleichzeitig auf- bzw. untergehen. In Kanyakumari finden wir eine Bleibe im Hotel Maadhini, für Rs 1‘200, ungültiger Link entfernt.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen mache ich mich alleine auf zu einer kleinen Rundwanderung, um die Stadt und Umgebung zu exploren. Mein Kumpel dürstet stärker nach einer Ayurveda-Massage und macht sich auf die Suche nach einem passenden Etablissement; die ganze Reise redet er schon davon. Ob er wirklich nach einer Gesundheitsmassage verlangt oder seinen Pimmel pflegen will, ist mir nicht ganz klar. Nach meiner Rückkehr werde ich feststellen, dass er nicht fündig geworden ist und im Hotel gepennt hat.
Auf dem Weg zur schneeweissen katholischen Kirche komme ich mit einem indischen Seemann auf Heimaturlaub ins Gespräch. Ein netter Kerl - die gibt es in Indien auch. Dankend nehme ich sein Angebot an, mich mit seinem Scooter zur Kirche zu fahren. Die alte Erfahrungsregel bestätigt sich zum wiederholten Male. Wenn ich alleine unterwegs bin, ergeben sich mehr Kontakte, sofern ich die innere Antenne auf Empfang stelle.
Es nervt mich stets, wenn ich beim Tempelbesuch meine Sandalen ausziehen und mit meinen sauberen Füssen über den dreckigen kontaminierten Tempelboden wandeln muss. Dieses Ritual wurde unsinnigerweise von der katholischen Kirche übernommen und ich muss selbst in einer Christenkirche meine amerikanischen Qualitätslatschen abstreifen. Die Kirche gibt von der Einrichtung nicht viel her und es hat auch keine Sitzgelegenheiten. Die Gläubigen beten hier wie die Moslems in der Moschee. Sachen gibt’s auf der Welt. Solche Verhältnisse sollte der Nachfolger des Apostelfürsten Petrus, Jorge Mario Bergoglio, in seinem globalen Club nicht einreissen lassen. Doch selbst bei den Katholiken ist es mir zu unbequem. Ich mag nicht knien, darum sympathisiere ich mit den Protestanten - dort kann ich wenigstens immer sitzen. Ich schreite die Umgebung der Kirche ab, um den idealen Standort für ein Bracketing zu finden. Ich geniesse es beim Fotografieren alleine zu sein und zeitlich auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Da lobe ich mir meine Geliebte, die hat – wenn mit mir auf Reisen - immer jede Zeit und Geduld für mich und mein kreatives Hobby. Wenn die Lichtverhältnisse nicht optimal sind, kann es schon mal vorkommen, dass wir zu einer anderen Tageszeit zum Ablichten an den gleichen Ort zurückkommen. Das soll mal jemand auf einer geführten Gruppenreise praktizieren.
Kovalam
Der Zeiger meiner Swatch zeigt auf acht Uhr, als wir von Kanyakumari abfahren. Unterwegs erfreut uns der Padmanabhapuram-Palace, Kerala State. Nach einem Augenschein fahren wir weiter und erreichen gegen Mittag den Lighthouse Beach von Kovolam. Hier wollen wir eine Weile bleiben. Seit dieser Ort in den 1970er-Jahren von den Rucksacktouristen entdeckt wurde, dauerte es nicht lange, bis europäische Pauschal-Reiseanbieter auf der Suche nach einer zweiten Goa-Goldmine, sich hier in diesem ehemaligen Fischerdorf einnisteten. Trotzdem ist eine Menge des einstigen Zaubers erhalten geblieben und ich kann diese Destination nach wie vor allen Rucksackreisenden, Neo-Hippies und Pseudo-Alternativtouristen empfehlen.
Mein Kumpel ist bereits reisemüde und will ausserhalb des Hauptstrandes in der erstbesten, schweineteuren Unterkunft absteigen. Hier bestätigst sich mir einmal mehr: Es sind meist Leute mit geringen finanziellen Mitteln, die unnötig Geld verdummen. Mit etwas mehr als diplomatischem Nachdruck, kann ich ihn zu einer besseren Lösung bewegen. Fahrer Babu wartet mit dem Gepäck im Wagen, und wir machen uns auf einen Erkundungsgang. Trotz Hochsaison finden wir nach einer halbstündigen Suche ein schönes Zimmer an zentraler Lage für Rs 500 in Strandnähe: Sumangali Tourist Home, Lighthouse Beach, Kovalam, www.hotelsumangali.com. Es tut gut, wieder mal alleine in einem Zimmer zu übernachten und nicht Rücksicht auf Dritte nehmen zu müssen, zumal mein Geschnarche auf einen lärmempfindlichen Zimmernachbar nicht immer meditative Wirkung hat.
Der Ort lädt ein, um sich für ein paar Nächte vom Reisen im anstrengenden Haifischbecken Indien zu erholen. Es gibt eine Anzahl westlich ausgerichteter Gaststätten wie z.B. das Swiss Café oder insbesondere die Deutsche Bäckerei, welche sich zu einer Institution am Platze gemausert hat. Andere Lokale decken indischen und vermeintlich westlichen Geschmack gemeinsam ab und haben sogar Schein-Pizza und kulinarische Blindgänger-Spaghetti auf der Karte. Igitt! Von vielen Lokalen wird Alkohol ohne Lizenz ausgeschenkt. Kingfisher kommt in grossen Kaffeetassen auf den Tisch. Die in einem Socken getarnte Flasche findet Platz unter dem Gästetisch.
Beeindruckt hat mich der täglich zur Schau gestellte Catch of the day, eine stets gefreute Auswahl an frisch gefangenem Fisch oder Meeresfrüchten. Bei grösseren Tieren kann man sich direkt ein schönes Stück rausschneiden und zubereiten lassen. Es gilt nur aufzupassen, dass der Fisch gegrillt und nicht wie sonst in Indien üblich, in Masala-Suppe gekocht wird. Mit der nötigen Instruktion und Kontrolle sind die Lokale durchaus in der Lage, einen Fisch mit Salz und Pfeffer auf dem Grill anständig nach westlicher Art zuzubereiten. Nach Mayonnaise halte ich vergeblich Ausschau. Es gibt doch nichts besseres, als einen gebratenen Meeresfisch in Begleitung mit Salzkartoffeln, selbstgemachter Mayonnaise aus hochwertigem Sonnenblumenöl und Bio-Eiern. Dazu trinkst du eine Flasche eisgekühlten Chardonnay. Lecker, lecker. Manchmal denke ich, dass ich mich im Ausland nur durchs Essen hindurch quäle, um in meiner eigenen Küche auf den Philippinen die kulinarischen Köstlichkeiten wieder mit Stil und Wonne geniessen zu können. Vereinzelt adaptiere ich beim Reisen Rezepte aus der jeweiligen Landesküche. Kürzlich entdeckte ich in Madagaskar die Harmonie von frischer Gänseleber, Süsskartoffeln und Mangos. Aus Indien habe ich die Zubereitung einzelner Gerichte mit Tandoori sowie Kokos-Curry mit Basmatireis, natürlich New crap, übernommen.
Die relaxte Zeit nutzt mein Kumpel, um sich dem so ersehnten Baden und Schwimmen im Meer und der Suche nach Souvenirs zu widmen. Er entspricht mehr dem klassischen Touristenbild und wäre auf einer Gruppenreise für Rentner wohl nicht am schlechtesten aufgehoben. Für seine wiedererstarkte Liaison in der kalten Schweiz, erstand er einen dunkelgrünen, handbestickten Schal aus Kaschmirwolle zum schwindelerregenden Preis von umgerechnet CHF 350.--. Das ist wesentlich mehr als der Jahresverdienst eines besitzlosen Landarbeiters in Bihar. Ausserhalb der Touristenzone wäre dieser edle Lumpen vermutlich günstiger zu kaufen gewesen. Aber was soll’s, es sind nicht meine Kröten. Selber kaufe ich auf Reisen wenig bis nie etwas, da ich von Land zu Land weiterziehe und die Staubfänger nirgendwo deponieren kann. Es ist mir wichtiger, ein paar Kunststoffgebinde meines Lieblingsduschmittels oder Spezialshampoos zusätzlich mitzuschleppen.
Die längste Backpackertour meines Lebens dauerte fünf ganze Jahre an einem Stück. Nicht auszudenken, wenn ich mich da überall mit Souvenirs eingedeckt hätte. Auf dieser Tour traf ich übrigens in Western Samoa ein deutsches Ehepaar, die waren gerade dreissig Reisejahre ohne Unterbruch unterwegs. Die Frau lehnte Fotografieren kategorisch ab und machte von interessanten Landschaften und Szenen manuelle Skizzierungen. Da konnte es dann schon einen ganzen Tag dauern, bis ein Sujet fertig festgehalten war. Wer solange mit dem Rucksack, ohne Zuhause, ohne soziale Verpflichtungen und mit einem geeigneten Lebenspartner permanent unterwegs ist, hat wohl mehr als das Nirwana erreicht. Als Souvenirs reichen mir Fotos und von Flaschen abgelöste Bierlabels. Als ich damals gegenüber den Leuten erwähnte, ich sei ein homeless Backpacker, konnten sie es nicht wirklich glauben, dass ich nirgendwo Zuhause war. Gekauft habe ich gelegentlich aus humanitären Gründen oder einfach als Anteilnahme an liebe Leute trotzdem gelegentlich etwas. Die Kosten buchte ich vom Entwicklungshilfe-Konto ab. Meist lasse ich die Souvenirs im Hotel zurück.
Der Lighthouse Beach trägt seinen Namen nach dem weit sichtbaren Leuchtturm. Ich mache mir die Mühe und laufe die endlose Wendeltreppe bis zuoberst hoch. Am Schluss wartet noch eine Innenleiter und erst dann erreichst du die Plattform. Wie in einem Tempel bist du angehalten, unten beim Eingang die Schuhe auszuziehen und barfuss hochzusteigen. Für all den Aufwand wirst du mit einer wunderschönen Rundsicht auf das Meer, die Strände Lighthouse und Hawah sowie das Hinterland belohnt. Mein Kollege ist nach wie vor auf Souvenirpirsch. Ich steige alleine hoch. Ein freundlicher Koreaner ist sehr befleissigt, mit meiner Kamera ein paar Erinnerungsfotos für mich zu schiessen.
Mit meinem Reisekumpel habe ich mich kurzfristig vor der Reise zusammengetan. Wir bilden eine Budget- und Zweckgemeinschaft und sind das erste, und vermutungsweise auch das letzte Mal zusammen unterwegs. Internet macht’s möglich. Seit Beginn der Reise möchte er in den Genuss einer Ayurveda-Ölmassage kommen. Ayurveda ist Sanskrit und bedeutet Wissen vom Leben. Diese traditionelle indische Heilskunst kennt vier zentrale Elemente: Ayurveda-Massage und -Reinigungstechniken, die Ernährungslehre, spirituelle Yogapraxis, Pflanzenheilkunde. Zunehmend stelle ich fest, dass ich mit meinem Kumpel nicht viele Gemeinsamkeiten habe. Ich bin kein enthusiastischer Badetourist und Souvenirjäger, doch zumindest kann ich seinen Wunsch nach einer Ölmassage nachvollziehen. Gerne würde ich noch eine Stufe höher gehen und mir gleich eine einfühlsame Kammerzofe für ein erweitertes Zusatzprogramm gönnen. Das alleinige Anschmieren von lauwarmem Öl und das uninspirierte Herumreiben scheinen mir zu dürftig. Wenn schon, denn schon. Normalerweise werden in Indien Männer von Männern und Frauen von Frauen massiert. Doch ich lasse mich keinesfalls von einem Mann befingern - dazu hat mich die Natur nicht gemacht. Unsere Erkundigung am Taxistandplatz löst unter den Männern zuerst betretenes Grinsen, dann lautes Gelächter und anschliessend eine heftige Debatte aus. Die verkorksten Machos haben Mühe, über ein solches Thema öffentlich zu sprechen. Doch nach einigen Minuten wird ein junger Fahrer aus ihrer Gilde dazu bestimmt, uns mit seiner Auto-Rikshaw zu einem adäquaten Etablissement zu chauffieren.
Mein Kumpel gibt eine leicht nervöse Figur ab, als wir in die Kabine steigen. Ich selber schaue den Dingen die kommen, relativ gelassen entgegen, zumal ich jegliche Wertsachen wie Reisepapiere, Fotoapparat, Plastikgeld wohlweislich im Hotel deponiert habe. Einzig trage ich eine Kopie meines Reisepasses, Bargeld für den Tagesbedarf und eine blaue Victorinox Swiss Card auf mir. Indien ist für mich ein Heimspiel, Land und Leute kalkulierbar.
Fünfzehn Minuten dauert die Fahrt über die Hügel der Umgebung; dann erreichen wir ein gepflegtes, schneeweisses Sanatorium an idyllischem Standort mit Gartenanlage. Es ist keine Menschenseele auszumachen. Mit einem Handzeichen gebe ich dem Fahrer zu verstehen, dass er hier warten soll. Mir kommen die Worte Gandhis in den Sinn: "Es gibt zwei Extreme, vor denen man sich im Leben in Acht nehmen muss. Das eine ist der hemmungslose Lebensgenuss, das andere die vollständige Lebensverneinung.“ Da hat der Extremist also doch einmal etwas Gescheites gesagt. Mein Kollege möchte sich eine klassische Ayurveda-Ölmassage aus weiblicher Hand angedeihen lassen. Ich andererseits wünsche mir einen gepflegten Herren-Vollservice unter Miteinbezug von Ayurveda-Massage.
Hier endet das Kapitel. Anständige Leute, Moralapostel und solche, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben, geben sich mit dem jetzigen Informationsstand zufrieden. Wer wissen möchte wie es mit Leela und den Wogen der Lust weiter gegangen ist, was es mit der Victorinox Swiss Card Classic auf sich hat und was Swami Pitcairn auf seiner Männerrunde sonst noch wiederfahren ist, liest meinen separaten Reisebericht Ayurveda forever. Du darfst dich aber im Anschluss nicht entsetzen und bei mir beschweren.
Kerala
Unser Reisefokus ist neu auf Alleppey (Alappuzha) ausgerichtet, ein bekannter Ausgangsort für Bootsfahrten durch die Backwaters. Auf dem Weg dorthin an der Küste liegt Thiruvananthapuram (Trivandrum), die Hauptstadt des Staates Kerala, welche auf sieben Hügeln errichtet wurde. Der Bundesstaat wird vom Arabischen Meer im Westen und von Tamil Nadu im Osten flankiert. Es gibt eine lange Uferlinie mit international berühmten Stränden, historische Denkmäler, Stauwasserausdehnungen und ein reiches kulturelles Erbe. Wir machen einen Stopp und beschränken uns auf die Besichtigung des grössten Tempels, der leider unter Renovation steht und voll eingepackt ist.
Nach einem kurzen Intermezzo verlassen wir die Stadt und reisen weiter nach Alappuzha (Alleppey). Hier gibt es ein Netzwerk aus Flüssen, Kanälen und Seen, welches sich tief ins Hinterland hineinzieht. Früher gab es wenige Strassen und die Wasserwege dienten zum Transport von Gütern. Heute tuckern viele Touristen für teures Geld mit Hausboot, eigener Crew inkl. Massala-Koch durch die Gewässer. I do it my own way – as usual, nämlich mit State-Water–Transport, d.h. mit dem öffentlichen Fährschiff und tuckere von Alleppey nach Kottayam (Rs 10, 2 ½ -Stunden). Danach hat man mehr als genug. Wie ein öffentlicher Bus hält das Boot unzählige Male an Anlegestellen um Passagiere ein- und aussteigen zu lassen. Ich bin nicht willens und bereit, für einen Tag Hausboot Rs 8‘000 hinzublättern und mich 24 Stunden den Mücken auszusetzen, selbst wenn ich die Kosten mit meinem Reisekumpel teilen kann. Dem nicht genug, wird mich der Koch mit seinen Massala-Gerichten heimsuchen und ich kann nicht in ein anderes Lokal flüchten. Selbst meine Geliebte – diesmal nicht dabei, würde nicht auf eine romantische Bootsfahrt drängen. In der Budgetierung ist sie der gleiche Batzenklemmer wie ich, darum passts ja so gut. Als wir in Kottayam eintreffen, wartet Fahrer Babu wie bestellt am Anleger.
(Weitere Fotos, siehe separate Bildstrecke, da Limite erreicht)
Kochi
Die Reise geht weiter nach Kochi (Cochin). Driver Babu ist völlig ortsunkundig und zum ersten Mal in seinem Leben in Kochi. Er fragt unzählige Male nach dem Weg, bis wir das ausgesuchte Hotel finden. Es scheint eine indische Eigenart zu sein, Antworten immer von mehreren Personen, unabhängig voneinander, einzuholen. Daher hält er noch weitere zwei Male an und fragt nach dem Weg. Ich habe für dieses Verhalten nie eine Erklärung bekommen. Es dürfte allenfalls damit zusammenhängen, dass Inder bei Unwissenheit manchmal irgendeine falsche Antwort geben, um nicht das Gesicht zu verlieren. Noch weniger zu verstehen ist, weshalb Woody seinen Fahrer nicht mit einem Navi ausrüstet. Die mobilen Dinger kosten nicht alle Welt und jeder, der eine Hilfsschule besucht hat, kann sie bedienen. Nachdem wir schliesslich das Hotel finden, stellen wir fest, dass keine Zimmer mit Einzelbetten ausgestattet sind. Im Hotel Grand Saisons, Chittor Road, Ernakulam, Kochi 682016, www.hotelgrandseasons.com werden wir nach dem Runterhandeln per Handschlag mit Rs 2‘000 inkl. Morgenessen und gratis WiFi fündig. Die luxuriöse Unterkunft ist eindeutig zu teuer, doch wollen wir endlich unser Besichtigungsprogramm beginnen und keine wertvolle Zeit in der chaotischen Innenstadt verlieren.
Kochi ist ein lebendiges Zeugnis einer bewegten Vergangenheit. Verschiedene Kulturen haben hier gewirkt. Das Ergebnis ist eine Mischung von mittelalterlichem Portugal, Holland und englischem Dorfleben – alles versetzt an die Malabar-Küste. Hier kann man ideal in die Historik eintauchen. Kochi besteht aus einer Reihe von Inseln und Halbinseln sowie dem Stadtteil Ernakulam auf dem Festland, wo wir übernachten. Durch Brücken und Fähren sind alle miteinander verbunden. Die historischen Sehenswürdigkeiten befinden sich in Fort Kochi. Wir setzen von Ernakulam mit der Fähre (Jetty, 3 Rs) über und erreichen Fort Kochi in 20 Minuten. Von den Häusern der kolonialen Vergangenheit heben sich besonders die St. Francis Church und das Haus von Vasco da Gama hervor – heute ein Homestay - welcher 1498 im Auftrag der portugiesischen Krone an Land ging. Er gilt als erster europäischer Entdecker Indiens und segelte seinerzeit zuerst der afrikanischen Westküste entlang, um das Kap der Guten Hoffnung herum und dann wieder nordwärts. Mit Hilfe eines afrikanischen Navigators, den er in Ostafrika an Bord nahm, erreichte er schliesslich Indien.
In Kochi gibt es verschiedene Kontore, in denen noch heute mit Gewürzen en gros gehandelt wird. Es riecht hier wunderbar nach Pfeffer, Gewürznelken, Kardamom, Zimt, Sternanis, Ingwer und vielen anderen Gewürzen. Auch am darauffolgenden Tag nehmen wir die Fähre vom hektischen Ernakulam nach Fort Kochin. Hier ist es sooo ruhig, kaum ein Auto, nur gelegentlich kommt eine Auto-Rikshaw. Die Wasserfront ist gesäumt von chinesischen Fischernetzen, es gibt Gewürzmärkte, ein jüdisches Viertel mit Friedhof und Synagoge, einige nette Restaurants, originelle Unterkünfte und jede Menge Touristenshops. Die Riksha-Wallas bieten Besichtigungstouren für wenig Geld an. Bald merkt der Tourist weshalb; er wird ungefragt zu Souvenirläden chauffiert. Wir weigern uns und es gibt Ärger. Die Rikshaw-Fahrer erhalten von den Shops Kommissionen und machen für die Fahrt mit den Touristen eine Mischrechnung. Wenn ein Tourist nicht konform ist – und ich bin prinzipiell nie konform -, geht die Rechnung des Coolie nicht auf. Das nächste Mal möchte ich gleich von Anbeginn hier in Fort Kochin übernachten. Wenn die Hitze nicht zu gross ist, kann man auch längere Distanzen laufen oder ein Fahrrad mieten.
Wir befinden uns immer noch in Indien! Ein anderer Nepper will uns für einen völlig überrissenen Preis eine Schiffsrundfahrt verkaufen. Eigentlich sind wir interessiert, setzen jedoch ein Pokerface auf. Wir erhalten die Zusicherung, dass das Schiff wirklich zur besagten Zeit den Anlegeort verlässt und nicht erst bei Vollbesetzung. Der Vermittler kann uns den Kahn nicht zeigen; er ist noch nicht eingetroffen. Wir lassen den Schlepper zappeln und schlendern in der näheren Umgebung herum, bis er uns ruft und auf ein einfahrendes Schiff zeigt. Beim Fahrkartenschalter handeln wir einen reduzierten Preis aus, der Mann bekommt endlich seine kleine Provision. Die Schiffsrundfahrt ermöglicht uns eine zusätzliche Perspektive auf Kochi und andere Inseln. Wir teilen das Oberdeck mit zwei indischen Ehepaaren, welche die Tickets sogar noch 100 Rs günstiger erstanden haben.
(Foto siehe separate Bildstrecke)
Nilgiri Mountain Railway
Mettupalayam liegt 350 Meter über Meer und da müssen wir hin, um unseren Schmalspurzug zu erwischen. Die Strecke ist leicht ansteigend, die Landschaft unspektakulär wie mehrheitlich auf der ganzen Reise durch Südindien. Von Kuchi aus erreichen wir nach gemütlicher Fahrt und einigen Teepausen in sechs Stunden Mettupalayam. Wir wohnen im Hotel EMS Mayora, für Rs 1‘400 inkl. Steuern, dem einzigen passablen Hotel in der Stadt. In der Kellerbar wie auch im Restaurant gibt es legalen Alkoholausschank, was in Indien bereits ein Prädikat für besseren Service und gehobenen Standard ist. Nicht alle Hotels leisten sich eine Lizenz. Zu zweit unternehmen wir einen Spaziergang vom Hotel zum Busbahnhof ins nahe gelegene Zentrum um die Kleinstadt zu observieren und ein paar Einkäufe zu machen. Die City ist typisch indisch, Null-acht-Fünfzehn mit viel Verkehr, Dreck und fehlenden Bürgersteigen. Trotzdem macht es Spass, mit den Ladenbesitzern zu verhandeln und das emsige Treiben zu beobachten.
(Foto Mettupalayam siehe separate Bildstrecke)
Babu fährt uns zum Bahnhof. Wir wollen Tickets für die Dampfeisenbahnfahrt am nächsten Tag beschaffen. Der zuständige Schalterbeamte ist nicht anwesend und sein Kollege im Fenster rechts, weist mich mit einem stummen Fingerzeig an, zu warten. Nach einer halben Stunde ist der zuständige Mann endlich da und händigt mir ein Formular zum Ausfüllen aus. Ich werde von der indischen Warteschlange hinter mir zur Seite gedrängt, doch gebe ich meinen Vorzugsstandort neben dem Schalterfenster nicht preis. So weit wie es mir möglich ist beantworte ich die Fragen, doch die Zugnummer, Abfahrtszeit etc. kenne ich nicht. Mit dem rechten Arm ergreife ich von links den rechten Rahmen des Schalterfensters und dränge die nachrückende Meute weg. Ich strecke das unfertig ausgefüllte Formular dem Beamten entgegen, doch der ist nicht gewillt, die paar Ergänzungen selber vorzunehmen. Und so kommt es, dass er diktiert und ich schreibe. Das tut meinem Ego keinen Abbruch, obschon ich genau weiss, dass das arme Schwein einen Minderwertigkeitskomplex hat und dringend eine Therapie absolvieren müsste. Er ist sich nicht bewusst, dass er seinen Arbeitsplatz einem Schweizer zu verdanken hat. Endlich kommt das Erfolgserlebnis und ich erhalte einen Fahrschein aus dem Matrixdrucker anno 1992 für den Transport von zwei Sahibs für den morgigen Zug um 7.10 Uhr. Darauf habe ich viele Jahre gewartet, denn diese Bahnfahrt stand seit langer Zeit auf meiner Reise-Wunschliste. Generell sind Eisenbahnfahrten meine ganz grosse Leidenschaft. Wenn irgendwo etwas auf Schienen rattert, muss ich einsteigen.
Mittlerweile ist später Nachmittag geworden und der Bahnhof erstrahlt in einem Licht, das jedes Fotografenherz erfreut. Ich nehme die Gelegenheit wahr, spaziere zum Lokschuppen und zur Wagenreparaturwerkstätte und lasse mir von einem freundlichen Bahnarbeiter alles erklären. Zwei Lokomotiven stehen noch unter Dampf und eine wird herausgefahren. Ich habe mehr als genügend Zeit. In Anlehnung an das vorgegebene Histogramm mache ich Einstellung um Einstellung und drücke genüsslich auf den Auslöser wie auf die Brustwarze einer Jungfrau. Ganz klar, Fotografieren kommt vor gutem Sex. Vom einfahrenden Nilgiri-Zug, aus Ooty herkommend, mache ich Bilder, später auch vom Führerstand der leeren Passagierwagen.
Ooty liegt in den Nilgiri-Bergen auf 2‘250 Metern über Meer. Ooty ist eine Abkürzung von Ootacamund. Offiziell heisst der Ort Udagamandalam, doch niemand nennt in so, alle sprechen nur von Ooty (sprich Uuti). Hier herrscht auch im Sommer ein angenehmes Klima, während im Flachland die Temperaturen häufig über 40 Grad Celsius hochschnellen. Wegen seiner Höhenlage war der Ort auch bei den britischen Kolonialherren sehr beliebt. Doch der Weg dorthin, ob mit Gaul oder Ochsenkarren, war beschwerlich. So wurde die Idee einer Bahn geboren. Die Briten hatten allerdings keinen blassen Schimmer von Bergbahnen und fragten zur Planung deshalb den Schweizer Niklaus Riggenbach an. Der Ingenieur hatte weltweit als Erster das Zahnradsystem patentiert und die Vitznau-Rigi-Bahn (VRB) erbaut. Im Alter von 63 Jahren nahm Riggenbach die Aufgabe an und reiste nach Südindien. In monatelanger Arbeit schritt er den Weg nach Ooty ab, um die optimale Linienführung für das Bahntrassee zu finden. In panischer Angst vor Schlangen, kämpfte er sich mit der Machete durch den Dschungel. Riggenbach leistete perfekte Arbeit. Trotzdem dauerte es fast 20 Jahre bis die Nilgiri Mountain Railway (NMR) 1899 eröffnet wurde. Im Juli 2005 nahm die UNESCO die NMR als Ergänzung zur Darjeeling Himalayan Railway auf die Liste des Weltkulturerbes, nachdem sie die Voraussetzungen erfüllte. Es ist die einzige indische Zahnradbahn. Der Zug legt eine Entfernung von 46 Kilometer zurück, dabei fährt er durch 208 Kurven, 16 Tunnel und über 250 Brücken. Die Bergfahrt dauert etwa 300 Minuten, die Talfahrt 215. Der Zahnradabschnitt beginnt nach 8 Kilometer und einer Elevation von 413 Meter in Kallar.
Eine gute Stunde vor Abfahrt sind wir auf dem Bahnhof. Trotzdem hat sich bereits eine grosse Menschenschlange, mehrheitlich Westler, gebildet. Jemand verkauft Chai, Goffi und Samosas. Eine dreiviertel Stunde vor Abfahrt können wir in geordneter Reihenfolge unsere Plätze im Wagen einnehmen. Mit meinen langen Beinen ist es mir nicht möglich am Fenster zu sitzen. Ich platziere mein rechtes Hinterteil schräg auf eine Aussenbank und strecke die Beine in den Zwischengang. Mein Reisekollege hat vorne im Wagen einen Fensterplatz ergattert, reist jedoch die ganze Strecke rückwärts. Mit dem mir gegenüber sitzenden Kanadier kommt eine interessante Konversation in Gang. Er ist mit zwei DSLR-Kameras ausgerüstet und in meinem Altersbereich. Der angegraute Traveller outet sich als ein passionierter Longterm-Backpacker nach meinem Gusto. Er sammelt Länder und ist seit Jahren unterwegs. Wie viele Länder ich schon bereist habe, will er wissen. Ich kann ihm diese Frage beim besten Willen nicht beantworten. Nie wäre es mir jemals in den Sinn gekommen, sie zu zählen - wozu auch. Einige Nationen gibt es mittlerweile gar nicht mehr, sie sind von der politischen Landkarte verschwunden; andere sind erst entstanden, nachdem ich dieses Territorium betreten habe. Ich weiss nur, dass ich in meinen intensivsten Reisejahren alle zwei Jahre einen neuen Pass benötigte, weil alle Seiten mit Visas vollgestempelt waren. "Es müssen schätzungsweise hundert sein“, gebe ich zur Antwort. "You’re already a captain“ bemerkt er erstaunt. "Es stellt sich die Frage, auf welche Weise man sie zählen muss“, ergänze ich. Da gebe es genaue Regeln, lässt er mich wissen. Ich erfahre, dass die Osterinseln (Rapa Nui) separat von Chile zu zählen sind. Auch die französischen Hoheitsgebiete in Polynesien wie Tahiti, Wallis, Neukaledonien sowie Franz. Guyana in Südamerika, gelten in seiner Vereinigung als einzeln besuchte Länder und zählen zusätzlich zur Mutternation.
Im Anschluss an die Eisenbahnfahrt brachte ich noch folgende Ergänzungsinformation in Erfahrung: Die Liste der Staaten der Erde führt alle Länder sowie deren Namen in Langform, Hauptstadt, Einwohnerzahl, Fläche, Bevölkerungsdichte, Flagge und Länderkürzel auf. Diese Liste umfasst zurzeit 193 Staaten, die Mitglied der Vereinigten Nationen (UNO) sind. Hinzu kommen 13 weitere Staaten, Nationen, Länder, Territorien, bei denen die Staatseigenschaft umstritten ist oder die sich in freier Assoziierung zu anderen Staaten befinden.
Mein indischer Sitznachbar am Fenster macht sich über eine Einweg-Aluminiumschale mit Massala und Roti her. Genüsslich tunkt er ein abgerissenes Stück des ungesäuerten Weizenfladens nach dem anderen in die gelbe Suppe. Gesättigt macht er sich an, das leere Alu durch das offene Fenster zu entsorgen. Eine grüne Pissnelke in der hinteren Reihe sieht es, gerät in Panik und versucht den Mann mit Schreikrämpfen von seinem Tun abzuhalten. "Dont do that“ schreit sie in Teutonen-Englisch durch den ganzen Wagen. Der Inder schaut zurück, versteht kein Wort, aber wohl ihre Absicht und lässt das Alu unbeirrt aus dem offenen Fenster fallen. Ende der Diskussion. Wir befinden uns freiwillig als Gäste in Indien. Die Leute brauchen unsere Belehrungen nicht. Hier gibt es keine Umweltpolitik, zumindest keine, welche der grossen ungebildeten Masse bekannt ist. Solche Reaktionen von unreifen Fundamentalnudeln – eigenartigerweise ausnahmslos immer Frauen – braucht dieses Land nicht, selbst wenn die Touristin im Kern der Sache eine gute Absicht bezweckt. Die Sorge zur Umwelt ist nur in westlichen Ländern ausgeprägt. Nur bei uns sind breite Bevölkerungsschichten für diese Problematik sensibilisiert. Die Dritte Welt hat in ihrer Sorgen-Hitparade ganz andere Prioritäten. Ein solches Theater wegen der Umwelt, kann sich nur ein wohlhabendes Land erlauben. In armen Nationen wird selbst der Ölwechsel von Motorfahrzeugen auf einer unasphaltierten Strasse durchgeführt. Glugg, glugg, und da tröpfelt das Altöl ins Gras.
Der Zug rattert durch die Berglandschaft und periodisch dürfen wir aussteigen. Das Panorama ist für einen verwöhnten Schweizer nicht spektakulär, vielmehr macht es Spass, die angehaltene Zugkomposition, den Lokomotivführer, die beiden Heizer, das Nachfüllen des Wassers und all die Inderinnen in ihren farbenprächtigen Saris zu fotografieren. Die meisten Passagiere sind Inder. Wir Touristen bilden eine Minorität. Die Dampfeisenbahn hat de facto keine Funktion als Erlebniszug, sondern vielmehr als Beförderungsmittel für die Einheimischen. Es werden reichlich Güter transportiert. Aus dem Zugfenster blicken Kinder und bitten um ein Foto. Grosses Gelächter macht sich breit, als ich ihnen das Ergebnis auf dem Display zeige; es ist das Mindeste, was ich als Dank anbieten kann. Schnell hole ich noch Chai und etwas Gebäck, um meinen Reisekumpel durch das Fenster von aussen zu versorgen. Der Arme kann seinen Standort im Wagen nicht verlassen, weil das Gepäck von den Reisenden im Gang turmhoch aufgeschichtet ist. Eine Ablage gibt es in diesem Toytrain nicht. Die Lokomotive pfeift zum Einsteigen und bald setzt sich der Zug wieder langsam in Bewegung. Die grüne Pissnelke in unserem Wagen macht erneut auf Panik, denn sie vermisst ihre Kollegin; doch ihr Schreien und Rufen geht im Dampfen und Zischen des anfahrenden Zuges unter. Wir sind nicht auf einer Privatfahrt. Das Personal nimmt auf solche Situationen keine Rücksicht. Hier in Indien muss jeder für sich schauen. Bei der nächsten Haltestelle zeigt sich, dass die Gesuchte in den falschen Wagen eingestiegen ist.
Die Zugfahrt uphill dauert satte 5 Stunden. Im oberen Teil der Strecke wird die Landschaft attraktiver und der Zug rattert an Teeplantagen vorbei. Auf der Sitzbank hinter mir sitzt ein Aussätziger, den Kopf mit einem Tuch umhüllt wie Lawrence von Arabien. Manchmal kommt sein Mund mit verfressenen schwarzen Lippen zum Vorschein. "Herrgott, was es alles für Krankheiten und Leiden gibt“ geht mir durch den Kopf. Kurz vor Ooty verlässt der Mann unseren Zug; wir rattern weiter bis zum Endbahnhof.
(Foto Ooty siehe separate Bildstrecke)
Ooty
Heute ist der Höhenort kein lauschiges Bergdörfchen mehr, sondern eine verbaute Kleinstadt mit farbigen Häusern, 100'000 Einwohnern und vielen Touristen pro Jahr. Das Schönste an Ooty ist der Weg dorthin - mit der Nilgiri-Dampfeisenbahn. Die Stadt kannst du in der Pfeife rauchen; sie bietet nichts, was du zwingend gesehen haben musst.
Zuverlässig wie immer, wartet Babu mit dem Wagen und unserem Gepäck vor dem Bahnhof. Wir gehen auf Hotelsuche und entscheiden uns für das Hotel Weeker zu Rs 400. Die Zimmer sind billig, aber auch nicht mehr als diesen Betrag wert. Um die Zeit totzuschlagen, besichtigen wir den Botanischen Garten und fahren anschliessend auf den höchsten Aussichtspunkt mit 2‘600 Meter über Meer. In der Nacht wird es empfindlich kalt und ich benötige drei Wolldecken, um die Kälte einigermassen abzuhalten.
Mysore
Auf der Strecke zwischen Ooty und Mysore liegt das Wildschutzgebiet Anai Mudi mit dem Bandipur National Park. Der Park ist für seinen reichen Wildbestand bekannt. Neben Tiger und Elefanten durchstreifen Gaur-Rinder, Rotwild, Panther, Lippenbären, Languren, Büffel und Wildschweine die Gegend. Obschon Lonely Planet klar darauf hinweist, dass Bandipur nicht der beste Ort ist um Wildtiere zu sehen, ist es meinem Reisekollegen ein ausgeprägtes Anliegen, hierhin zu kommen. Erwartungsgemäss behält LP recht und wir sehen nur Rotwild auf der Strecke von Ooty hinunter in die tieferen Gebiete. Wir sind uns schnell einig, dass wir auf die geplante 45 Minuten Safarifahrt verzichten und gleich weiterreisen.
In der Sandelholzstadt Mysore angekommen, wiederholt sich ähnliches Gebaren wie seinerzeit vor dem Taj Mahal in Agra. Vor dem Eingang zum Maharadscha-Palast scheinen sich sämtliche Souvenirverkäufer, Schlangenbeschwörer, Schlepper und Bettler der Stadt versammelt zu haben. Jeder versucht, dem Touristen eine Rupie abzuluchsen. Auf dem Weg zum Ticketschalter muss ich ein paar ganz aufdringliche Männer lautstark in ihre Schranken weisen. Nach der Leibesvisitation und dem Durchleuchten des Tagesgepäcks, haben wir Ruhe und bleiben auf dem grossen Palast-Areal ungestört. Fotografieren ist nur draussen, nicht aber im Palast erlaubt. Das Equippement muss an einem bestimmten Schalter deponiert werden. Wie in einem Tempel müssen wir im Palastinneren die Schuhe auszuziehen. Der Maharadscha-Palast ist unbestreitbar das touristische Herzstück von Mysore. Selten habe ich einen solch märchenhaften Palast gesehen. Wir sind von dem gigantischen Ausmass und der grandiosen Umgebung sichtlich beeindruckt. Nebst dem Taj Mahal erachte ich den Maharadscha-Palast von Mysore als das bedeutendste Bauwerk in Indien. Wenn mich jemand fragt, was man in Indien gesehen haben muss, gehört dieser Palast auf die To-do-Liste. Weiter nenne ich das Taj Mahal in Agra, die 1001-Nacht-Stadt Jaiselmer sowie den Pilgerort Varanasi. Mit Bestimmtheit gibt es noch mehr Spektakuläres und deshalb ist Indien immer wieder für eine neue Reise gut. Nach der Palast-Abschreitung reisen wir weiter und übernachten auf halber Strecke nach Goa in Shimoga.
(Foto Mysore siehe separate Bildstrecke)
Indiens höchster Wasserfall
Von 293 Meter Höhe fällt das Wasser in die Tiefe und ist zu Zeiten des Monsuns am eindrücklichsten. Allerdings werden die Wassermengen von einem vorherigen Staudamm gebändigt. Die Jog-Fälle gelten als höchste Wasserfälle in Indien und sind einen Besuch wert, wenn man ohnehin in der Region ist. Wer sich die Mühe macht, kann auf einem Pfad von 1‘200 Stufen hinunter wandern und bekommt eine besondere Perspektive auf die Fälle. Es sind praktisch nur indische Ausflügler und ganze Schulklassen Vorort zu sehen. Am Boden sitzend nehmen sie ihre mitgebrachte Mahlzeit ein und erfreuen sich dieser willkommenen Abwechslung. Wir fahren weiter Richtung Goa. Babu müssen wir periodisch in seiner typisch indischen Fahrweise mässigen. Er kann nicht aus seiner Haut raus und setzt immer wieder zu riskanten Überholmanövern an; er vergisst, dass wir komfortabel chauffiert werden wollen und nie in Eile sind. Eine Kolonne von Fahrzeugen anzuführen ist für uns nicht von Belang. Womöglich überfahren wir noch eine heilige Kuh und riskieren, von den Dorfbewohnern gelyncht zu werden. Aus indischer Sicht wäre es weniger schlimm, ein kleines Mädchen plattzuwalzen. Unfassbar, aber das ist Hinduismus!
(Foto Jog-Waterfalls siehe separate Bildstrecke)
Garten Eden auf Zeit
Goa blickt auf eine 450 Jahre lange portugiesische Prägung zurück und wurde Indien erst 1961 eingegliedert. Die Sitten waren hier immer wesentlich lockerer als im übrigen Land. Kein anderer Bundesstaat wurde so stark europäisch geprägt, nirgendwo gibt es einen so grossen christlichen Anteil. Ende der 1960er-Jahre nahm die Karawane der Blumenkinder ihren Anfang und die ersten Aussteiger entdeckten die Strände am Arabischen Meer. In westlichen Ländern probte man den Aufbruch und die Rebellion gegen die sogenannt biedere Gesellschaft. In das Transistorradio kam nachts auf Mittelwelle neuer Sound rein. Gehuldigt wurde dem Piratensender Radio Veronika, der ausserhalb der Zehnmeilenzone vor den Niederlanden her einstrahlte wie auch die englischsprachigen Sender von Radio Luxemburg und Radio London W1.
Über den Äther gingen Songs von den Gruppen The Kinks, The Move, Loving Spoonful, Mamas & the Papas, The Monkeys, Donovan, Sonny & Cher, Bob Dylan, Joan Baez, Marianne Faithful, Humble Pie, Small Faces, aber auch stillere Töne von Esther & Abi Ofarim, Leonard Cohen, George Moustaki, Michael Polnareff schepperten in schlechter Qualität durch den Radiolautsprecher. Ab 17 trieb ich mich an verlängerten Wochenenden und in den Ferien vermehrt in Paris, Amsterdam oder London herum. Wenn nicht per Anhalter, erreichte ich die Metropolen mit dem Zug. Am Freitagabend in den Nachtzug und dann durchpennen bis in den Gare de Lyon. Damals war TGV kein Begriff. In der Gewissheit, eine Hotelnacht gespart zu haben, ging es dann schnurgerade in eines der ersten geöffneten Bistros zum Petit Déjeuner. Noch immer höre ich die Melodie von Jacque Dutronc, Il est cinq heures, Paris s’éveille. Tagsüber gab's Kultur auf die Hirnrinde, nachts war die Gegend um St. Michel gesetzt und zu später Stunde kehrte ich in meine Absteige nach St. Denis zurück. In London wurde im legendären Tiffanys abgetanzt und tagsüber in der Kings- und Carnaby-Street nach ausgefallenen Klamotten gesucht. In Amsterdam waren die Schiffe auf den Grachten unsere Schlafstätte und das Paradiso und der Melkweg unser Zeitvertreib zu nächtlicher Zeit. Das war Freiheit, unangepasstes Leben in vollen Zügen wie es mir behagte und heute noch ansatzweise der Fall ist. Der Flower-Power nahm seinen Anfang in Kalifornien. Ab 1967 erschallte die Hymne San Francisco von Scott McKenzie. Der richtige Song, der richtige Mann, zum richtigen Zeitpunkt – selten hat etwas so perfekt zusammen gepasst. Im selben Jahr pilgerten The Beatles als Vorreiter in den Ashram von Maharishi Mahes Yogi nach Rishikesh in Nordindien.
Die Welle schwappte 1969 mit Woodstock über nach Westeuropa. Die Menge rief nach gleichmachenden politischen Systemen. Eine grosse Friedensbewegung unter Mitwirkung der Künstler Joan Baez und Bob Dylan wandte sich gegen den Krieg in Vietnam. Postkarten mit vielversprechenden Aussagen der Avantgarde aus Indien erreichten uns in Europa. Es war nicht mehr auszuhalten, wir mussten bei nächstbester Gelegenheit auch Richtung Osten. Die Berufsprüfung war geschafft, die Grundausbildung im Militär abgeschlossen, die Offizierslaufbahn verweigert und die besonders Dummen hatten ihr Studium abgebrochen. Die wirtschaftliche und politische Konstellation war günstig und der Landweg nach Asien problemlos und zu geringen Kosten zu bewältigen. Von einem spirituellen Weltbild beseelt, brachen junge Leute zum Bhagwan nach Poona und weiter nach Goa oder Südostasien auf. Dort konnte man herumhängen, faulenzen, baden, tanzen, philosophieren und kiffen. Die Protzsucht, die Vollkaskomentalität, fehlende Wärme, mangelnder Tiefgang, der Umgang mit Ausländern, gesellschaftliche Schranken und Hürden waren die vermeintlichen Ursachen.
Vor der Abreise war für Erstreisende in Indien immer alles besser - bis zur Konfrontation mit der Realität. Selbst ein günstiger Sitzplatz im Bus oder im Zug musste erkämpft werden. Das war damals so und ist heute nicht anders. Der Slogan Wir reisen in vollen Zügen kann hier wörtlich genommen werden. Mit diesen Erfahrungen im Kopf wurde das Europabild schnell relativiert. Wer durch Indien gereist ist, hat die Trostlosigkeit und den Stumpfsinn der Armut erfahren. Hier erwarteten die einheimischen Jugendlichen keine Herausforderung, keine Gegenwart, keine Zukunft. Nichts trieb die Halbwüchsigen an. Kein Tag war anders als der Tag zuvor. Kein Jugendlicher bot den ewig gleichen Gedanken seine Stirn und stellte etwas in Frage. Es ging ein Fatalismus umher, der jede Idee am Ausbrechen und Freiheit zunichte machte.
Von Europa wegrennen, bedeutete noch lange nicht, anderswo ankommen. In Indien wurden die Aussteiger gezwungen, ihre Träume sukzessive mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Sie konnten sich nicht mehr selber betrügen, denn es war alles anders, als in ihren Vorstellungen. Das Leben hier war für nutzlose Fresser eine angenehme Abwechslung vom Alltagstrott in Europa, herumlungern und nichts tun. Indien war aber nicht der richtige Ort, um sich mit einheimischen Frauen beschaulich ins Nirwana zu vögeln; das war nur mit Girls aus dem westlichen Kulturkreis denkbar. Die Ashrams lockten viele an wegen der freien sexuellen Ordnung und nicht wegen ihrer spirituellen Lehre; zu seinen wahren Beweggründen hat sich gegenüber mir nie jemand bekannt.
Irgendwann war die Luft draussen, die innere geistige Leere unverändert manifest, der Lebenssinn nicht gefunden und ohne etwas Kohle war auch das Leben im Lande Gandhis nicht nach westlichem Gusto. Wer wollte schon hier wie in der untersten Kaste leben. Die Drogenabhängigen verscherbelten ihre Reisepässe und machten überschüssige Klamotten zu Geld, um den Aufenthalt etwas zu verlängern bis irgendwann der Hammer der Behörden wartete. Manch einer kam der Polizei zuvor und setzte sich vorher eine Überdosis. Bereits damals erkannte ich, dass die schweizerische Nationalität mit einem Haufen Privilegien verbunden ist. Gestrandeten Landsleuten half unsere diplomatische Vertretung im Gegensatz zu Frankreich und anderen Nationen, die ihre Leute hängen liessen. Indien ohne Geld gefällt nicht. Da war es das kleinere Übel nach Europa zurückzufliegen – meist mit Aeroflot via Moskau - und eine Weile zu jobben, Kohlen zusammenzukratzen und wieder nach Goa abzuhauen. Arbeiten konnte man zu Zeiten der Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung immer sofort und musste nicht lange suchen. Wer im Hotel Mama wohnte, kein Auto fuhr und behutsam mit den Mitteln umging, hatte spätestens nach einem Jahr wieder genügend Kröten auf der hohen Kante um für eine Weile in Indien oder in Südostasien herumzuhängen.
Der Magic-Bus fuhr für wenig Geld periodisch ab London über Amsterdam, Türkei, Iran, Afghanistan, Pakistan nach Indien. Ausgeflippte Hippies reisten gemeinsam Richtung Osten und allenfalls auch zurück. Die rolling Party mit heissem Sound ab Music-Cassetten und einem ständig zugekifften Fahrer und Passagieren, dauerte bis Delhi sieben, acht Wochen und die Zeit verging wie im Fluge; kein Wunder, wenn alle stets zugedröhnt waren. In Teheran – zu Zeiten von Schah Reza Pahlewi - gab es meist einen Stopp, um alte Impfungen für einen Pappenstiel aufzufrischen (und guten Charras zu bunkern). Auf anderen Trips erwischte man einen free Ride mit einem Truck bis nach Istanbul oder Teheran. Die Lastwagenfahrer waren froh für Abwechslung und Unterhaltung auf dem langen Weg. Hinzu kam der Sicherheitsaspekt. In Indien eingetroffen, gab es bezahlbare Oneway-Flüge nach Bangkok um Südostasien abzuklappern. Rückflugtickets waren damals bei der Einreise kein Thema. Southeast-Asia on a shoestring steigt in meinen Erinnerungen hoch: Malaysia Hotel, Bangkok, Butterworth, Penang, Bugis-Street, Singapore – doch das sind andere Geschichten.
Goa heute
Was für Leute umgeben mich heute in Goa? Vergammelte Langzeiturlauber, die den kalten Winter in Europa überbrücken, Allerewigkeits-Aussteiger die seit über 30 Jahren keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen und täglich Joints einfahren; Vielleicht parasitäre Nichtstuer, die zuhause den Sozialstaat plündern, Sozialhilfe und Hartz IV beziehen und sich an der Wärme ein relaxtes Leben zulasten der dummen arbeitenden Bevölkerung zuhause gönnen? Daheim in der Stadt merkt eh kein Schwein, wo du dich gerade aufhältst. Zu Zeiten der Lowcoastcarrier ist der Sozialbetrüger, wenn nötig, in kurzer Zeit wieder zuhause in der Kälte und kann im Amt antreten, wenn nach ihm verlangt wird. Einige der aktiven Pioniere von damals betreiben heute ein kleines Verkaufsgeschäft, eine Verpflegungsstätte oder ein Cyber-Café.
Eine neuere Kategorie Touristen bilden die russischen und israelischen Junghippies, die nach einer Weile wieder verschwinden. Auf schweren gemieteten Royal Enfield Bullet 500 Classic EFI rattern sie ohne Helm, mit Shorts und in Gummilatschen über die Strassen, vorbei an Reisfelder, lieblichen portugiesischen schneeweissen Kirchen und ihre Dreadlocks flattern im Wind. Ein voller Geldbeutel ist wichtiger als eine Fahrerlaubnis. Goa ist nach wie vor ein Garten Eden für Freaks und Aussteiger auf Zeit. Zugegeben, es ist ein erhebendes Gefühl, mit einer satten Maschine über Goas Strassen zu tuckern und mit transzendentem Blick die Pampa zu geniessen, meist in zugedröhntem Zustand: Easy Rider mit indischer Kulisse. Doch aufgepasst, gerade in Goa sind die weissen Verkehrsteilnehmenden oft unberechenbar und verantwortlich für viele Unfälle; berichtet mir ein Ladenbesitzer.
Die im Vergleich zum Rest Indiens, niedrigen Alkoholpreise machen Goa zu einem beliebten Ziel indischer Touristen. Die kulturellen Unterschiede zu anderen indischen Bundesstaaten werden auf den ersten Blick deutlich: Frauen tragen in Goa oft westliche Kleidung und wagen am Strand auch schon mal einen Bikini anzuziehen.
Oft handelt es sich um Besuchergruppen höherer Gesellschaftsschichten aus Mumbai.
Foto Goa, siehe separate Bildstrecke)
Die Speisekarten in einigen Lokalen sind auf diese neuen zahlungskräftigen Gruppen angepasst. Die 1970er-Jahre sind endgültig vorbei und was jetzt in Goa abläuft ist ein lauwarmer Aufguss der seinerzeitigen Szene. Lockt hier die Erleuchtung? Vielleicht nicht, aber trotzdem ist Goa heute alleweil ein paar Tage Urlaub wert. Goa ist nicht das klassische Indien und ist es auch nie gewesen. Immer stand es im Verlaufe der Jahrhunderte unter westlichen Einflüssen. Vielleicht gefällt es mir gerade deswegen so gut hier.
Trance Music Sunset
Im südlichen Teil Goas siedeln heute viele Pauschaltouristen und Luxusreisende. Fette Rentner in orthopädischen Turnschuhen lümmeln in gepolsterten Liegestühlen. Per Hotelbus werden sie am Flughafen abgeholt und nach zwei Wochen wieder hingekarrt. Ob sie wohl realisieren, dass sie in Indien und nicht auf Gran Canaria sind? Für einen alternden 1968er ist der nördliche Teil die ideale Destination um nach einer anstrengenden Südindienreise ein paar Tage abzuhängen und nach den letzten Resten der legendären Tranceparties seiner Jugend zu suchen. Hier gibt es noch die Szene, doch hat sie sich vom Strand in die Clubs und Restaurants zurückgezogen, seit die indischen Behörden restriktiv gegen Lärmemissionen vorgegangen sind. Hier reiht sich ein Dorf und ein Strand an den anderen. Calangute, Baga, Anjuna, Vagator, Chapora, Arambol, Mandrem, ..und und und, heissen die Orte, wo die Leute mehr Reggae auf die Ohren kriegen als in Montigo Bay.
Ich habe mir in einzelnen Ausflügen eine Anzahl Dörfer angeschaut - Anjuna entspricht meinen Bedürfnissen nach wie vor am besten. Wo du auch sitzt, die meisten Lokale bieten Meeresblick. Das trifft sonst nicht überall zu. In den Läden werden indische Götterstatuen, Schmuck, tibetische Utensilien, Second-hand-Bücher, wunderschön bedruckte Saris und Tücher, aber auch indische Kleidung in allen Farben angeboten. Tatsache ist, dass nur die wenigsten Inder solche Klamotten anziehen würden. Um 17 Uhr gönnst du dir bei einer grossen Flasche Kingfisher einen Trance Music Sunset und soon after dark, steigt dann die Party im Strandlokal. Das Leben ist schön, lass uns die Musik lauter stellen. Drogen werden hier an jeder Ecke verkauft, doch hüte dich zu glauben, dass alles legalisiert wäre. Nach einer Weile der Inaktivität statuiert die Polizei periodisch immer wieder ein Exempel und ein armes Ausländer-Schwein wandert dann für lange Zeit im Staatsgefängnis hinter Gitter. Für Westler wird dann jeder Buchstabe des Gesetzes aufs Genaueste angewendet und mit der Entrichtung einer Sondergebühr unter der Hand ist in solch offiziellen Fällen nichts zu machen.
Durch ein Labyrinth aus leuchtend bunten Saris an einer Wäscheleine findest du den Weg zum Strand. In einigen Lokalen gibt es WiFi auf deinen Laptop – eine Hommage an das neue Goa - und du bist mit der Welt verbunden, wo immer du auch nur einen Drink bestellst. Ohne Fahrzeug macht Goa nur halben Spass, aber ein Roller tut es auch.
(Foto Anjuna siehe separate Bildstrecke)
Ich wohne im White Negro Guesthouse, einer sehr einfachen und ruhigen Unterkunft. Es ist Saison und das Zimmer kostet Rs 900. Langzeiturlauber erhalten Rabatt. Das Bettzeug ist sauber, die Zimmer werden aber nicht jeden Tag frisch hergerichtet. Mary absolviert hier seit zehn Jahren eine Karriere als Room Maid und kann sich mittlerweile ein wenig auf Englisch verständigen. Ich regle erweiterte Servicebedürfnisse direkt mit ihr. Ich benötige täglich mein Moskitonetz ordentlich aufgehängt sowie zwei frische Badetücher, eines für den Strand und eines für die Dusche. Das alles kostet mich ein freundliches Lächeln und einmal hundert Rupien Bakschisch. Basta – ich bin organisiert und die Wäsche macht sie mir auch noch. Der Weg ans Meer und zu den zahlreichen Lokalen dauert zu Fuss nicht länger als drei Minuten. Für die Rückkehr nachts ist eine Taschenlampe von gutem Nutzen. Nicht weil es gefährlich wäre zu dunkler Stunde rumzulaufen, sondern damit man nicht in die Scheisse der heiligen Kühe und der herumstreunenden Köter tritt.
Im Guesthouse hat jedes Zimmer eine kleine Veranda mit Sitzgelegenheit. Neben mir wohnt Geyr (53) aus Norwegen. Ein lieber Kerl, der mit sich und seiner Welt wohl vor langer Zeit Frieden geschlossen hat. Beruflich ist er selbständig und betreibt zuhause eine Imkerei. Er arbeitet von Frühjahr bis Herbst. Sobald der Honig eingebracht und die Jahresproduktion auf dem Markt verkauft ist, zieht es ihn Richtung Wärme. Zuhause lebt er auf dem Land in einem Mehr-Generationenhaus mit seinen Kindern, Enkelkindern und Eltern. In Oslo besitzt er ein Stadthaus und es scheint ihm gut zu gehen. Er ist zum zehnten Mal hier und überwintert jedes Jahr von November bis Ende Februar im selben Guesthouse und Zimmer. Sein Gebaren und sein Lebenswandel wirken auf mich sympathisch und bescheiden. Tagsüber sitzt er auf seiner Veranda und hat immer Zeit für einen Schwatz und ein paar Bierchen. Nachts ist er unterwegs und kommt selten vor 4 Uhr morgens ins Gästehaus zurück. Dann schläft er wenige Stunden und sitzt meist schon wieder vor acht Uhr auf der Veranda.
Mein Reisekollege hat nur ein paar Jahre mehr auf dem Zähler als ich, tendiert aber schon Richtung Altersheim. Es kommt nicht darauf an, wie alt man ist, sondern wie man alt ist. Zu Bezeichnungen Techno, Chillout, House und Trance hat er keinen Bezug und die Musik in den Lokalen empfindet er eher als störend. Nach dem Nachtessen zieht er sich mit Vorliebe regelmässig ins Gästehaus zurück, um noch ein Telefon von seiner Geliebten aus der CH zu empfangen und sich anschliessend in seinem gestreiften Schweizer-Schlafanzug zur Ruhe zu legen. Das zweiteilige Ding hat ihn auf seiner ganzen Indienreise begleitet und ich könnte ihn mir gar nicht mehr ohne vorstellen. Noch nie bin ich zeitlebens mit jemandem zusammengereist, der unterwegs ein Nachtgewand benötigt hat. Normalerweise zieht man sich nach dem Duschen für die Nacht ein neues T-Shirt und Unterwäsche an. Das sind dann auch gleich die Klamotten für den neuen Tag.
Geyr weiss immer, in welchem Dorf abends Livemusic gespielt wird. So habe ich mich öfters mit ihm verabredet und als Dank und Wertschätzung gleich noch meinen indischen Fahrer eingeladen; Babu – ein ehrlicher und lieber Kerl, gefangen in seiner Mentalität, Religion und Kultur. Die meisten Nächte verbrachte er im Auto wie es bei Berufsfahrern hierzulande üblich ist. Nur in gehobenen Unterkünften gab es vereinzelt ein Dormitory für Driver. Ausbedungen haben wir in jedem Hotel zumindest einen sicheren Abstellplatz für sein Auto und die Benutzung von sanitären Anlagen. War dies nicht möglich, erlaubte ich ihm in unserem Zimmer zu duschen; sehr zum Missfallen meines Reisekumpels. Einzig im kalten Ooty buchten wir für Babu ein Hotelzimmer. Nun ist er am Ende einer langen Reise angelangt und freut sich, bald zu seiner Familie nach Pondy zurückzukehren.
Anjuna
Eine unverzichtbare Goa-Erfahrung ist der Mittwochsmarkt in Anjuna. Hier gibt es alles zu kaufen, was die indische Souvenirindustrie zu bieten hat und der Tourist nicht braucht. Selbst Männer und Frauen aus den nördlichen Provinzen Punjab, Kaschmir und Rajasthan bieten ihre farbige Ware feil. Im Angebot sind indische Klamotten, bestickte Decken, Handwerksarbeiten, metallene Götter in verschiedenen Grössen, Piraten-CDs und jede Menge anderer Güter. Nur vereinzelt sieht man noch angegraute Alt-Hippies, die gebrauchte Sandalen, Hosen und Blusen verkaufen. Mit solchen Leuten nahm der Markt vor Jahrzehnten seinen Anfang. Viele verkauften ihre letzten Habseligkeiten, um den Aufenthalt zu verlängern. Diese wöchentliche Veranstaltung ist mittlerweile zu einer Institution und reinem Kommerz geworden. Die Touristen werden überall aus Goa in Bussen und Taxis herangekarrt. Viele kommen primär gar nicht zum Kaufen, sondern um in ihrem lässigen Outfit in der Szene gesehen zu werden. Meinem Reisekumpel sind fast die Augen rausgefallen. Im Nu wird er stolzer Besitzer eines fünf Kilo schweren Ganesh-Götzen, den er nun als zusätzliches Handcarry nach Hause schleppen muss.
Eine weitere interessante Abwechslung bietet ein Tagesausflug zum Weltkulturerbe nach Old Goa. Hier kribbelt die Geschichte unter den Füssen. Wer vorher in die Literatur guckt, profitiert und geniesst doppelt. Die zahlreichen guterhaltenen Bauwerke wie Kirchen und Museen aus portugiesischer Zeit sind beeindruckend und sehenswert. Jeder Bau erzählt eine Geschichte. Der passionierte Fotograf hält sich vorzugsweise den ganzen Tag Vorort auf, um für jedes Objekt die optimalen Lichtverhältnisse auszuschöpfen.
Schluss
Indien kann aufgrund seiner kulturellen Diversität, seiner von Mitteleuropa sehr verschiedenen Lebensweise und seiner immensen Bevölkerungsdichte, den Reisenden in einen Kulturschock versetzen. Du fühlst dich in einer schwer verständlichen Story von Franz Kafka. Die Leute hier ticken anders. Es ist vorteilhaft, sich zuhause auf die Reise vorzubereiten und sich über die Gegebenheiten vorab zu informieren. Kein anderes Land verführt, verwirrt derart und ist so eigensinnig. Vieles scheint hoffnungslos, schwierig, ohne Zukunft. Die Inder scheinen in Armut, Tradition und Religion gefangen zu sein.
Eine Individualreise von mehreren Monaten auf eigene Faust nach Indien ist die Meisterprüfung eines jeden Hardcore- und Budgettravellers. Du bist in verschiedener Hinsicht gleichzeitig gefordert: Im täglichen Kampf um den Sitzplatz im Bus, im Schlagabtausch um deine Koje im Zug, in immerwährender Konfrontation mit einer Mentalität ohne Manieren, im permanenten Achtgeben auf Schwindler, Betrüger, Bauernfänger, skrupellosen Geschäftsleuten, mit der grenzenlosen Umweltbelastung, in der täglichen Ernährung bis hin zum Dreck erstarrter Hotelzimmer.
Eventuell bist du ein versierter Könner und in der Lage, deinen Atem fünf Minuten anzuhalten. So bist du in einer besseren Ausgangslage und kannst mühelos die öffentlichen Toiletten benutzen. Dort fühlst du dich auch nie einsam, denn es wimmelt stets von lustigen krabbeligen Tierchen, die dir die Beine hinaufkriechen. Danke trotzdem deinem Gott, wenn du allenfalls als Mann geboren wurdest und zumindest für das kleine Geschäft eine Alternative hast. Möge Gott allen Frauen eine starke Blase und genügend Ausdauer bescheren, bis sie den nächsten McDonald's erreichen. Wenn das nicht funktioniert, gelangt Plan B zur Anwendung. Du stoppst den Bus, kniest beim rechten Hinterrad des Autobusses nieder, dein Partner legt ein grosses Batiktuch um dich und du befreist dich dann von deinem Druck. Zumindest weisst du jetzt, was wahre Erleuchtung bedeutet.
Und kommst du ins Land Gandhis zurück, stählt dich jede Reise mehr. Jeder ö.V.-Passagier muss wissen, auf was er sich einlässt. Sich beschweren? Sich bemitleiden? Nichts wäre komischer. Ein richtiger Traveller hegt keinen Groll über das Zugemutete, sondern er zeigt Freude, alles heil überstanden zu haben. Wie muss ein Mensch in Indien denken, um Indien zu verstehen? Ich weiss es nicht und hoffe, eines Tages die Geheimnisse dieses Landes zu entschlüsseln. Eines steht fest, nicht unsere Erlebnisse, sondern unsere Empfindungen prägen die Reiseeindrücke.
Nach acht Wochen Vegetarismus reise ich aus. Wieder einmal steht mir Indien bis über die Halskrause. Eine letzte Erduldungsphase beim Flugzeugwechsel in Mumbais Airport und dann im Transit des Suvarnabhumi im Süden von Bangkok zum ersten Mal wieder Südostasien schnuppern: Kalkulierbare Menschen, gute Kost, angenehme Atmosphäre. Ich freue mich wie ein kleines Kind. Es vergehen insgesamt dreissig Stunden bis ich nach der Rückkehr auf die Philippinen meine Zähne in das erstbeste Spanferkel haue und das grillierte Fleisch von den Knochen fetze. Vielleicht schon nächstes Jahr zeige ich der Welt, wie viel Indien noch in mir steckt. Ich komme wieder, immer wieder – denn die Hassliebe bleibt.
Swami Pitcairn
Drei Dinge sind unwiederbringlich: Der abgegebene Gewehrschuss, das in Eile gesagte Wort, eine verpasste Reise.
Wachtraum
Wie von Geisterhand setzen sich plötzlich Lamellenstoren automatisch in Bewegung und reduzieren die Intensität der einströmenden Nachmittagshelle bis sich der Behandlungsraum in gedämpftem Licht präsentiert. Die Deckenpaneelen werden von indirektem blauen Licht angestrahlt, der Duft von Moschus und Kardamom erfüllt den Raum von schätzungsweise satten 50 m2 und eine wohlige Atmosphäre gewinnt langsam Oberhand.
Fingerspitzen streichen mir über die Wange, der Raum erwacht zu neuem Leben. Eine Hand, die aus dem Nichts heranzugleiten scheint, schält mich sanft aus meinem T-Shirt, eine andere öffnet mir den Gurt, hilft mir behände mich der Trekkingshorts zu entledigen und eine dritte zieht mir meinen türkisfarbenen Odlo-Herrenslip über die Hüften nach unten. Ich bin nackt. Wie von fern sehe ich die Haut meiner Brust und meiner Schenkel und ich frage mich, ob dies mein eigener Körper ist. Dann sind andere Hände da, die mir den Weg durch eine Türe in eine im Boden eingelassene Wanne mit gewärmtem Wasser weisen. Doch alles erst ganz schön der Reihe nach. Wir wollen doch nicht gleich mit der Türe ins Haus fallen.
Mentale Auseinandersetzung
Indien ist mehr Kontinent als Land. Von Norden nach Süden und Osten nach Westen sind Leute, Sprachen und Gebräuche sehr verschieden, nicht aber die aufdringliche Art. Es gibt wenige Länder auf der Erde mit solch einer Vielfalt. Hier gibt es Leute aus Rajasthan, Bengal, Tamil Nadu, Pushkar, Cochin etc; Angehörige der Unberührbaren, Brahmanen, Hindus, Buddhisten, Muslime, Christen, um nur einige zu nennen; Leute mit heller, brauner und dunkler Haut; Jegliche Gesichtsformen und Kleidungen mit verschwenderischer Vielfalt. Ein Subkontinent, der vollumfänglich unter die Haut geht. Man kann diesen grossen Flecken Erde lieben oder hassen, niemals aber ignorieren. Ein äusserst schwieriges Reiseland – und trotzdem kommen die Globetrotter immer wieder zurück. Hier auf diesem Pflaster kann der Individualtraveller seine Meisterprüfung ablegen. Ich nehme es gleich vorweg: Am besten legst du bei der Ankunft alle westlichen Massstäbe ab und gehst in die mentale Kampfposition. Andernfalls wird dir jeder Tag in Indien zur Qual und du verfluchst bald einmal alles. Dazu gehören auch Gewohnheiten und Vorlieben. Der englische Spruch "When in Rome, do as the Romans do“, passt hier sehr gut; Aber bitte mit einer Messerspitze Vernunft. Gehe nie so weit wie die Einheimischen, welche sich aufgrund ihres angepassten Organismus alles erlauben können. Verwende zum Zähneputzen und Trinken vorsorglich Mineralwasser und konsumiere auch kein Eis. Goffi und Chai kannst du von jedem Strassenstand bedenkenlos güllern. Immodium, Aspirin und ein Breitband-Antibiotikum (Bactrim forte) hast du vorsorglich immer griffbereit im Daypack. Jetzt bist du für die Auseinandersetzung mit dem Scheisshaufen Gottes gewappnet.
Vorwort des Autors
Die nachfolgenden Reiseerlebnisse sind Informationen für Individualtraveller. Ich berichte über Vieles, das in offiziellen Reisehandbüchern zu kurz kommt oder nicht ausgesprochen werden darf. Ich spucke dir Tatsachen ins Gesicht. Bei diesem Report steckt der Ekel schon im Titel! Ich schreibe Berichte ohne den erhobenen Zeigefinger, bin aber von meinen Aussagen überzeugt. Das heisst noch lange nicht, dass du dich meiner Auffassung anschliessen musst. Es gibt immer verschiedene richtige Meinungen, Wahrheiten und Antworten. Mein Leserkreis erhält scharfkonturierte Eindrücke aus erster Hand. Ich bin schonungslos in der Analyse, schnörkellos in der Sprache. Ich veranstalte kein Kniggeseminar, lasse meine Hintergedanken rausrutschen. Der Report ist ungeeignet für ein sogenannt anständiges Publikum mit moralisierender Penetranz und Besserwisserei; die literarische Belastung hat sich in Testversuchen bei dieser Zielgruppe als zu stark erwiesen. Ich könnte meine Zunge auch in Honig tauchen, wenn ich das möchte. Aber wer kann verstehen, was ich sagen will, wenn ich es auf schöne Art tue? Wir sind hier nicht in einem Parlament. Deshalb nenne ich die Dinge beim Namen. Wer es dann noch immer nicht versteht, der will es einfach nicht. Gute Unterhaltung!
Erstberührung
Als ich aus dem Hotel in Chennai heraustrete bedrängen mich auf der Strasse elf arme Schlucker. Aber es ist der falsche Zeitpunkt, denn ich benötige keine Rasur, keine geputzten Schuhe, keine Fahrkarte, kein Mädchen, keine Massage, kein Zimmer, keine gefälschte Rolex, kein Marihuana, kein Kamagra, keine giftige Brillenschlange im Körbchen und auch kein Spendenfutter für den Tempelelefanten – einfach nichts. Worauf ich auf der Suche bin und wirklich Bedarf habe, ist eine indische SIM-Karte für mein mobiles Telefon. Diese Aktion wird in der Reise-Neuzeit ein wiederkehrendes Ritual, meine Ersthandlung nach der Ankunft in jedem Drittweltland, wo ich länger bleibe. Früher war das noch anders. Alle vier Wochen einen Dreiminuten-Anruf an Muttilein, um zu melden, dass ich noch am Leben bin und genügend saubere Unterwäsche im Rucksack habe; gelegentlich mal eine Postkarte.
Dank dem kurzen periodischen Beruhigungstelefon, hatte ich nach der Rückkehr Zuhause mehr als genug zu erzählen. Heute sind die Zeiten anders. Wegen der elektronischen Hundeleine kennen viele Angehörige die gesamte Reisestory ihrer Lieben bereits vor der Rückkehr. Modern Times will ich mich nicht ganz verschliessen. Mein Cellularphone benutze ich dosiert und greife mit Vorliebe auf SMS und Email zurück. Überhaupt schreibe oder simse ich lieber, als dass ich telefoniere. Doch wir leben in einer digitalen Zeit und da haben Eigenbrötler in der Gesellschaft wenig Chancen. Kommunikationswahn, Erreichbarkeitswahn, Anwesenheitswahn, Informationswahn - die Lösung heisst nicht digitale Diät, aber umso mehr deren massvolle Benutzung. Das Leben mit Web ist genauso wenig falsch, krank und unnatürlich, wie ein Leben ausserhalb, heutzutage nicht das wahre, gesunde, natürliche sein kann.
Ebenso ist für mich die Definition von Alter nicht eine Frage von aufgeleierten Lebensjahren. Leute sind dann alt, wenn sie nicht mit der Zeit gehen. Hohe Achtung habe ich vor Senioren, die sich im vorgerückten Rentenalter mit digitalen Belangen befassen; beispielsweise einen Internetkurs belegen, sich einen Laptop anschaffen oder auf andere Art neue Projekte anreissen und sich dem Zeitgeist nicht verschliessen. Enorm jung war auch der 75-jährige pensionierte Staatsanwalt aus der Zentralschweiz, der mich vorletztes Jahr eine Weile als Fusspilger auf dem Jakobsweg in Frankreich und Spanien begleitete und dann schnellen Schrittes vor mir den Horizont nach Santiago de Compostela anpeilte. Vor solchen Leuten ziehe ich meinen Hut - forever young!
Ich laufe ein paar Meter und winke eine schwarz-gelbe Auto-Rikshaw herbei. Es handelt sich um jene praktischen, motorisierten und überdachten Dreiradfahrzeuge, die sich ihrer geringen Grösse wegen gut durch den chaotischen Verkehr in Indiens Städten bewegen können. Nebst dem Fahrer haben hinten bis zu vier unterernährte Inder oder zwei vollgefressene Westler mit Gepäck Platz. Nur mit einem Motorrad ist man hier noch schneller. Telefonshop und SIM-Card versteht der Fahrer, wiegt seinen Kopf und fährt unter lautem Geknatter los, nachdem ich ohne viel Aufwand den Preis mit ihm fixiert habe. Das geht ja verdächtig schnell. Nach hundert Meter macht er einen U-Turn und fährt zurück an den Ausgangspunkt und zeigt lächelnd auf den Telefonshop, der sich gleich neben unserer Hotelausfahrt befindet. "Sir, thirty Rupies please!" Mir klappt die Kinnlade runter. Für dreissig Rupien hätte er mich um die halbe Stadt karren müssen. Ich bin zum x-ten Mal in Indien und bereits in den ersten Stunden von einem Rikshaw-Walla arglistig beschissen worden.. Ich bin nicht sauer, nein, ich muss lachen über so viel Unverfrorenheit und Impertinenz. Es ist ihm wahrlich gelungen mich zu täuschen. Herr, was bin ich sowas von blöd! Der tägliche Kampf mit dieser ewigen Abreisser- und Bescheisser-Mentalität nimmt seinen Anfang. Well, so good, so far.
Ich bin bereit für einen zweimonatigen Combat. Ich traue hier in diesem Lande seit Ewigkeiten keinem männlichen Zweibeiner, Knaben ab Grundschulalter eingeschlossen. Eine Nation voller Schlitzohren. Der früher oft benutzte Satz Du lügst wie ein Bengale, trägt mehr als nur einen Funken Wahrheit in sich. In diesem Land ist es besser auf seinen Verstand als auf sein Herz zu hören. Andernfalls wirst du mit wiederkehrender Regelmässigkeit übers Ohr gehauen. Allein die Schärfe ihres Blicks, das Starren, die Hast und Hektik ihrer Bewegungen und ihrer Sprache, das permanente Drängeln, Fordern, Vorprellen, Dazwischenfahren ist für uns eine echte Herausforderung. Bevor du zum Fahrstuhl raus bist, drängen sich schon fünf rein und pöbeln dich an. Die Bandbreite der Betrachtungen geht hier vom neugierigen Beäugen bis zum penetranten Anstarren. Für Leute mit Verfolgungswahn ist Indien das falsche Pflaster. Unser westlicher, kultureller Hintergrund macht es nicht einfach, Indien zu verstehen. Augen erspähen und verfolgen dich, wohin du auch gehst. Du bist ein roter Hund, hast keine Privatsphäre und wirst zum Allgemeingut. Alleinsein kannst du in Indien nur im Kopf.
Leidenszeit
Trotzdem komme ich als passionierter Masochist seit vier Jahrzehnten immer wieder in diesen Schmelztiegel um zu leiden und meine Nerven kaputtzumachen. Zugestanden, das Land hat etwas Bizarres und Faszinierendes, eine interessante Geschichte, eine einzigartige Kultur, gigantische Bauten wie Tempel und Paläste von unbeschreiblicher Schönheit, in gewissen Regionen attraktive Landschaften, graziöse Frauen (Rajasthan - ich komme wieder, immer wieder!), rauschende Feste, dankbare Fotoobjekte, ein von britischen Ingenieuren geschaffenes, landesweites Eisenbahnnetz, brauchbare Strassen, Busverbindungen ins hinterste Kaff und ein Sättigungspotenzial, dass ich mich nach spätestens zwei Monaten abschütteln lasse und aus dem Lande Mahatma Gandhi abhaue, um mich in Südostasien bei verträglicheren Mentalitäten und anderer Kost zu erholen.
Anders verhält sich das Gebaren der indischen Frau. Es steht stark im Einklang mit ihrer Herkunft und der Zugehörigkeit zur Kaste und Religion. Am aufgeschlossensten sind die Christinnen. An zweiter Stelle folgen die Hindus und zuletzt die Muslime. Eine spezielle Gattung für sich bilden die modernen und selbstsicheren Frauen aus Mumbai, die an den Stränden von Goa knappe Shorts tragen und Alkohol trinken; unisono Girls aus bessergestellten Familien und höheren Kasten. Da bleibt nichts mehr übrig von der Hingabe, wenn indische Frauen im Sari beide Hände vor der Brust falten, sich leicht nach vorne beugen und mit einem Lächeln im Gesicht den Gruss Namaste aussprechen und fragen "Gebieter, was wünschst du?". Oftmals sind Inderinnen gute und erfolgreiche Geschäftsfrauen, niemals aber so penetrant aufdringlich und ungehobelt wie ihre Männer. Ein reines Frauenindien wäre für den Reisenden ein besseres Indien. Aber wären die Inderinnen selbst damit einverstanden?
Bundeshauptstadt von Tamil Nadu
Chennai ist ein Viermillionen Drecksnest in Südindien, früher Madras genannt, und da beginnt meine Reise. Hier ist jeder Atemzug ein zorniger kleiner Sieg. Der Lärm und die Luftverpestung dieser Metropole sind ungeheuerlich. Bereits nach kurzer Zeit kratzt mich der Hals. Mit noch so viel Mühe ist es schwierig, etwas Positives über Chennai zu berichten. Die Strassen sind verstopft, das Wetter drückend und heiss, und interessante Sehenswürdigkeiten gibt es nicht wirklich. Die Stadt ist primär ein Verkehrsknotenpunkt. Wichtige Verbindungen von Strassen, Schienen und Airlines treffen hier zusammen. Chennai ist auch Ausgangsbasis um auf die Trauminselkette der Andamanen zu gelangen.
Die Stadt gilt als Südindiens Zentrum von Tanz und Musik. In der ansässigen Filmfabrik werden Illusionen und Sehnsüchte für Millionen befriedigt. In den Produktionsorten im westlich gelegenen Stadtteil Kodambakkam geht es um Herz und Schmerz, glutäugige Helden und hingebungsvolle Geliebte; kurz gesagt, um das geheime Reservoir an Kitsch und Schmacht, das sich hervorragend für die prächtige Inszenierung auf der Leinwand eignet. Allerdings werden die bis zu 100 Filme im Jahr auf Tamil gesprochen, der offiziellen Sprache im Bundesland Tamil Nadu. Den Nachwuchs für ihre Scheingefechte und Formationstänze bekommt die Filmindustrie aus den Kunstschulen, privaten Gesellschaften und der Akademie. Das Stadtviertel weist auch eine hohe Konzentration von Strip-Clubs, Erwachsenentheater, Karaokebars und Bordellen auf.
Definitionen haben keinen Platz in Chennai und allein die Frage nach dem Zentrum seiner Stadt, beantwortet jeder Einwohner anders. Ist das eigene Stadtviertel der Mittelpunkt der urbanen Welt oder die St.-Thomas-Basilika? Markiert die mehrspurige Autobahn oder das Gerichtsgebäude im Zuckerbäckerstil den Kern des alten Madras? Ist es das Gebiet rund um den Bahnhof Edmore? Tatsache ist, dass die südindische Stadt für Millionen von Menschen zur Heimat geworden ist. Ihre Träume sind so unterschiedlich wie die Kasten und Kulturen, deren Traditionen die Bewohner der expandierenden Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu bis heute pflegen.
Die Kolonialisierung von Madras begann im 17. Jahrhundert. Damals erkannten Mitglieder der Britischen Ost-Indien-Kompanie die gute Lage des Fischerdorfes Madraspatnam an der Koromandelküste. Von hier aus wurde bereits in vorchristlicher Zeit Handel getrieben: Chinesen, Phönizier, Griechen, Römer, Franzosen, Armenier und Araber nutzten seitdem den flachen Küstenbereich, um ihre Waren in den südostasiatischen Raum zu verschiffen. Im 16. Jahrhundert errichteten die Portugiesen ein Fort, 100 Jahre später kamen die Niederländer und schliesslich die Briten, die mit dem Fort St. Georg den Grundstein für das heutige Chennai legten. Mit dem Tuchhandel wuchs die Siedlung und verleibte sich nach und nach die umliegenden Orte ein. Mylapore etwa oder Triplicane blicken auf eine viel längere Geschichte zurück.
Chennai ist ein Treffpunkt der Kasten und Kulturen. Die Bewohner jener alten, gewachsenen Stadtteile, die meist um Tempel und grosse Wasserbassins herum entstehen, bleiben ihren Vierteln treu. In die neuen Bezirke strömen die Zuwanderer vom Land und bringen ihre Sprachen und Eigenheiten mit, halten fest an ihren Gewohnheiten und Kochkünsten. Den Stadtteil Sowkarpet bevorzugen Leute aus Rajasthan, Menschen aus Westbengalen finden in Besant Nagar zusammen, Mitglieder der Nadar-Kaste lassen sich um die Bahnhöfe nieder. Neuankömmlinge erleben eine gewisse Solidarität. Wenn ein Nadar dazu stösst, kauft er Reis, Kleidung oder was auch immer, in dem Laden eines anderen Nadars. Umgekehrt hilft seine Kaste dem Zuwanderer, wenn nötig beim Aufbau eines eigenen Geschäftes. Auch Chennais Ureinwohner, die Fischer, pflegen ihre Identität und achten bis heute darauf, ihre Kinder nur innerhalb ihrer Kaste und Religion zu verheiraten.
Searching SIM-Card
Mit einer indischen SIM-Card schlage ich den hohen westlichen Roaminggebühren ein Schnippchen und kann mit meinem Umfeld im Westen und in Südostasien für einen Pappenstil wichtige Kontakte unterhalten. Leute mit Billignummern und Billig-Telefonkarten können mich direkt in Indien auf dem mobilen Telefon erreichen. Zur Regelung benötigt der Tourist eine Kopie seines Reisepasses inkl. Visa und eine farbige Passfoto. Die Erledigung in einem Shop dauert nicht länger als zehn Minuten, sofern sich kein einheimischer Frechdachs vordrängt – und die gibt es hier zuhauf. Den Vordrängler heble ich mit meinem rechten Arm und den Worten "Verpiss dich!" vom Ladentisch. Natürlich versteht der Unflat kein Schweizerdeutsch, aber sinngemäss schnallt er bestens, dass er bei Swami Pitcairn zu weit gegangen ist.
Im Ausland bin ich Gast und trete allen mit dem nötigen Respekt und Verständnis gegenüber. Ich behandle Menschen gewöhnlich so, wie ich selber gerne von ihnen behandelt werden möchte. In Indien kommst du mit dieser Philosophie nicht weiter. Die Leute sind hier recht barsch zueinander - N.B. auch gegenüber Touristen. Mit einem herrisch neokolonialen Auftreten gelingt es, die ungehobelten Fritzen in den Senkel zu stellen und Oberhand zu gewinnen. Hier beanspruche ich den Sahib-Status.
Die SIM-Karte kostet umgerechnet keinen ganzen Schweizerfranken. Ich gönne mir eine Load von Rs 1‘000. Damit kann ich schon etwas Gescheites anfangen, selbst eine Weile interkontinentale Gespräche führen und unzählige SMS weltweit versenden. "Onethousand Rupies, Sir, are you really sure?“, fragt mich der Mann ungläubig hinter dem Verkaufstresen noch einmal. "Yeah, you gonna put a load of onethousand bucks, that’s all right man“, bestätige ich noch einmal und knalle ihm zur Beruhigung einen Tausender auf den Ladentisch. Sobald das Welcome-SMS von Airtel eingetroffen ist, geht es um die Prepaid-Load. Für den geneigten Indientraveller ist ergänzend zu präzisieren, dass mit Charge hier die Akkuaufladung des Mobilephones und mit Load die Gesprächsguthaben gemeint sind. Das gilt übrigens für ganz Asien. Bedient man sich dieser Ausdrücke, gibt es weniger Missverständnisse. Nun bin ich als Airtel-Customer erfolgreich dem indischen Mobil-Telefonnetz angeschlossen. Es geht nicht lange, da kommen die ersten Werbe-SMS rein. Wer die Mitteilungen nicht ignoriert und auf Fragen antwortet, verursacht Kosten – das muss der budgetbewusste Tourist wissen. Ansonsten darf man sich über solche SMS nicht nerven. Das ist hier völlig normal und nicht anders als zum Beispiel in Thailand.
Arrival
Seit ein paar Stunden bin ich jetzt in dieser Stadt. Vergeblich halte ich beim Flughafen-Arrival nach meinem Namensschild Ausschau. Das Hotel der unteren Mittelklasse hat seine Zimmer und Dienstleistungen per Internet angeboten. Vereinbart ist, meinen Reisekumpel und mich am Airport mit dem Hotelvan abzuholen. Doch nach der Landung herrscht gähnende Leere, kein müdes Schwein erscheint. Nirgendwo ist ein hochgehaltenes Schildchen mit meinem vermutungsweise falsch geschriebenem Namen ausfindig zu machen. Nach langem Suchen, Geldwechseln, Eindecken mit Trinkwasser, schaue ich mich selber nach einem geeigneten Transportmittel um. Wir sind am frühen Morgen angekommen und haben keinen Grund zur Eile. In der Nacht oder bei schlechtem Wetter nutzen die Taxifahrer die besondere Situation ergiebig aus und verlangen um 25% höhere Preise. Jetzt bin ich am längeren Drücker. Um findig zu werden, muss ich Kohorten von Nepper und Schlepper überwinden, bis ich mit schwerem Gepäck auf der Zufahrtsstrasse zum Flughafen stehe.
Welcome to Chennai Airport steht in überdimensionalen Lettern an der Gebäudefront geschrieben und gleich daneben, in nicht eben kleinerer Schrift, ISO 9001 Certified. Da hat die Airport Authority of India die Prozesse wohl nur bis zum Baggage Claim überprüfen lassen. Bist du mal zum Gate raus, kümmert sich kein Schwein mehr um das Wohl der Reisenden. Da stehst du dann einsam und verlassen im richtigen Indien. Nach zehn Minuten Verhandeln und mehrmaligem Weglaufen, habe ich einen Schlepper mental weichgeknüttelt und einen halbwegs marktgerechten Preis auf Einheimischen-Niveau fixiert. Mich überkommt das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein, als wir in einem antiquierten Hindustan Ambassador, nachgerüstet mit Sicherheitsgurten, der Unterkunft entgegen holpern. Das Auto wurde einst "Der König der indischen Strassen" genannt. Erinnerungen an die 1970er-Jahre in Rangoon werden in mir wach. Der Bruder einer Brieffreundin von mir fuhr eine solche Kiste und wir machten Ausflüge im Umkreis der Stadt. Ich konnte nie lange herumreisen - ein Visum gab es damals nur für sieben Tage. Trotzdem war es eine gute Zeit und Touristenschweine waren fast nicht auszumachen. Morgens um 6.00 Uhr war Shwedagon ganz in meinem alleinigen Besitz. Doch das ist lange vorbei. Pitcairn, vergiss die Nostalgie! Du tust gut daran, dich auf das Heute, Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Im Hotel angekommen, ist zumindest die Zimmerreservation vorgemerkt. Wegen dem fehlgegangenem Abholservice erwähne ich nichts, zumal der selbstorganisierte Transfer weniger gekostet hat. Ich erinnere vorsorglich erneut, dass mein Reisekollege und ich ein Zimmer mit zwei separaten Betten benötigen, wie im Email erwähnt und vom Hotel rückbestätigt worden ist.
"No problem, Sir", äussert sich die Rezeptionistin mit niedergeschlagenen Augen. Sogenannte anständige Frauen schauen in Indien einem fremden Manne nie direkt ins Gesicht. Wenn sie es trotzdem tun, sind es meist Prostituierte und die erkennt man am knallroten Lippenstift und der speziell farbigen Kleidung. "Das Zimmer ist noch nicht hergerichtet und ihr müsst warten", gibt sie uns zu verstehen. Nach einer halben Stunde dränge ich darauf, zumindest die Anmeldeformalitäten zu regeln. Die sind in Indien nicht unerheblich und viel umfassender als in anderen Ländern. Selbst der Pass und das Visum werden fotokopiert. Kleinere Hotels senden einen Laufjungen ins nächste Kopierzentrum, wenn kein eigenes Gerät vorhanden ist. Doch es ist nicht jedermanns Sache, wenn in einer schäbigen Absteige jemand mit deinem Pass abschleicht. Willst du das nicht, erstellst du vor der Reise selber eine Reihe von Kopien. Das Einschreiben wird peinlich genau vorgenommen und der Tourist muss ein paar Mal unterzeichnen; selbst wenn er anderntags wieder aus dem Hotel auscheckt und die Rechnung zum Voraus bezahlt hat. Ohne Austrittssignatur darf dir in einem indischen Hotel kein Portier die Türe aufmachen. Anschliessend schleppt der Roomboy meinen Rucksack ins vorgesehene Zimmer in die dritte Etage – natürlich, wie könnte es anders sein, mit einem Doppelbett. Ich bin keine Schwuchtel und möchte mit meinem Reisekumpel auch nicht unbedingt im gleichen Bett kuscheln. Ich sitze zehn Minuten auf der Treppe, bis der Tamile mit einem anderen Zimmerschlüssel anrückt. Das kleine Zimmer mit zwei Einzelbetten ohne Fenster, mit Ventilator und AC, westlicher Toilette und einer verkalkten Dusche ohne Wasserdruck, erfüllt für Rs 900 unsere Ansprüche.
Extreme Gegensätze
Indien besitzt eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Trotzdem profitiert der grösste Teil der Bevölkerung kaum von dieser Boomphase. Zum Land gehört eine soziale Vielfalt, die vom besitzlosen Bauer in Bihar zum Atomphysiker in Delhi, über den reichen Weizenbauern im Pandschab bis zum Direktor einer Maschinenfabrik in Maharashtra reicht. Ein schillerndes Land, das von uralten Traditionen lebt und bereits in seiner High-Tech-Zukunft angekommen ist. Indien ist ein Land der extremen Gegensätze und einer sehr komplizierten Mischung von Menschen, Sprachen und Dialekten. Ein einheitlicher roter Faden zieht sich allerdings durch alles hindurch: die Religion.
Ein weiteres Bindeglied ist die Familie. Für die meisten Inder ist es nahezu unvorstellbar, Mitte Dreissig noch nicht verheiratet zu sein und keine Kinder zu haben. Eheschliessungen werden oft von den Eltern arrangiert und sind nicht zuletzt auch eine Zweckverbindung um vorhandenes Vermögen zu halten oder zu mehren. Bei Frauen geht es auch um die soziale Absicherung. Sympathie, Zuneigung oder sogar Liebe, darf sich nachrangig entwickeln. Einige Inderinnen, die in Gästehäusern arbeiten und den unteren Kasten angehören, erwähnten mir gegenüber, dass sie ihren Ehemann selber gefunden haben. Ehepartner werden von jüngeren Generationen zunehmend in den einschlägigen Webseiten evaluiert. Trotzdem gibt es noch einen konventionellen Inseratemarkt in der Tagespresse. Ich erinnere mich an das Inserat einer Inderin, die ihrem Wunschprinzen die einzige Auflage machte, sich täglich sauber zu rasieren. Diese einfache Hürde kann selbst eine Vielzahl westlicher Touristen nicht überwinden. Sie finden es lässig und angepasst, wie weiland 1970 in schmutzigen, zerlumpten Kleidern, fettigen Haaren und Stoppelbart im Lande herumzugammeln.
Sicherheit
Indien klingt nach Fremde, Abenteuer, Gefahr und Ferne. Ich habe als Male Traveller Indien immer als relativ sicheres Reiseland wahrgenommen. Nie hatte ich Bedenken, nachts alleine herumzulaufen, nie wurde mir etwas geklaut. Hier herrschen keine zentral- und südamerikanischen Verhältnisse. Selbst in den endlosen Weiten des sonst friedlichen Südpazifiks waren meine T-Shirts auf der Wäschleine nicht immer sicher. In Indien sind mir Überfälle auf Touristen zu Ohren gekommen, die alleine in abgelegenen Regionen des Kaschmirs unterwegs waren und sich keinem offiziellen Tourguide anvertrauten. Da wurde später, vereinzelt die eine oder andere Leiche mit leeren Taschen gefunden. Aus meiner Sicht ist dies der falsche Weg, ein paar Rupien einzusparen. Viel besser tun sich Alleinreisende mit anderen zusammen und teilen sich die Kosten eines amtlich registrierten Führers. Das bedingt oft im Routing eine gewisse Kompromissbereitschaft, aber ein vernünftiges Sicherheitsdispositiv muss vorgehen. Ein weiterer Fall eines deutschen Trekkers ist mir kürzlich bekannt geworden. Zuerst bestand nachrichtenlose Abwesenheit, dann folgten erpresserische Geldforderungen der Entführer. Nach drei Monaten wurde der Mann enthauptet in einem Gletschergebiet aufgefunden. Im Kaschmir gibt es noch immer politisch motivierte Entführungsfälle. Es ist jedem Reisenden selber überlassen, ob er in solche Regionen vorstossen will. Das heisst aber noch lange nicht, dass du dich deswegen abschrecken lässt und generell zuhause eine dieser furchtbaren Gruppenreisen buchen sollst. (Siehe separate Rubrik).
Verschiedene politisch motivierte Attentate forderten in den letzten Jahren zahlreiche Tote und Verletzte. Die terroristischen Angriffe in Mumbai vom 26. bis 29. November 2008 richteten sich erstmals auch gezielt gegen Ausländer. Am 13. Februar 2010 wurde in Pune ein Anschlag auf ein Bäckerei-Café verübt, das bei Ausländern beliebt ist. Seither haben weitere Anschläge Todesopfer und Verletzte gefordert, unter anderem am 7. September 2011 beim Delhi High Court und auf einem Markt in Hyderabad im Februar 2013. Trotz erhöhter Sicherheitsmassnahmen ist im ganzen Land mit weiteren Anschlägen zu rechnen, besonders in den Grossstädten und Touristenorten. Vor allem im Umfeld von öffentlichen Transportmitteln (z.B. Züge, Bahnhöfe, Flughäfen), grossen Menschenansammlungen, religiösen Stätten, auf Märkten, in Hotels und Restaurants ist erhöhte Vorsicht und risikobewusstes Verhalten angezeigt.
Frauenhölle?
Alleinreisende, jüngere Frauen, sind in neuerer Zeit Opfer von Vergewaltigungen geworden. Überall werden sie von Männern mit Blicken aus einer Mischung von Skepsis und Erregung verfolgt. Die Rollenverteilung ist gesetzt. Du fotografierst eine Sehenswürdigkeit, die Inder fotografieren ungefragt dich: "Madame, photo pleeease!" Zur Abhilfe solltest du diese wenigen Worte lernen: "Muje akela chordo!" - Lassen Sie mich in Ruhe! Wenn du an Busbahnhöfen aussteigst, bist du von aufdringlichen Touranbietern und Rikshaw-Fahrern umringt. Mädchen! - gucke Männern nie direkt in die Augen, lächle nie - das wird hierzulande von der Männerwelt direkt als sexuelle Aufforderung verstanden. Eine anständige indische Frau spricht hierzulande nicht einmal mit einem fremden Mann. Sonst musst du deinen Schlüpfer mit beiden Händen gut festhalten. Wiederkehrend kommt es ohnehin vor, dass dir Männer an den Hintern oder an die Brüste fassen. Versuche Nachtfahrten zu meiden oder zumindest nicht die Verkehrsmittel morgens um 3 Uhr zu wechseln.
Verbotene Nähe suchen sich indische Männer auch im Gedränge öffentlicher Verkehrsmittel um sich an den Frauen zu reiben. Das ist der Grund, weshalb die staatliche Eisenbahngesellschaft - INDIAN RAILWAY (IRY) - spezielle Frauenwagen in den Zugskompositionen führt. Es kann sein, dass dir ein Rikshaw-Fahrer den Rucksack ungefragt quer durch den Busbahnhof schleppt; meist in guter Absicht, aber halt nicht immer. Es ist besser, wenn du für längere Fahrten Zweckgemeinschaften mit anderen Touristen bildest, die du vielleicht im Hotel kennengelernt hast. Nach Einbruch der Dunkelheit schliesst du dich mit anderen Westlern zusammen, um gemeinsam Abend zu essen. Das ist nicht nur sicherer, sondern macht auch mehr Spass.
Ausgerechnet dem Land, das seine Tollereien mit dem Kamasutra als erstes zu Papier brachte, mangelt es heute beträchtlich an Fantasie. Vieles, was mit Sex zu tun hat, ist tabu. Während Indien wächst, sich entwickelt und modernisiert, bleibt es auf diesem Gebiet erschreckend altmodisch. Und die konservative Welt, in der die jungen Inder aufwachsen, kontrastiert lebhaft mit den Bildern, die ihnen über Internet, Kino und Werbeindustrie vermittelt werden. Besonders schlimm steht es um das Frauenbild: Westliche Frauen gelten seit langem als freizügig und frivol, doch auch die indische Frau ist in neueren Bollywoodstreifen und indischen Medien meist kaum mehr als ein reines Sexobjekt.
Ein eherner Keuschheitsgürtel umschliesst das Land. In sexueller Hinsicht ist Indien eines der verkorksten Länder auf dem gesamten Globus. Ich realisiere indische Männer als sexuell völlig verklemmte Kreaturen. Männer sehen ihre eigenen Frauen oft nicht einmal nach der Hochzeit vollständig nackt. Alles läuft im Dunkeln ab.
Mittlerweile habe ich auch herausgefunden, weshalb die Cyber-Cafés ihre Kunden mit überdimensionalen Zwischenwänden und Vorhängen oder sogar in separaten Kabinen abgrenzen. Ich komme mir in diesen Kisten immer wie Bud Spencer im Beichtstuhl vor (Film: Vier Fäuste für ein Halleluja). Einmal richtig durchatmen, und dann fliegt der ganze Bretterverschlag auseinander. Wer die einschlägigen URLs im ungeleerten Browser-Cache des vorgängigen Kunden sichtet, weiss Bescheid.
Mädchen, ich rate dir eine gewisse Grundskepsis zu erhalten. Ich weigere mich, Indien als Frauenhölle zu bezeichnen; doch das Reisen in männlicher Gesellschaft dürfte sich für Frauen als praktischer und sicherer erweisen. Die Grossnation hat etwas ChamäGesperrter-Doppelaccountnhaftes. Häufiger als in anderen Ländern, weisst du selbst als erfahrener Traveller nicht, ob es sich um eine harmlose Situation handelt oder ob du dich besser schnellstens ins Hotel zurückziehst. Mit Rücksicht aufs Bauchgefühl - und darin sind die Frauen stark - wird man Indien von seiner einzigartigen, schönen und unbeschreiblichen Seite erleben.
Ursünde
Als Mitglied des Sachverständigenrates der World-Backpacker-Association, weise ich auf Reiseunsitten sowie auf die Todsünde Gruppenreise hin )). Im Brustton tiefster Überzeugung rate ich dir davon ab. Du wirst zu Gepäck degradiert. Wenn du nicht auf eigene Faust reist, lernst du ein Gastland nie von der authentischen Seite kennen. Du begehst die Ursünde des Reisens. Angeführt von einem Fähnchen tragenden Guide, der dir permanent ein Ohr abkaut, bewegst du dich im Rudel durch die Welt, wirst nicht verzaubert, erreichst die Quelle des Ganges und bist mental trotzdem noch in Westeuropa. Da kannst du gleich zuhause einen Dokumentarfilm in den DVD-Player schieben und eine Bauernbratwurst mit Kartoffelsalat mampfen. Gruppenreisen sind gleichbedeutend mit Bevormundung, gefilterten Informationen, gestellten Besuchen, normierten Aktivitäten, fehlende Flexibilität, wenig Direktkontakte, höhere Kosten. Von der Situationsdramatik nimmst du nichts mehr wahr. Schliesslich hast du mehr bezahlt und da soll sich gefälligst der Reiseleiter alleine Sorgen machen. Dir wird ein völlig verzerrtes Landesbild vorgesetzt. Zu guter Letzt glaubst du noch die ganze Kacke und denkst, die Mentalität der Leute entspreche der des Hotelpersonals im 4-Sterne-Hotel. Die permanent gute Dauerlaune des trinkgeldgeilen Reiseleiters, der wie ein Dampfhammer künstlich auf dich einlacht, ist auf Dauer nicht auszuhalten.
Wenn du Pech hast, findest du dich wieder in einer Gruppe von Angsthasen, Outsidern, Weltverbesserer, Ökofuzzies und Biedermännern. Einige machen auf eine Mischung von Truckdriver und erfolglosem Schlagersänger. Mit Safarihemd, Schulterpatten, Tropenhelm oder Che-Guevara-Kappe, wollen sie sich als Traveller legitimieren. Ein Drittel der Touris ist behindert, manchmal ist es auch die Hälfte; das hängt vom Wetter ab. Eine solche Gruppe kann Schrecken und Atemlähmung auslösen. Als erfahrener Insider nehme ich die Deutungshoheit in Anspruch und rate dir vehement von einer Gruppenreise ab. Ein solcher Trip ist an Schrecklichkeit nicht mehr zu überbieten. Krähen fliegen in Schwärmen, ein Adler fliegt allein!
Essen
In Indien ist die Küche ein Raum mit beschränktem Zutritt und gilt in vielen Familien als Refugium der Frau. Darin dürfen, wie bei einem Tempelbesuch, keine Schuhe getragen werden. Männer kochen in der Regel nur in Restaurants, Hotels und im Militär. Gegessen wird weitgehend vegetarisch. Fleisch gibt es nur in speziellen Lokalen; sie sind alle mit Non-Veg bezeichnet. Allerdings essen die Hindus kein Kuhfleisch und die Muslime kein Schweinefleisch. Dies bewog die internationale Fast-Food-Kette McDonald's, in Indien nicht den weltweit standardisierten Big Mac, sondern einen aus Schaffleisch bereiteten Muttonburger anzubieten. Trotz diesem Kompromiss, bevorzugen die Inder vegetarisches Essen. Der Fast-Food-Riese sah sich gezwungen, unter anderem einen an den Landesgaumen angepassten Mc Veggie, sowie einen würzigen Chicken Maharaja Mac, auf den Menüplan zu setzen und diese in einer separaten Küche zuzubereiten.
Solche Konzessionen machen auf die streng vegetarischen Angehörigen der Jain-Religion keinen Eindruck. Sie dürfen weder Fleisch noch Fisch oder Eier essen. Für sie sind auch Gemüse, die unter der Erde wachsen, wie Zwiebeln, Rüben, Knoblauch, ungeniessbar. Strenge Jain verzichten sogar auf Kartoffeln und Tomaten. Ihr oberstes Gebot ist Ahimsa - die Nichtverletzung eines anderen Lebewesens. Sie dürfen nur bei Tageslicht essen, um ja keine Insekten - auch unbeabsichtigt - zu verschlucken.
In Indien besteht eine Mahlzeit aus einzelnen Gängen, deren Reihenfolge regional verschieden ist. Beispielsweise werden im südindischen Gliedstaat Tamil Nadu die Süssigkeiten vor der Hauptmahlzeit serviert und zum Abschluss des Essens Reis gereicht, was signalisiert, dass kein Gang mehr folgt. In den westlichen Gliedstaaten Maharashtra und Gujarat ist es gerade umgekehrt. Hier werden zuerst Salz, Pickels und Reis mit Linsen aufgetischt. Oft wird dabei dem salzhaltigen, gewürzten Gemüse noch Zucker beigemischt. Die meisten indischen Gewürze wurden ursprünglich ihrer Heilkräfte wegen und nicht allein zur Geschmacksverbesserung beigegeben: Gewürznelke und Kardamom wegen ihrer antiseptischen Wirkung, Ingwer gegen Blähungen und für gute Verdauung, Gelbwurz gegen Hautprobleme, Quetschungen und Prellungen. Nach beendeter Mahlzeit wird häufig Paan, ein dunkelgrünes Blatt mit verschiedenen verdauungsfördernden Ingredienzen, oder Anis mit Kristallzucker, serviert. Als westlicher Gourmet und Hobbykoch stelle ich in Indien immer wieder fest, dass mir die Küche spätestens nach zwei Wochen zum Halse raus hängt. Eigentlich mag ich den Geschmack von Masala (Currymischung) und zuhause bereite ich gelegentlich ein originalindisches Curry aus der Malabarküste oder ein Chicken Tandoori zu. Zwei mehrwöchige Kurse ermöglichten mir seinerzeit den Zugang zur aufwändigen indischen Küche; doch jeden Tag indisch essen, und allenfalls noch vegetarisch, schmeckt mir nicht. Als Antivegetarier und Fleischfresser bin ich überzeugt, dass ein mit Liebe verdrückter Hamburger gesünder ist als eine mit Verachtung gekaute Gemüsegurke mit Raita.
Meine halbe Heimat
Vielliebchen schickte ich in Warteposition auf die Philippinen - sie kann Indien, insbesondere das Essen dort, nicht ausstehen und wollte nicht mitkommen. Über Weihnachten verbrachte ich ein paar Tage in der Heimat bei meinem betagten Muttilein im Land der Schwarzmaler und Dauernörgler; doch jetzt muss ich wieder weg. Heimat hat etwas mit Erinnerung zu tun. Sie befindet sich für mich dort, wo Leute sind, die mir nahestehen. Meine Heimat besteht zu einer Hälfte aus der Schweiz und zur anderen, am ehesten vielleicht aus Thailand - nicht etwa die Philippinen, wie Aussenstehende denken könnten. Doch zwei Hälften ergeben nur in der Mathematik ein Ganzes. Richtig daheim fühle ich mich nirgendwo.
Was ist das typische Bild eines Ausländers von meiner halben Heimat Schweiz? Wenn du jemanden fragst, dann sagt er oft "Ich trinke Nestlé". Das ist für viele die Schweiz. Erst nachher kommt die Story von der Schokolade und der Armbanduhr.
Herr und Frau Schweizer wohnen seit 50 Jahren in der gleichen Strasse, im gleichen Mehrfamilienhaus, in der gleichen Etage und in der gleichen Wohnung. Kein Sonnenschirm mit Werbung auf dem Balkon, man darf nicht grillen und schon gar nicht schwarzen Rauch verursachen, nicht bei offenem Fenster Musik hören, nach 22 Uhr nicht mehr draussen sitzen und reden. Noch drei Meter unter der Erde hört der sensitive Schweizer einen Maulwurf kacken. Eigentlich darf man den Sommer gar nicht geniessen, wenn es nach dem Hausmeister geht. Bei der Ordnung in der Waschküche, versteht der Eidgenosse keinen Spass. Verstösse werden von aufrichtigen Bürgern der Verwaltung gemeldet.
Es ist eine Eigenart der Schweizer, sich mit Vorliebe mit anderer Leute Fehlerhaftigkeit zu beschäftigen und sie bei Dritten durchzuhächeln. Frau Schweizerin ist zwar charmant, vornehm bescheiden, aber hoffnungslos verstaubt bis schrecklich verkorkt. Herr Schweizer pustet in ein vier Meter langes Horn um Musik zu machen, wenn er traurig ist.
In der Tramway (Strassenbahn) sehen alle so aus, als seien sie gerade durch eine Prüfung gerasselt: Immer ein bisschen missmutig und leicht verzweifelt über sich selbst. Das Lächeln der Schweizer ist unentschlossen, ihre Gesten kraftlos, und manche sehen aus, als seien sie müde geboren und lebenslang von Fehlschlägen gepeinigt. Obwohl es schier unmöglich ist, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, kann man in ihren Gesichtern viel lesen, besonders in denen, die um keinen Preis etwas entschleiern möchten und durch ihr Gegenüber hindurchstarren. Umso überraschender ist ihre Offenheit im Fernsehen, wo alle hektisch aufeinander einreden. Manchmal versteht man minutenlang kein Wort. Da werden ganz intime Dinge erörtert, die Arbeitsteilung im Haushalt, die Lieblingsstellung im Bett oder der private Alkoholkonsum. Niemand bekommt rote Ohren, alle sprechen sehr ernsthaft, und nur ganz selten wird gelacht.
In urbanen Regionen möchte der Schweizer lieber jemand anders sein. Deshalb reden sie so peinliche Phrasen wie, "Also morgen, same time, same place."
Wie zwischen Mord und Totschlag wird zwischen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung unterschieden. Nirgendwo sonst in der Welt wirst du am Flughafen mit einem grossen Plakat eines teuren Bordells namens Aphrodisia begrüsst. Edelnutten, das sind Zürichs wahre Sehenswürdigkeiten. Ich kenne Geschäftsleute, die innerlich jubeln, wenn Sitzungen in Zürich stattfinden. Denn anders als in Paris, werden sie von ihren Ehefrauen nicht begleitet, da Zürich als bieder gilt. So haben die Männer freie Hand.
Die Schweizer machen ihr Land kleiner als es ist. Dabei ist die CH gleich gross wie die Bundesrepublik Deutschland - man muss sie nur etwas glattbügeln. Proportional zur Entfernung von der Heimat nimmt der Patriotismus zu. Der Schweizer - eine Mischung zwischen Minderwertigkeitskomplex und Grössenwahn. Die Schweiz - eine Nation, die sich um Luxusprobleme kümmert.
Approaching India
Reset - zurück zur Reise. Wir starten pünktlich um 14.40 Uhr in Zürich-Kloten mit Emirates Richtung Dubai. Wie immer habe ich mir einen Ile-Seat in der Zweier-Reihe hinten im schmäler werdenden Rumpf des Airbus A320 reserviert; da ist das Lavatory auch nicht weit. Angenehm ist mir sonst auch ein Sitz beim Emergency-Exit. So kann ich meine langen Beine ausstrecken, ohne dass jemand darüber stolpert. Mein eigenwilliger Reisekumpel hat sein Ticket selber gebucht und einen anderen Platz ein paar Reihen vor mir erhalten. Neben mir am Fenster sitzt ein Schweizer, der sich später als Hugo (Name geändert) aus Sargans vorstellen wird. Er fliegt nach Manila, um den Bau seines Appartementhochhauses mit 50 Stockwerken im Stadtteil Malate zu überwachen, . Dass ein so betuchter Mann in der Economy fliegt, kommt mir etwas suspekt vor. Der Wolkenkratzer befindet sich ganz in der Nähe des Robinson Shopping Centers, Nähe Pedro Gil an der J. Bocabo Street, eine Gegend, wo ich mich seit Präsident Ferdinand Marcos Zeiten gut auskenne. Sofort macht er mir ein Kondominium schmackhaft und bietet es mir zum Kauf an. Für Outsider sei speziell darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Bezeichnung nicht um ein von Vatikan-Franze genehmigtes, neues philippinisches Kondomprodukt handelt, sondern vielmehr um Stadtwohnungen; obschon solche Gummitüten in den Quartieren Ermita und Malate selbst in der heutigen Zeit beste Dienste leisten könnten. Seine Holde hat er vor drei Jahren in der CH durch Scheidung entsorgt und seither geniesst er das Leben in vollen Zügen. Er schwärmt von den philippinischen Frauen und ich pflichte ihm bei. Mit Sicherheit meinen wir beide aber nicht die gleiche Kategorie, denn eine anständige Frau aus diesem Lande zieht vor der Verehelichung niemals mit einem Mann alleine um die Häuser, trinkt Bier und lässt sich im Hotelzimmer flach legen.
Viele seiner Aussagen kommen etwas suspekt daher, doch ich lasse ihn reden und bestelle mir bei der fliegenden Serviertochter noch ein weiteres Glas Rotwein aus dem Nappa Valley. Es handelt sich um einen gefälligen, nicht ausgebauten Cabernet Sauvignon aus Kalifornien mit schlankem Abgang. Zu meiner Enttäuschung serviert der Maître de cabin den Wein und nicht die nette Göre von vorher; ich wollte doch noch ein wenig schäkern. Ich schwatze trotzdem ein paar Takte mit dem Mann arabischer Provenienz und lobe aufrichtig und zu Recht, den bekömmlichen Rotwein von Emirates Airlines. Der Gebauchpinselte realisiert, dass ich im Gegensatz zu Asiaten, Rotwein von Brandy unterscheiden kann. Er vermerkt mit Stolz, dass es an Bord noch besseren Wein zu trinken gäbe - den sollten wir probieren. Vermutlich kann er als Muselmane den guten Wein nur im Preis von billigem unterscheiden. Ich kann es nicht fassen: Es vergehen keine fünf Minuten, da kommt der Knabe mit einer Flasche Aloxe-Corton aus der Business Klasse daher. Mit Sicherheit kann er dimensional nicht abschätzen, was er mir ins Glas einschenkt. Ich erlaube ihm, die Flasche gleich bei uns zu deponieren. Na dann Prost! Die Party nimmt ihren weiteren Verlauf und die Zeit vergeht im wahrsten Sinn des Wortes wie im Fluge. Wir quatschen und lachen bis Dubai. Wenn ich mal länger in Manila bin, nehme ich mir den Wolkenkratzer von Hugo etwas genauer unter die Lupe. Hochstapler ja oder nein, ich werde es herausfinden.
DC 8 - Fliegende Bar und Amüsiermeile
Was heute in Sachen guter Stimmung im Jet abläuft, lässt sich mit diversen ausufernden Parties in den 1970er-Jahren nicht mehr vergleichen. Meistens konvertierte ich damals kostenlos - das waren noch Zeiten - mein Rückflug-Ticket im Clearingverfahren auf eine andere Airline, z.B. von Air Colombo auf SAS. Nicht des Essens wegen - das haben die Nordländer bis auf die Neuzeit noch nie speziell hingekriegt, dafür umso mehr aber das Trinken. Die Flugroute der Skandinavier führte über Jahre mit wiederkehrender Regelmässigkeit auch über Karachi; dort kamen abgemusterte Seeleute an Bord.
Nach mehrmonatiger Schiffsreise und langer Alkoholabstinenz haben die Knaben ihren Job abgeschlossen und reisen mit prallgefüllter Geldbörse zurück nach Stockholm, Helsinki oder Oslo. Nach einer Unterbrechung erhalten sie wieder eine neue Heuer in den Golf runter. Die Spirale dreht sich weiter im Kreis. Im Flugzeug bestellt gleich jeder zum anfangen für sich zwei Bier, später folgt der Whiskey und weiss Gott noch alles. Ich sitze schon damals immer auf einem Aussensitz und die Matrosen belegen die verschiedenen Sitzreihen um mich herum. Da gibt es kein Entrinnen - ich weile im Zentrum des Geschehens. An Literatur, Bord-Entertainment oder Schlaf ist nicht zu denken. Ungefragt landen die Getränke auf meinem Tablett. Die Stimmung wird zunehmend gelöster - ich bin voll dabei.
Infolge diverser Zwischenlandungen im Mittleren Osten dauert die Reise besonders lange. Zweimal wechselt die Crew und das neue Team hat keine Kontrolle über den vorherigen Ausschank. Später wird Matrosen, die lallen und nicht mehr in der Lage sind, ihren Sitzgurt selber zu schliessen, die Bedienung mit alkoholischen Getränken verweigert. Doch wir üben Solidarität, bestellen für sie und reichen ihnen die Biere bis zum Abwinken weiter und bis sie nach der Kotztüte greifen. Der Jet ist nur halbbesetzt - die Crew hat weniger Arbeit. Besonders kontaktfreudige Air-Serviererinnen haben ebenfalls ihren Spass und halten sich auffällig viel in unserer Partyzone auf. Sie lassen sich sogar vereinzelt in unsere Sitzreihe ziehen und begrabschen, bis die eifersüchtige Pomeranze de Cabin bemerkt, was da abgeht. Eine Verwarnung lässt uns kalt - wir sind schliesslich nicht nur ein wenig angetrunken. Ein zweiter Übergriff nach dem Takeoff in Athen bringt schliesslich das Fass zum Überlaufen. Die Maître de cabin verpetzt uns im Cockpit. Der Flugkapitän erteilt unserer Gruppe bis zur Enddestination Stockholm absolutes Alkoholverbot; rausschmeissen kann er uns ja nicht )). In Zürich verpenne ich nahezu das Aussteigen, bis mich mein Nachbarkumpel weckt und darauf anspricht: "Hey man, don't you need to get off here?" Am Baggage Claim dreht mein Rucksack still und mutterseelenallein seine Runden.
Wüstenterminal
Bei der Zwischenlandung in Dubai mache ich Bekanntschaft mit dem brandneuen Flughafen. Ich fliege oft mit Emirates über den Heimatflughafen Dubai; die Fluggesellschaft ist mir sympathisch. Vor drei Jahren wurde ich noch im alten Gebäude abgefertigt. Ich bleibe gleich ein paar Tage und sichte Burj Al Arab, den Souk, all die Shoppingmalls, sehe den Eiskunstläufern und Skifahrern drinnen in den Hallen zu und karre mit einem Landcruiser über die Sanddünen. Es ist Ramadan und das heisst tagsüber Fasten - nur mein Toyota kriegt genügend Diesel zum Saufen. Essen und Trinken gibts nur nach Sonnenuntergang. Tagsüber erreicht das Quecksilber 47° Celsius im Schatten; selten habe ich so heiss gehabt. Da wird die AC zur lebenswichtigen Notwendigkeit.
Dubai International Airport (DXB)
Nun bin ich wieder zurück. Zwischen künstlichen Palmen lagert hier im Wüstenterminal jede Nacht ein beinahe repräsentativer Querschnitt der reisenden Menschheit. Eine Gruppe Männer mit roten Schirmmützen und der Aufschrift India hat es sich am Boden bequem gemacht. Für Transit-Passagiere gibt es bequeme Liegesessel, aber Inder legen sich immer gerne auf den Boden. Nicht ganz alle – eine indische Familie schlummert auf den Sitzbänken unter riesigen Wandbildern edler Pferde. Nicht weit davon hockt eine Asiatin im Schneidersitz auf dem Teppich im Dünenlook und bearbeitet ihr Netbook. Eine Gruppe philippinischer Seeleute sitzt auf Stahlstreben ausserhalb einer Airline-Lounge. Und ein Afrikaner im weissen Gewand zieht seinen Koffer bedächtig durch den insgesamt 1‘800 Meter langen Flughafen während arabische Grossfamilien, in ihre Gewänder gehüllt, vorbeiflanieren. Sonnenverbrannte australische Urlauber mit auffälligen Tätowierungen schwärmen gemeinsam mit Deutschen und Engländern durch die unzähligen Duty Free Shops. In der Emirates-Business-Class-Lounge gönnen sich zwei Flight Attendants ein Frühstück, während nebenan im Sessel ein Schwarzafrikaner auf einem rot karierten Kissen schlummert.
Das Konzept überzeugt mich nicht vollständig. Kein Vergleich zu Zürich, Bangkok, Singapore und Osaka; meine Lieblingshubs rund um den Globus. Immerhin ist der Flughafen vollgepumpt mit Leuten und es wird eine Menge Duty Free in den Läden umgesetzt. Die grosse Mehrheit der hier arbeitenden englischsprechenden Angestellten wird von den Philippinen gestellt. Sie verdingen sich hier zu einem bescheidenen Lohn in den Emiraten als Overseas-Contractworkers. Immer noch besser so, als zuhause ohne Arbeit rumzuhängen und zu jammern. Andererseits eine Riesengemeinheit, die Leute mit Kleinst-Monatslöhnen um die US $ 300 abzuspeisen. Ich bin wohl kein Freund des Sozialismus, aber mit sozialer und gerechter Marktwirtschaft kann ich mich alleweil identifizieren. Im Verhältnis zur gigantischen Grösse des Hubs, sind die Verpflegungsmöglichkeiten hier im Flughafen noch ausbaufähig. Die grossmaulig als Foodcourt bezeichneten Standorte bieten zu wenig Auswahl. Ich habe Kohldampf, denn meist verzichte ich als Economy-Vielflieger auf das eintönige Airline-Catering. Ausnahmen mache ich bei Thai Airways, Singapore Airline und Air Austral. Diese drei haben auch in der Unterhund-Klasse das Essen bestens im Griff.
Die Form der Gebäude assoziiere ich aus Innensicht am ehesten mit einem gestreckten Hangar. Da wurde viel Zement, Glas und Metall sehr ästhetisch verbaut. Es dürfte eine halbe Stunde dauern, um die Hallen vom Anfang bis zum Ende zu durchschreiten. Durch den Hangar hindurch laufen verschiedene Ebenen. Beim Umsteigen gibt es erneut eine umfassende Kontrolle des Handcarry. Laptops müssen – wie mittlerweile an allen Flughäfen üblich - separat aufs Transportband gelegt werden. Auch den Gürtel mit Metallschnalle ziehe ich ab, um etwelchen Problemen bei der Detektion vorzubeugen.
Incident Report
Im Flug von Dubai nach Chennai findet bereits Indien statt. Der ganze Jet ist überfüllt mit rückkehrenden Contract-Workers, die sich in den Vereinigten Arabischen Emiraten verdingen. Die Leute husten mir ins Gesicht und viele lassen jegliche Kinderstube vermissen. Mein unkultivierter indischer Sitznachbar schreibt während des Fluges SMS und kümmert sich in keiner Weise um bestehende Weisungen. Krampfhaft versucht er die Beine zusammenzuziehen und sich auf seinem Sitzplatz einzukugeln. "Junge, du bist hier nicht im Teeshop zuhause!" Das geht natürlich zu Lasten meiner Seitenfreiheit und ich muss den Unflat immer wieder mit dem linken Ellbogen in die Seite kicken und wegstossen. Weiter vorne kratzt sich ein Reserve-Sadhu in seinen verfilzten und fettigen Dreadlocks und drei Sitzreihen weiter, nimmt ein schmieriger Bengale sein Handgepäck zum zehnten Male aus dem Overhead-Container.
"Ladies and Gentlemen, this is your Captain speaking. We’ve already started our descent procedure into Chennai International Airport. We expect to land as scheduled in 30 minutes. If you want to adjust your watch, it is 9 AM local time in the city now. The weather is a bit overcast and the temperature is 29 degrees Celsius. We wish you a pleasant stay and we hope to see you again very soon. On behalf of all our crew, thank you for choosing Emirates Airlines."
Was jetzt folgt ist unter Incident Report im Cabin Operation Manual (COM) zu lesen. Kurz vor der Landung öffnet mein Nachbar seinen Sitzgurt und versucht ohne ein bemerkbares Signal über mich zu steigen. Vermutungsweise will er mich nicht begatten, sondern einfach nur raus, kombiniere ich, denn er behält seine schmutzigen Hosen an und der Stall bleibt geschlossen. Er spricht kein Wort Englisch und der Rüppel macht einfach drauflos. Doch es gelingt ihm nicht; ich muss aufstehen. Er entnimmt sein Handcarry und läuft nach vorne und wartet neben dem Notausgang. Alle Sitze sind belegt und er muss stehen. Im Stehen darf man nicht landen, und schon gar nicht einen Emergency Exit blockieren. Um in Kenntnis solch wertvoller Informationen zu gelangen, braucht man keinen indischen Fortuneteller zu konsultieren. Es kommt, wie es kommen muss. Der Unzivilisierte wird auf freundliche, aber sehr bestimmte Art von der Flugbegleiterin zurückkomplementiert. Natürlich muss ich armes Schwein wieder aufstehen und der Kreatur Platz machen.
Wenig später setzt der amerikanische Pilot die Maschine zur Landung auf dem Runway auf und wir rollen gegen das Terminalgebäude zu. Einmal mehr ignoriert mein Sitznachbar die Aufforderung des Flugpersonals in mehreren Sprachen, N.B. auch in Tamil und Hindi, sitzen zu bleiben und zu warten, bis das Flugzeug still steht: "Please remain seatet until the aircraft comes to a complet stop". Ich stehe nicht auf, doch der Unhold steigt über die Armlehnen auf irgendeine Geissenart über mich, öffnet das Gepäckfach, nimmt sein Handgepäck und läuft Richtung Ausgang nach vorne. Die Overhead Compartment bleibt geöffnet und die restliche Ladung dürfte demnächst mit Sicherheit einigen Passagieren an die Köpfe fliegen. Natürlich wird er wieder gestoppt, dieses Mal auf sehr unsanfte Art. Er kriegt Schelte ab und muss sich zu meinem Leidwesen wieder auf seinen Sitz zurückziehen.
Exploring Chennai
Die zentrale Lage Chennais und die guten Verbindungen des öffentlichen Verkehrs machen die Stadt zu einem praktischen Anfangspunkt für eine Indienreise. Das sind auch meine Beweggründe hier zu beginnen. Mittlerweile sind wir gelandet, haben einen Transport in die Stadt organisiert, die Unterkunft bezogen und das Handy auf einen indischen Provider ausgerichtet. Als nächstes steht die Organisation des Weitertransportes an. Der Egmore-Bahnhof, von dem die meisten Züge Richtung Süden abfahren, ist gleich gegenüber unseres Hotels, www.hotelchandrapark.com. Ich habe diesen Standort nicht ohne Grund ausgesucht. Wir wollen wissen, wann der nächste Zug bei Tag Richtung Puducherry fährt und suchen nach dem Billettschalter. Ein unwissender Passagier sendet uns zu einem Gramper, der unten bei den Geleisen werkelt. Dieser schüttelt den Kopf und zeigt auf das Büro des Bahnhofvorstandes. Der Mann weiss Bescheid und schickt uns weiter nach vorne, wo es einen Schalter gibt. Wir laufen 50 Meter weiter und finden nichts. Ein anderer Mann in Uniform weist auf den ersten Stock nach oben, doch wir müssen zuerst auf die andere Seite des Bahnhofs wechseln und dann hochsteigen. In der Tat finden wir eine Treppe zum Fahrkarten- und Auskunftsbüro. Auskünfte bekommt man an dem einen, Billette an einem anderen Schalter. Ich will abkürzen, doch erhalte ich immer wieder dieselbe Antwort. "First, you are going to inquire over there, after that you return back to here“ Indische Logik, die ich nicht verstehe, aber akzeptiere.
Also stelle ich mich beim Informationsschalter duckmäuserisch an und warte bis ich an der Reihe bin. Als der Bürochef sieht, dass hier ein weisses Langschwein in der Reihe steht, winkt er mich in sein klimatisiertes Büro und lässt dem Sahib aus dem Abendland eine Individualberatung angedeihen; es geschehen noch Zeichen und Wunder! Ich erfahre, dass der Zug nach Pondy jeden Tag morgens um 6.30 Uhr abfährt. Fahrkarten sind nur am Reisetag eine Stunde vor Abfahrt am Schalter unten in der Halle erhältlich. Platzreservationen sind nicht möglich. Mein Reisekollege hält seine kleine Knipse schussbereit in den Händen und ignoriert meinen Hinweis, dass fotografieren in indischen Bahnhöfen untersagt ist. Der Blitz verrät ihn und prompt muss er eine Rüge des Bürochefs einstecken. Das wäre nicht nötig gewesen und mein lupenreines Ausländerimage ist nun unverschuldet angekratzt. Anschliessend begeben wir uns zur Doppelabklärung zum besagten Schalter im Erdgeschoss, wo eine Traube von Leuten auf ihre Abfertigung wartet. Jeder versucht den anderen wegzudrängen. Es dauert zehn Minuten bis ich mich zum Schaltergitter vorgekämpft habe. Dank meiner Körpergrösse bin ich gegenüber jedem Curryfresser im Vorteil. Ich bringe in Erfahrung, dass der Schalter morgens ab 5.00 Uhr öffnet und dass jetzt keine Fahrkarten verkauft werden. Alles klar, die Information stimmt also! Morgen werde ich auf Anhieb den richtigen Schalter anpeilen und mir dann einen guten Fensterplatz auf Meeresseite sichern.
Die restliche Tageszeit nutzen wir zu einer Stadtrundfahrt mit einer Auto-Rikshaw. Zweimal nötigt uns der Fahrer zum Besuch von Souvenirshops. Wir haben keinerlei Interesse, tun ihm aber den Gefallen, weil seiner Aussage nach, seine Kinder von den Geschäften unentgeltlich Schulmaterial erhalten. Das ist natürlich eine faustdicke Lüge. Nach fünf Minuten sind wir jeweils wieder draussen ohne etwas zu kaufen. Das gefällt ihm nicht und er beginnt sich über uns zu beschweren. Wir bedauern unsere Gutmütigkeit und machen ihm klar, dass wir zu keinen weiteren Gefälligkeiten bereit sind.
Ich erwache im Hotel um 06.45 Uhr. Die Zeitverschiebung von 4 ½ Stunden hat meine innere Uhr gestört. Den Handy-Wecker hatte ich nachlässigerweise nicht eingestellt. Wir haben keine Fahrkarten und unser Zug, der einzige heute, ist längst weg. Mein Reisekumpel war scheinbar wegen meines Geschnarches und des Strassenlärms rechtzeitig wach, fühlte sich jedoch zu müde, um aufzustehen. "Das ist ja eine schöne Reisepartnerschaft", denke ich. "Wenn das auf Dauer nur gutgeht". Da wir ohnehin zu spät dran sind, gönnen wir uns Zeit zum Morgenessen. Um keinen vollen Tag zu verlieren, bleibt uns nichts anderes übrig, als mit dem Bus nach Puducherry zu reisen. Busfahren in diesem Lande ist nichts für schwache Nerven. Der Kamikaze-Fahrstil der indischen Chauffeure und der Zustand der Autos und Strassen sind ein gefährliches Gemisch. Die Fahrer verlassen sich hier nicht auf ihr Hirn, sondern auf den Glücksquotienten. Deswegen bevorzugen viele Touristen, wenn immer möglich, den Zug gegenüber dem Bus. Nicht ganz so schnell und auch weniger pünktlich, ist die Sicherheit auf der Schiene grösser. Eine Auto-Rikshaw bringt uns samt Gepäck zum Busbahnhof Chennai Mofussil Bus Terminus. AC-Busse gibt es bei den Transportgesellschaften KPN oder Rathi Meena. Diese starten vom weniger chaotischen Busbahnhof gleich nebenan bei der Tankstelle. Der Rikshaw-Walla wirft uns auf hundert Meter Sichtweite vor dem Busbahnhof raus; er weigert sich in eine Einbahnstrasse reinzufahren. Um direkt vor die Busstation zu gelangen, müsste er eine Umwegschleife fahren. Bei sengender Hitze schleppen wir unser Gepäck über eine stark befahrene Hauptstrasse dorthin. Das nächste Mal lasse ich mir das nicht mehr bieten. Zuerst muss ich mich in Indien wieder assimilieren, Aggressivität hochfahren und Gutmütigkeit und Freundlichkeit ablegen.
Approaching Pondy
Der Bus nach Pondycherry ist schon weg und der nächste fährt in drei Stunden. Wie von Geisterhand ist sofort ein williger Fahrer zur Stelle, der uns mit seinem Privatwagen an unsere Zieldestination chauffieren will. Nach langem Feilschen einigen wir uns auf einen Preis von Rs 2‘300. Das ist zu viel, aber er muss die Leerfahrt zurück einkalkulieren. In einer unspektakulären Fahrt erreichen wir Pondy nach zwei Stunden. Der Fahrer macht bereits bei der Stadteinfahrt Tänze und will wissen, wo wir genau hinwollen. Längst haben wir ihm vor der Abfahrt klar gemacht, dass wir nach der Ankunft mit seinem Wagen auf Suchtour für ein adäquates Hotel gehen wollen. Jetzt will er nichts mehr davon wissen und zeigt seinen wahren Schweinecharakter – typisch indische Abreissermentalität. Meine Stimmlage hebt sich bedenklich und es wird ungemütlich im Fahrgastraum. Als Anhaltspunkt gebe ich ihm eine Adresse. Er versucht zu telefonieren, aber sein Handy funktioniert nicht. Er versucht den Akku zu wechseln und gibt dann verärgert auf. Er verlangt nach meinem Handy, er bittet nicht, doch ich habe keinen Bock, diesem arroganten Kerl aus der Patsche zu helfen. Sahib Pitcairn lehnt sich im Fonds zurück und wartet der Dinge, die da kommen. Dies zwingt ihn, sich durchzufragen, doch sein fehlender Orientierungssinn verbockt ihm alles. Das Dumas Guest House findet er letztlich nur mit unserer Unterstützung und Lonely Planet. Es ist Hochsaison und das Hotel voll besetzt. Gleich nebenan hat das Hotel-Restaurant Le Club ein freies Zimmer, allerdings für Rs 3‘000. Ich kann den Preis nicht tiefer als auf RS 2‘500 herunter würgen, mehr ist nicht zu machen. Unser Fahrer wird immer ungemütlicher, will unser Gepäck auf die Strasse stellen und wieder abhauen.
Doch wir sind am längeren Hebel, denn er hat die Kohle noch nicht auf seiner Kralle. Ich mache mich zu Fuss auf die Suche nach einer passablen Bleibe. Mein Reisekollege wartet im Wagen und bewacht das Gepäck. Das erste Mal kann ich einen Vorteil erkennen, nicht alleine zu reisen. In der gleichen Strasse finde ich schliesslich ein schönes Zimmer im L’Escale Guest House für Rs 1‘500 pro Nacht, www.lescalepondicherry.com. Die Unterkunft ist in jeder Hinsicht in Ordnung, jedoch klar Rs 500 über unserem Budget. Optimal wäre, wegen des Kostenteilers, das Zimmer zu Dritt zu belegen. Ein englisch-französisches Ehepaar mit zwei Kindern führt dieses Gästehaus. Es gibt einen wunderschönen Dachgarten, gratis WiFi, super Morgenessen mit richtigem Kaffee, heisser Milch, dunklem Brot und Hörnchen, Eier, Butter, Konfitüre, allerdings exklusive. Der Support der Gäste durch den britischen Inhaber Nicolas lässt keine Wünsche offen. Der Mann macht keinen Job, er ist berufen! An diesem Standard könnten sich eine Menge Hoteliers eine Scheibe abschneiden. Wir sind rundum zufrieden. Bis zum Ende meiner Indientour konnte kein Hotel das Preis-Leistungsniveau des L’Escale toppen.
Das Gästehaus arbeitet mit Mayle Tour zusammen, www.mayiletour.com (Tel. 9443085463). Wooly der Geschäftsführer ist ein Kollege von Nicolas und kommt am Abend persönlich vorbei. Als überzeugte Individualreisende buchen wir einen Trip mit Kleinwagen und Fahrer zum Preis von Rs 2‘000 pro Tag all incl. Dazu gehören alle Parkgebühren, Dieseltreibstoff, Rückführungskosten Wagen, Essen und Unterkunft des Fahrers. Somit kommt mein täglicher Transportanteil auf gut CHF 20.-- zu stehen. Taxifahrten werden zusätzlich eingespart. Theoretisch steht uns der Fahrer rund um die Uhr zur Disposition; doch er muss nie mehr als insgesamt neun Stunden täglich fahren. Gerne hätten wir aus Kostengründen eine weitere Person partizipieren lassen.
Mein feiner Reisekollege verträgt keinen Luftzug und verlangt, dass im Tata ohne AC kein Fenster auch nur einen Spalt weit geöffnet werden darf. Babu und ich schauen einander wortlos an. Wir sind für diesen Unsinn nicht zu haben und ignorieren diplomatisch seine Forderung. Wir finden eine Lösung, indem er vom Hinter- auf den Beifahrersitz vorne links wechselt. Dort kann er seine Scheibe geschlossen halten, sein Foulard um den Hals wickeln und ist einigermassen zufrieden.
Ein eigenes Fahrzeug bietet unbestreitbar grosse Vorteile und erhöhte Flexibilität. Es ist ein Zugeständnis an mein gereiftes Alter und als Belohnung für vergangene Strapazen gedacht. Ich predige Wasser und trinke Wein. Doch ich bin auch nur ein in die Jahre gekommener Traveller und Mensch. Zu schämen brauche ich mich deshalb nicht. Meine Frau schleppt mich im Supermarkt auf den Philippinen schliesslich auch bereits an die Rentnerkasse. Mein Selbstbewusstsein wird zunehmend dezimiert. Glaube mir, wenn du dir eine Gummimatte mit Saugnäpfen in die Badewanne legst, sind das die ersten Symptome, dass du älter wirst.
Älter werden
Ich habe mein Leben von Anfang an mit sicherer Hand geführt, wenig dem Zufall überlassen und oft ein gutes Karma gehabt. Nie bin ich heil- und planlos durch die Welt geirrlichtert, bin weder geflautet noch habe ich mich treiben lassen. Meine bewegende Vita sieht für sogenannte Normalos erschreckend aus; dazu gehört auch ein Hauch des Skandalösen. Das Leben ist wohl zu vier Fünfteln gelaufen - meine Biografie ist unumkehrbar. Es steht niemandem zu, mich über mein Leben zu befragen. Wenn es mir behagt, schreibe ich gelegentlich davon.
Periodisch bin ich wiederkehrend rein privaten Ambitionen gefolgt und habe meine berufliche Weiterentwicklung ruhen lassen. Trotzdem ist es mir im Verlaufe der Jahrzehnte immer wieder gelungen, beruflich Fuss zu fassen, meine Existenz abzusichern und erneute Geldmittel zu generieren. Meine längste Pause, welche auch gleichzeitig zu meiner längsten Reise wurde, dauerte von 1996 bis 2001 – satte fünf Jahre. Während dieser Zeitspanne hielt ich mich in Down Under und in den Weiten Ozeaniens auf. Aussenstehende könnten denken, dass ein Mensch nach solch langer zeitlicher Distanz den Bezug zu seinem früheren Beruf und den Willen, täglich mehr als zwölf Stunden zu arbeiten, vollständig verloren hat. Ausnahmslos haben sich alle in ihrer Annahme getäuscht. Nun bin ich wiederum bald sieben Jahre fern eines Erwerbsprozesses und im Durchschnitt zehn Monate pro Jahr auf Reisen. Ich wundere mich, womit andere Ruheständler ihre Tage füllen: Enkel hüten, Skattreffen, Gartenarbeiten, die Alte besänftigen. Ich bin ruhiger geworden, doch geniesse ich das Leben immer noch auf ungezügelte Art. Als Spätpubertierender will ich noch etwas bewegen. Mit einem Siegesgrinsen blicke ich zurück.
Puducherry
Aufgrund meiner Reisevorbereitung entscheiden wir uns für das folgende Routing: Puducherry – Thanjavur – Madurai – Kanyakumari (Cap Comorin) – Kovalan - Thiruvanandapuram (Trivandrum) – Alappuzha – Kochi – Mettupalayam – Ooty –Masinagudi – Mysore – Shimoga – Jog Falls – Goa. Wooly verlangt Vorauskasse. Die gewählte Route kann jederzeit abgeändert oder die Dauer verlängert werden. Zusätzliche Aufwendungen werden extra verrechnet. Bei einer vorzeitig beendeten Reise erfolgt keine Rückerstattung. Von anderen Reisen weiss ich, dass diese Konditionen in ganz Indien Standard sind. Durch die Vermittlung von Nicolas haben wir Vertrauen in Mayile Tour und werden auf der ganzen Reise auch nicht enttäuscht. Der Tourist muss wissen, dass der Fahrer primär Fahrer und kein Fremdenführer ist. In der Regel sprechen alle Fahrer wenig bis kein Englisch, andernfalls wären sie als besserbezahlte Fremdenführer in Aktion. Der Individualtourist muss sich selber zu helfen wissen. In komplexeren Situationen hat Wooly am Telefon auf Tamil übersetzt. Generell hat er uns jeden Tag angerufen und sich erkundigt, ob alles in Ordnung sei. Bei dieser Gelegenheit macht er auch auf stattfindende kulturelle Veranstaltungen aufmerksam. Ich kann diesen Jungunternehmer mit seiner Organisation jederzeit weiterempfehlen.
Unser momentaner Standort Puducherry, so lautet der neue offizielle Name, ist eine Stadt im gleichnamigen Unionsterritorium Puducherry in Südindien. Sie befindet sich knapp 150 Kilometer südlich von Chennai. Die ehemals französische Kolonie wird begrenzt vom indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Im Osten lehnt die Stadt an den Golf von Bengalen an.
Diese Stadt hat durch ihren französischen Anstrich etwas Charme. Sie wurde im 18. Jahrhundert durch die Franzosen als koloniale Enklave besiedelt und entwickelte sich im 20. Jahrhundert mehr und mehr zu einer beliebten Touristenattraktion. Puducherry bietet mehr Sehenswürdigkeiten als man denkt. Im etwas ruhigeren touristischen Zentrum nahe der Küste finden sich einige Überbleibsel französischen Bauschaffens, z.B. breite Boulevards, etwas Kopfsteinpflaster, das französische Konsulat, die Strandpromenade, Kirchen und Weiteres. Der Film Life of Pi (Schiffbruch mit Tiger) von Regisseur Ang Lee, beginnt hier im fiktiven Zoo.
In Tat und Wahrheit gibt es nur einen Botanischen Garten. Zum Stadtbild gehören auch der Ganesh-Tempel, die grosse Kathedrale, der Lebensmittelmarkt und ein Ashram.
An einem Nachmittag ziehe ich mich mit meinem Netbook und zwei grossen Büchsen Carlsberg für ein paar Stunden auf die Dachterrasse unseres Gästehauses zurück. Der Ausblick ist traumhaft und inspiriert jeden Schreiberling. Auf der einen Seite präsentiert sich die Bay of Bengal und auf der anderen Seite erblicke ich die Dächer des französischen Quartiers von Pondy. Ich bin noch nicht lange am tippen, da setzt sich unsere Zimmerfrau zu mir. Sie spricht nur zehn Wörter Englisch, doch bringen wir eine kleine Konversation zustande. Erste gegenseitige Standardfragen richten sich in Indien meistens nach dem Alter, der Religion und Familie; in westlichen Ländern andererseits immer nach der Nationalität und dem Beruf. Allein über diese Thematik könnte jemand eine Diplomarbeit abfassen. Aus ihrer Äusserung, "I am first wife" kombiniere ich, dass sich ihr Mann, ein Hindu, eine zweite Frau genommen hat. Sie scheint dies gelassen akzeptiert zu haben, zumal sie ihrem Gatten bereits einen Buben und ein Mädchen geschenkt und somit ihre wichtigsten Pflichten als indische Ehefrau erfüllt hat. Gegenüber der zweiten Frau nimmt sie eine übergeordnete Rolle ein und es bleibt zu hoffen, dass ihr die ebenfalls im gleichen Haushalt lebende Schwiegermutter nicht das Leben zur Hölle macht.
Auf einem Stadtrundgang lasse ich die kontrastreiche Verbindung zwischen französischer Architektur und dem hektischen Alltagsleben mit all seinen Klängen, Aromen und Düften auf mich einwirken. Sonst aber ist Pondy überwiegend Tamil-Nadu und damit ein hup-brüll-kreischendes Chaos.
Sinnsuchende im Ort der Anstrengung
Der Ashram ist so etwas wie eine Klappsmühle für meditierende Junggreise, unzufriedene Westemanzen und arbeitsscheues Gesindel und Tagediebe. Die Lokalitäten sind sauber und neutral. Mitarbeitende der Nachfolgegurus beaufsichtigen die Mahlzeiten, die Meditationssitzungen, Seminare und Workshops. Es ist eine in sich geschlossene Gemeinschaft, in der strenge, unverrückbare Regeln gelten. Niemand spricht mit normaler Lautstärke, alle flüstern. Niemand runzelt ärgerlich die Stirn, grinst schadenfroh oder jammert. Barfüssig, die Gesichter verzückt oder träumerisch versonnen, wandeln die Leute umher wie seinerzeit die Patienten im Streifen One flew over the cuckoo‘s nest. In diesem Film brilliert Jack Nicholson in seiner Paraderolle als McMurphy, der sich der Routine der Anstalt nicht anpassen will; er rebelliert gegen das strenge Regelwerk und sichert sich damit die Gunst seiner Mitinsassen.
Die Sinnsuchenden im Ashram werden auf unerträgliche Weise bevormundet. Unter vielem Anderem gilt ein Ausgehverbot ab 22.00 Uhr. Alkohol und Drogen sind tabu, die Kost vegetarisch. Fleisch gibt Kraft, von wegen nur Gras und Kräuter fressen. Das darf man höchstens einem heilig gesprochenen Rindviech zumuten. Ich habe kein Talent für spirituelle Abenteuer. Ich lade nur Einsichten aufs Hirn runter, die ich selber geprüft und für gut befunden habe. Ashram bedeutet Ort der Anstrengung. Warum soll ich mich dort anstrengen und erst noch dafür bezahlen? Ich habe keinen Bock, mich bevormunden zu lassen, auf Abstinenz und Meditation zu machen, eine Geistesphilosophie und die göttlichen Wahrsagungen eines Grossgurus sel. nachzuplappern und zu lobpreisen. Viel lieber gehe ich diesen ewigen Weisheiten andächtig aus dem Weg und halte mich an mein autogenes Training. Ich bin eingeklemmt in die kurze Spanne zwischen Geburt und Tod, in der es viel zu verrichten gibt. Ich habe meine eigene Mission. Für Hindus ist dieses kurze Dasein eine von vielen Durchgangsstationen zur weit bedeutenderen Form der Erleuchtung. Super, wenn‘s eintrifft. Ich mag’s jedem gönnen, wenn es bei ihm kräftig in der Birne leuchtet. Mein eigener Gott geht nicht so verschwenderisch mit der Zeit um. Aber halt aufgepasst, ich habe eine zündende Idee: Eigentlich könnte ich zusammen mit dem Methernita-Vati von Linden bei Oberdiessbach einen Ashram nach meinem Gusto aufmachen. Schnell wäre eine Lebensphilosophie zurechtgeschustert, die passt und genügend Kröten einbringt. In weissem Gewand, wallendem Bart und einem akzentvollen Englisch, könnte dann Swami Pitcairn seine Lebensklugheiten über die Sannyasins ergiessen. Piselotten, Abkassieren – es lebe der Kapitalismus!
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Um sich dem leidvollen Zyklus der Wiedergeburt zu entziehen, muss man als Mensch genügend Selbsterkenntnis erlangen. Jeder Einzelne wird immer wieder geboren. Dieser Vorgang wird Samsara genannt. Die Qualität der Wiedergeburten hängt vom eigenen Karma, das heisst vom Verhalten und von Handlungen im früheren Leben ab. Wer viel schlechtes Karma angesammelt hat, kann auch als Tier wiedergeboren werden. Doch nur die Wiedergeburt als Mensch führt irgendwann schliesslich ins Nirwana. So weiss ich nun, dass meine Mastschweine zuhause auf den Philippinen im früheren Leben alles Versager in Indien waren und die Qualifikation in ein neues Menschenleben nicht geschafft haben. Auf ein gutes Kotelett auf dem Grill, oder auch zwei, werde ich trotzdem nicht verzichten, selbst wenn ich als Mastschwein wiedergeboren werden sollte.
Tempeltour
Ein neuer Tag beginnt. Wir starten um 10.15 Uhr in Pondy mit dem Tata-Kleinwagen und Fahrer Babu Richtung Süden. Unser junger Driver ist 26jährig, verheiratet und Vater einer kleinen Tochter. Seine Hupe ist rekordverdächtig und könnte einen Tsunami aufhalten.
Auf dem Weg besuchen wir zuerst den Darasuram-Tempel: Kein absolutes Muss, aber wenn man schon in der Nähe daran vorbeirollt, sicher einen Augenschein wert. Im heutigen Etappenziel Thanjavur angekommen, checken wir im Hotel Tamil Nadu ein (Rs 1‘000). Thanjavur ist eine chaotische, schmutzige, moderne, indische Stadt. Jenseits der hupenden Busse und des fröhlichen, öffentlichen Urinierens, befinden sich das UNO-Weltkulturerbe des Brihadishwara-Tempels und der weitläufige Maratha-Palast. Würde man im Palast alle Kunstfiguren studieren, könnte hier ein Begeisterter viele Stunden verbringen. Ich geniesse die interessante Architektur und begnüge mich mit der Begehung der verschiedenen Grossräume, Hallen, Türme und Terrassen. Die Aufstiege und Durchgänge sind auf indische Körpergrössen ausgerichtet und ich habe Mühe, meine hundert Kilo und 187 Zentimeter Länge und zusätzlichen 3 Zentimeter Flachsandalen hindurch zu schieben. Mein Kollege ist von geringerer Grösse und käme besser durch. Doch er hat keinen Nutzen, da er im Auto pennt und mit dem Fahrer auf mich wartet.
Anschliessend besuche ich die kolossale eintausend jährige Brihadiswhara-Tempelanlage von König Rajaraja Chola. Meine Teva-Sandalen binde ich hinten an den Tagesrucksack - die Anlage darf nur ohne Schuhe betreten werden. Die Tempelaufsicht weist mich zurecht; Schuhe müssen nicht nur ausgezogen, sondern dürfen auch nicht, gleich auf welche Art, in die heilige Stätte gebracht werden. Als er mir den Rücken zuwendet, nehme ich die Sandalen aus dem Sichtfeld der Empörten und packe sie in meinen Tagesrucksack. Eine Pilgergruppe spricht mich an und bittet um ein Gruppenfoto. Hier bin einmal ich der Exote. Selbstverständlich mache ich mit und erhalte Gegenrecht. Das ist immer eine gute Basis für einen Informationsaustausch. Später sprechen mich noch zwei 20jährige Girlies an. Ich fühle mich als gebauchpinselter Gockel. Doch merke ich bald, dass es den Studentinnen weniger um die plumpe Anmache eines angegrauten Backpackers, sondern vielmehr um die Praktizierung ihrer englischen Sprachkenntnisse geht.
Madurai
Chennai mag das Herz und die Hauptstadt von Tamil Nadu sein, Madurai ist seine Seele. Der Tempel Sri Meenakshi Amman gehört zu den grossartigsten Tempelanlagen Indiens. Er hat als ästhetisches Erbe für die Region den gleichen Wert wie das Taj Mahal in Nordindien. Der 6 Hektar grosse Komplex ist Shiva gewidmet und von zwölf Gopurams umgeben, wovon der höchste 52 Meter gigantisch über die Stadt ragt. Alle sind mit einem übervollen Aufgebot von Götter- und Dämonen-Figuren versehen. Unzählige Pilger ziehen um und durch die dunklen Anlagen.
Der Verkehr ist gleich dramatisch wie in jeder indischen Stadt. Die Luft ist verpestet und es riecht nach Benzin, Kot und Urin. In der Nähe des Tempels steige ich aus dem Wagen und da warten wiederum alle auf mich als ob mich da jemand angekündigt hat: Räucherstäbchen-Schwenker, Ofenputzer, Matratzenaufschütter, Ohrenreiniger, Fussmasseur, Rattenfänger, Essens- und Chai-Wallas, Floristen, Wäscher, Wasserträger, Gasflaschenmänner, Tänzer, Sänger, Akrobaten, Wahrsager, Pulsmesser, Tempeldiener, Feuerschlucker, Affendresseure, Schlangenbeschwörer, Bärenführer, Fakire, Paperpusher – alles ehrbare Berufe mit Erbfolge und alle leben von den Touristen und der Betriebsamkeit dieser Strasse. Das Gesicht vernarbt, sieben von zehn Fingern von der Lepra weggefressen, zerren die restlichen drei an meinem frisch gewaschenen atmungsaktiven T-Shirt. Eigentlich will ich den Mann wegstossen, aber da reisse ich ihm womöglich noch die restlichen drei Finger aus. Nein, ich will heute nichts Gutes tun, kein Geld spenden und Karma einkaufen. Ich will nichts anderes, als in Ruhe gelassen werden und fordere etwas Respekt und Privatsphäre. Mit schnellen Schritten entferne ich mich aus der Begehrlichkeitszone und rette mich in eine Teeküche.
Armut in Freiheit?
Mein Gefühl vermittelt mir den Eindruck, dass die Strassen in Südindien schlechter ausgebaut und unterhalten sind als im Norden des Landes. Wenn ich an die Strecke von New Delhi nach Rajasthan bis zur pakistanischen Grenze denke, ist da schon ein erheblicher Komfortunterschied festzustellen. Die indischen Gliedstaaten scheinen alle selber für den Bau und Unterhalt der Strasseninfrastruktur zuständig zu sein. Übergeordnete nationale Tiefbauprojekte sind unbekannt, Föderalismus wird gross geschrieben. Selbst zwischen den einzelnen indischen Gliedstaaten werden von den Telefonprovidern Roaminggebühren erhoben. Beim Grenzübertritt gibt es Kontrollen. Eine wirtschaftliche, nationale Verbundenheit scheint nicht zu existieren. Es ist daher auch verwunderlich, weshalb die islamischen Territorien vor einem halben Jahrhundert auf Biegen und Brechen von Indien abgespalten werden mussten. Das war wohl wieder so ein Furz von Mahatma Gandhi. Mit jedem neuen Hungerstreik zwängte er seinen Willen beim Parlament durch. Die Emotionen von Millionen ungebildeter Staatsbürger verschafften den notwendigen Nachdruck. Indien ist ein Vielvölkerstaat und hat einen zehn Prozent-Anteil an Muselmanen. Unter dem bisherigen politischen Dach hätte der Nordwesten weiterhin seinen halbautonomen Platz gehabt. Jetzt geht es den Bürgern nicht besser und die Konflikte sind noch grösser geworden. Ich kann das Ketzern nicht lassen. Hand aufs Herz; wäre Indien heute nicht geordneter, zivilisierter, mit besserem Lebensstandard wenn die Engländer 1947 geblieben wären? Ist Wohlstand in Ketten nicht besser, als Armut in Freiheit?
Disqualifikation
Frühstück ist ausnahmsweise in unserem Hotel inbegriffen. Normalerweise verfügen unser Herbergen über kein Restaurant oder kennen nur indische Verpflegung. Das Pseudo-Westernbreakfast besteht aus Rührei, einer Art Brot sowie Butter und Marmelade, welche bereits auf allen Tischen platziert sind. Mein Kumpel kürzt ab, bedient sich direkt aus den Töpfen und schmiert Butter und Marmelade aufs Brot. Mit der Zeit sind der Buttertopf mit Marmelade und der Marmeladetopf mit Butter verschmiert. "Du machst ja eine Riesenschweinerei" bemerke ich, denn ich kann es nicht ertragen, wenn sich Leute nicht zuerst in den eigenen Teller schöpfen; Klar ein Zeichen fehlender Erziehung und Kinderstube. "Ich bin Schweizer", bekomme ich selbstherrlich zur Antwort. Auch wenn es ungesagt bleibt, dieser Äusserung müsste man noch folgende Worte anhängen: "Meine Nationalität steht über den anderen. Das Wohl der anderen ist mir egal. Ich nehme mir heraus, mich direkt aus den Töpfen zu bedienen. Wen es stört, soll weggucken". Ich sage nichts. Das ist Swissness auf umgekehrte Art. Mein feiner Reisekollege disqualifiziert sich mit diesem Verhalten selbst.
Kanyakumari
Ein neuer Reisetag beginnt. Bald sind wir aus der Stadt raus. Mit Überraschung gelangen wir auf eine passable Autobahn bis nach Kanyakumari (Cap Comorin). Hier endet die Strasse in den Süden am Schlusspunkt des indischen Subkontinents und hier treffen der Bengalische Strom, das Arabische Meer und der Indische Ozean zusammen. Im April findet jeweils ein einzigartiges Erlebnis statt, wenn der Mond und die Sonne gleichzeitig auf- bzw. untergehen. In Kanyakumari finden wir eine Bleibe im Hotel Maadhini, für Rs 1‘200, ungültiger Link entfernt.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen mache ich mich alleine auf zu einer kleinen Rundwanderung, um die Stadt und Umgebung zu exploren. Mein Kumpel dürstet stärker nach einer Ayurveda-Massage und macht sich auf die Suche nach einem passenden Etablissement; die ganze Reise redet er schon davon. Ob er wirklich nach einer Gesundheitsmassage verlangt oder seinen Pimmel pflegen will, ist mir nicht ganz klar. Nach meiner Rückkehr werde ich feststellen, dass er nicht fündig geworden ist und im Hotel gepennt hat.
Auf dem Weg zur schneeweissen katholischen Kirche komme ich mit einem indischen Seemann auf Heimaturlaub ins Gespräch. Ein netter Kerl - die gibt es in Indien auch. Dankend nehme ich sein Angebot an, mich mit seinem Scooter zur Kirche zu fahren. Die alte Erfahrungsregel bestätigt sich zum wiederholten Male. Wenn ich alleine unterwegs bin, ergeben sich mehr Kontakte, sofern ich die innere Antenne auf Empfang stelle.
Es nervt mich stets, wenn ich beim Tempelbesuch meine Sandalen ausziehen und mit meinen sauberen Füssen über den dreckigen kontaminierten Tempelboden wandeln muss. Dieses Ritual wurde unsinnigerweise von der katholischen Kirche übernommen und ich muss selbst in einer Christenkirche meine amerikanischen Qualitätslatschen abstreifen. Die Kirche gibt von der Einrichtung nicht viel her und es hat auch keine Sitzgelegenheiten. Die Gläubigen beten hier wie die Moslems in der Moschee. Sachen gibt’s auf der Welt. Solche Verhältnisse sollte der Nachfolger des Apostelfürsten Petrus, Jorge Mario Bergoglio, in seinem globalen Club nicht einreissen lassen. Doch selbst bei den Katholiken ist es mir zu unbequem. Ich mag nicht knien, darum sympathisiere ich mit den Protestanten - dort kann ich wenigstens immer sitzen. Ich schreite die Umgebung der Kirche ab, um den idealen Standort für ein Bracketing zu finden. Ich geniesse es beim Fotografieren alleine zu sein und zeitlich auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Da lobe ich mir meine Geliebte, die hat – wenn mit mir auf Reisen - immer jede Zeit und Geduld für mich und mein kreatives Hobby. Wenn die Lichtverhältnisse nicht optimal sind, kann es schon mal vorkommen, dass wir zu einer anderen Tageszeit zum Ablichten an den gleichen Ort zurückkommen. Das soll mal jemand auf einer geführten Gruppenreise praktizieren.
Kovalam
Der Zeiger meiner Swatch zeigt auf acht Uhr, als wir von Kanyakumari abfahren. Unterwegs erfreut uns der Padmanabhapuram-Palace, Kerala State. Nach einem Augenschein fahren wir weiter und erreichen gegen Mittag den Lighthouse Beach von Kovolam. Hier wollen wir eine Weile bleiben. Seit dieser Ort in den 1970er-Jahren von den Rucksacktouristen entdeckt wurde, dauerte es nicht lange, bis europäische Pauschal-Reiseanbieter auf der Suche nach einer zweiten Goa-Goldmine, sich hier in diesem ehemaligen Fischerdorf einnisteten. Trotzdem ist eine Menge des einstigen Zaubers erhalten geblieben und ich kann diese Destination nach wie vor allen Rucksackreisenden, Neo-Hippies und Pseudo-Alternativtouristen empfehlen.
Mein Kumpel ist bereits reisemüde und will ausserhalb des Hauptstrandes in der erstbesten, schweineteuren Unterkunft absteigen. Hier bestätigst sich mir einmal mehr: Es sind meist Leute mit geringen finanziellen Mitteln, die unnötig Geld verdummen. Mit etwas mehr als diplomatischem Nachdruck, kann ich ihn zu einer besseren Lösung bewegen. Fahrer Babu wartet mit dem Gepäck im Wagen, und wir machen uns auf einen Erkundungsgang. Trotz Hochsaison finden wir nach einer halbstündigen Suche ein schönes Zimmer an zentraler Lage für Rs 500 in Strandnähe: Sumangali Tourist Home, Lighthouse Beach, Kovalam, www.hotelsumangali.com. Es tut gut, wieder mal alleine in einem Zimmer zu übernachten und nicht Rücksicht auf Dritte nehmen zu müssen, zumal mein Geschnarche auf einen lärmempfindlichen Zimmernachbar nicht immer meditative Wirkung hat.
Der Ort lädt ein, um sich für ein paar Nächte vom Reisen im anstrengenden Haifischbecken Indien zu erholen. Es gibt eine Anzahl westlich ausgerichteter Gaststätten wie z.B. das Swiss Café oder insbesondere die Deutsche Bäckerei, welche sich zu einer Institution am Platze gemausert hat. Andere Lokale decken indischen und vermeintlich westlichen Geschmack gemeinsam ab und haben sogar Schein-Pizza und kulinarische Blindgänger-Spaghetti auf der Karte. Igitt! Von vielen Lokalen wird Alkohol ohne Lizenz ausgeschenkt. Kingfisher kommt in grossen Kaffeetassen auf den Tisch. Die in einem Socken getarnte Flasche findet Platz unter dem Gästetisch.
Beeindruckt hat mich der täglich zur Schau gestellte Catch of the day, eine stets gefreute Auswahl an frisch gefangenem Fisch oder Meeresfrüchten. Bei grösseren Tieren kann man sich direkt ein schönes Stück rausschneiden und zubereiten lassen. Es gilt nur aufzupassen, dass der Fisch gegrillt und nicht wie sonst in Indien üblich, in Masala-Suppe gekocht wird. Mit der nötigen Instruktion und Kontrolle sind die Lokale durchaus in der Lage, einen Fisch mit Salz und Pfeffer auf dem Grill anständig nach westlicher Art zuzubereiten. Nach Mayonnaise halte ich vergeblich Ausschau. Es gibt doch nichts besseres, als einen gebratenen Meeresfisch in Begleitung mit Salzkartoffeln, selbstgemachter Mayonnaise aus hochwertigem Sonnenblumenöl und Bio-Eiern. Dazu trinkst du eine Flasche eisgekühlten Chardonnay. Lecker, lecker. Manchmal denke ich, dass ich mich im Ausland nur durchs Essen hindurch quäle, um in meiner eigenen Küche auf den Philippinen die kulinarischen Köstlichkeiten wieder mit Stil und Wonne geniessen zu können. Vereinzelt adaptiere ich beim Reisen Rezepte aus der jeweiligen Landesküche. Kürzlich entdeckte ich in Madagaskar die Harmonie von frischer Gänseleber, Süsskartoffeln und Mangos. Aus Indien habe ich die Zubereitung einzelner Gerichte mit Tandoori sowie Kokos-Curry mit Basmatireis, natürlich New crap, übernommen.
Die relaxte Zeit nutzt mein Kumpel, um sich dem so ersehnten Baden und Schwimmen im Meer und der Suche nach Souvenirs zu widmen. Er entspricht mehr dem klassischen Touristenbild und wäre auf einer Gruppenreise für Rentner wohl nicht am schlechtesten aufgehoben. Für seine wiedererstarkte Liaison in der kalten Schweiz, erstand er einen dunkelgrünen, handbestickten Schal aus Kaschmirwolle zum schwindelerregenden Preis von umgerechnet CHF 350.--. Das ist wesentlich mehr als der Jahresverdienst eines besitzlosen Landarbeiters in Bihar. Ausserhalb der Touristenzone wäre dieser edle Lumpen vermutlich günstiger zu kaufen gewesen. Aber was soll’s, es sind nicht meine Kröten. Selber kaufe ich auf Reisen wenig bis nie etwas, da ich von Land zu Land weiterziehe und die Staubfänger nirgendwo deponieren kann. Es ist mir wichtiger, ein paar Kunststoffgebinde meines Lieblingsduschmittels oder Spezialshampoos zusätzlich mitzuschleppen.
Die längste Backpackertour meines Lebens dauerte fünf ganze Jahre an einem Stück. Nicht auszudenken, wenn ich mich da überall mit Souvenirs eingedeckt hätte. Auf dieser Tour traf ich übrigens in Western Samoa ein deutsches Ehepaar, die waren gerade dreissig Reisejahre ohne Unterbruch unterwegs. Die Frau lehnte Fotografieren kategorisch ab und machte von interessanten Landschaften und Szenen manuelle Skizzierungen. Da konnte es dann schon einen ganzen Tag dauern, bis ein Sujet fertig festgehalten war. Wer solange mit dem Rucksack, ohne Zuhause, ohne soziale Verpflichtungen und mit einem geeigneten Lebenspartner permanent unterwegs ist, hat wohl mehr als das Nirwana erreicht. Als Souvenirs reichen mir Fotos und von Flaschen abgelöste Bierlabels. Als ich damals gegenüber den Leuten erwähnte, ich sei ein homeless Backpacker, konnten sie es nicht wirklich glauben, dass ich nirgendwo Zuhause war. Gekauft habe ich gelegentlich aus humanitären Gründen oder einfach als Anteilnahme an liebe Leute trotzdem gelegentlich etwas. Die Kosten buchte ich vom Entwicklungshilfe-Konto ab. Meist lasse ich die Souvenirs im Hotel zurück.
Der Lighthouse Beach trägt seinen Namen nach dem weit sichtbaren Leuchtturm. Ich mache mir die Mühe und laufe die endlose Wendeltreppe bis zuoberst hoch. Am Schluss wartet noch eine Innenleiter und erst dann erreichst du die Plattform. Wie in einem Tempel bist du angehalten, unten beim Eingang die Schuhe auszuziehen und barfuss hochzusteigen. Für all den Aufwand wirst du mit einer wunderschönen Rundsicht auf das Meer, die Strände Lighthouse und Hawah sowie das Hinterland belohnt. Mein Kollege ist nach wie vor auf Souvenirpirsch. Ich steige alleine hoch. Ein freundlicher Koreaner ist sehr befleissigt, mit meiner Kamera ein paar Erinnerungsfotos für mich zu schiessen.
Mit meinem Reisekumpel habe ich mich kurzfristig vor der Reise zusammengetan. Wir bilden eine Budget- und Zweckgemeinschaft und sind das erste, und vermutungsweise auch das letzte Mal zusammen unterwegs. Internet macht’s möglich. Seit Beginn der Reise möchte er in den Genuss einer Ayurveda-Ölmassage kommen. Ayurveda ist Sanskrit und bedeutet Wissen vom Leben. Diese traditionelle indische Heilskunst kennt vier zentrale Elemente: Ayurveda-Massage und -Reinigungstechniken, die Ernährungslehre, spirituelle Yogapraxis, Pflanzenheilkunde. Zunehmend stelle ich fest, dass ich mit meinem Kumpel nicht viele Gemeinsamkeiten habe. Ich bin kein enthusiastischer Badetourist und Souvenirjäger, doch zumindest kann ich seinen Wunsch nach einer Ölmassage nachvollziehen. Gerne würde ich noch eine Stufe höher gehen und mir gleich eine einfühlsame Kammerzofe für ein erweitertes Zusatzprogramm gönnen. Das alleinige Anschmieren von lauwarmem Öl und das uninspirierte Herumreiben scheinen mir zu dürftig. Wenn schon, denn schon. Normalerweise werden in Indien Männer von Männern und Frauen von Frauen massiert. Doch ich lasse mich keinesfalls von einem Mann befingern - dazu hat mich die Natur nicht gemacht. Unsere Erkundigung am Taxistandplatz löst unter den Männern zuerst betretenes Grinsen, dann lautes Gelächter und anschliessend eine heftige Debatte aus. Die verkorksten Machos haben Mühe, über ein solches Thema öffentlich zu sprechen. Doch nach einigen Minuten wird ein junger Fahrer aus ihrer Gilde dazu bestimmt, uns mit seiner Auto-Rikshaw zu einem adäquaten Etablissement zu chauffieren.
Mein Kumpel gibt eine leicht nervöse Figur ab, als wir in die Kabine steigen. Ich selber schaue den Dingen die kommen, relativ gelassen entgegen, zumal ich jegliche Wertsachen wie Reisepapiere, Fotoapparat, Plastikgeld wohlweislich im Hotel deponiert habe. Einzig trage ich eine Kopie meines Reisepasses, Bargeld für den Tagesbedarf und eine blaue Victorinox Swiss Card auf mir. Indien ist für mich ein Heimspiel, Land und Leute kalkulierbar.
Fünfzehn Minuten dauert die Fahrt über die Hügel der Umgebung; dann erreichen wir ein gepflegtes, schneeweisses Sanatorium an idyllischem Standort mit Gartenanlage. Es ist keine Menschenseele auszumachen. Mit einem Handzeichen gebe ich dem Fahrer zu verstehen, dass er hier warten soll. Mir kommen die Worte Gandhis in den Sinn: "Es gibt zwei Extreme, vor denen man sich im Leben in Acht nehmen muss. Das eine ist der hemmungslose Lebensgenuss, das andere die vollständige Lebensverneinung.“ Da hat der Extremist also doch einmal etwas Gescheites gesagt. Mein Kollege möchte sich eine klassische Ayurveda-Ölmassage aus weiblicher Hand angedeihen lassen. Ich andererseits wünsche mir einen gepflegten Herren-Vollservice unter Miteinbezug von Ayurveda-Massage.
Hier endet das Kapitel. Anständige Leute, Moralapostel und solche, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben, geben sich mit dem jetzigen Informationsstand zufrieden. Wer wissen möchte wie es mit Leela und den Wogen der Lust weiter gegangen ist, was es mit der Victorinox Swiss Card Classic auf sich hat und was Swami Pitcairn auf seiner Männerrunde sonst noch wiederfahren ist, liest meinen separaten Reisebericht Ayurveda forever. Du darfst dich aber im Anschluss nicht entsetzen und bei mir beschweren.
Kerala
Unser Reisefokus ist neu auf Alleppey (Alappuzha) ausgerichtet, ein bekannter Ausgangsort für Bootsfahrten durch die Backwaters. Auf dem Weg dorthin an der Küste liegt Thiruvananthapuram (Trivandrum), die Hauptstadt des Staates Kerala, welche auf sieben Hügeln errichtet wurde. Der Bundesstaat wird vom Arabischen Meer im Westen und von Tamil Nadu im Osten flankiert. Es gibt eine lange Uferlinie mit international berühmten Stränden, historische Denkmäler, Stauwasserausdehnungen und ein reiches kulturelles Erbe. Wir machen einen Stopp und beschränken uns auf die Besichtigung des grössten Tempels, der leider unter Renovation steht und voll eingepackt ist.
Nach einem kurzen Intermezzo verlassen wir die Stadt und reisen weiter nach Alappuzha (Alleppey). Hier gibt es ein Netzwerk aus Flüssen, Kanälen und Seen, welches sich tief ins Hinterland hineinzieht. Früher gab es wenige Strassen und die Wasserwege dienten zum Transport von Gütern. Heute tuckern viele Touristen für teures Geld mit Hausboot, eigener Crew inkl. Massala-Koch durch die Gewässer. I do it my own way – as usual, nämlich mit State-Water–Transport, d.h. mit dem öffentlichen Fährschiff und tuckere von Alleppey nach Kottayam (Rs 10, 2 ½ -Stunden). Danach hat man mehr als genug. Wie ein öffentlicher Bus hält das Boot unzählige Male an Anlegestellen um Passagiere ein- und aussteigen zu lassen. Ich bin nicht willens und bereit, für einen Tag Hausboot Rs 8‘000 hinzublättern und mich 24 Stunden den Mücken auszusetzen, selbst wenn ich die Kosten mit meinem Reisekumpel teilen kann. Dem nicht genug, wird mich der Koch mit seinen Massala-Gerichten heimsuchen und ich kann nicht in ein anderes Lokal flüchten. Selbst meine Geliebte – diesmal nicht dabei, würde nicht auf eine romantische Bootsfahrt drängen. In der Budgetierung ist sie der gleiche Batzenklemmer wie ich, darum passts ja so gut. Als wir in Kottayam eintreffen, wartet Fahrer Babu wie bestellt am Anleger.
(Weitere Fotos, siehe separate Bildstrecke, da Limite erreicht)
Kochi
Die Reise geht weiter nach Kochi (Cochin). Driver Babu ist völlig ortsunkundig und zum ersten Mal in seinem Leben in Kochi. Er fragt unzählige Male nach dem Weg, bis wir das ausgesuchte Hotel finden. Es scheint eine indische Eigenart zu sein, Antworten immer von mehreren Personen, unabhängig voneinander, einzuholen. Daher hält er noch weitere zwei Male an und fragt nach dem Weg. Ich habe für dieses Verhalten nie eine Erklärung bekommen. Es dürfte allenfalls damit zusammenhängen, dass Inder bei Unwissenheit manchmal irgendeine falsche Antwort geben, um nicht das Gesicht zu verlieren. Noch weniger zu verstehen ist, weshalb Woody seinen Fahrer nicht mit einem Navi ausrüstet. Die mobilen Dinger kosten nicht alle Welt und jeder, der eine Hilfsschule besucht hat, kann sie bedienen. Nachdem wir schliesslich das Hotel finden, stellen wir fest, dass keine Zimmer mit Einzelbetten ausgestattet sind. Im Hotel Grand Saisons, Chittor Road, Ernakulam, Kochi 682016, www.hotelgrandseasons.com werden wir nach dem Runterhandeln per Handschlag mit Rs 2‘000 inkl. Morgenessen und gratis WiFi fündig. Die luxuriöse Unterkunft ist eindeutig zu teuer, doch wollen wir endlich unser Besichtigungsprogramm beginnen und keine wertvolle Zeit in der chaotischen Innenstadt verlieren.
Kochi ist ein lebendiges Zeugnis einer bewegten Vergangenheit. Verschiedene Kulturen haben hier gewirkt. Das Ergebnis ist eine Mischung von mittelalterlichem Portugal, Holland und englischem Dorfleben – alles versetzt an die Malabar-Küste. Hier kann man ideal in die Historik eintauchen. Kochi besteht aus einer Reihe von Inseln und Halbinseln sowie dem Stadtteil Ernakulam auf dem Festland, wo wir übernachten. Durch Brücken und Fähren sind alle miteinander verbunden. Die historischen Sehenswürdigkeiten befinden sich in Fort Kochi. Wir setzen von Ernakulam mit der Fähre (Jetty, 3 Rs) über und erreichen Fort Kochi in 20 Minuten. Von den Häusern der kolonialen Vergangenheit heben sich besonders die St. Francis Church und das Haus von Vasco da Gama hervor – heute ein Homestay - welcher 1498 im Auftrag der portugiesischen Krone an Land ging. Er gilt als erster europäischer Entdecker Indiens und segelte seinerzeit zuerst der afrikanischen Westküste entlang, um das Kap der Guten Hoffnung herum und dann wieder nordwärts. Mit Hilfe eines afrikanischen Navigators, den er in Ostafrika an Bord nahm, erreichte er schliesslich Indien.
In Kochi gibt es verschiedene Kontore, in denen noch heute mit Gewürzen en gros gehandelt wird. Es riecht hier wunderbar nach Pfeffer, Gewürznelken, Kardamom, Zimt, Sternanis, Ingwer und vielen anderen Gewürzen. Auch am darauffolgenden Tag nehmen wir die Fähre vom hektischen Ernakulam nach Fort Kochin. Hier ist es sooo ruhig, kaum ein Auto, nur gelegentlich kommt eine Auto-Rikshaw. Die Wasserfront ist gesäumt von chinesischen Fischernetzen, es gibt Gewürzmärkte, ein jüdisches Viertel mit Friedhof und Synagoge, einige nette Restaurants, originelle Unterkünfte und jede Menge Touristenshops. Die Riksha-Wallas bieten Besichtigungstouren für wenig Geld an. Bald merkt der Tourist weshalb; er wird ungefragt zu Souvenirläden chauffiert. Wir weigern uns und es gibt Ärger. Die Rikshaw-Fahrer erhalten von den Shops Kommissionen und machen für die Fahrt mit den Touristen eine Mischrechnung. Wenn ein Tourist nicht konform ist – und ich bin prinzipiell nie konform -, geht die Rechnung des Coolie nicht auf. Das nächste Mal möchte ich gleich von Anbeginn hier in Fort Kochin übernachten. Wenn die Hitze nicht zu gross ist, kann man auch längere Distanzen laufen oder ein Fahrrad mieten.
Wir befinden uns immer noch in Indien! Ein anderer Nepper will uns für einen völlig überrissenen Preis eine Schiffsrundfahrt verkaufen. Eigentlich sind wir interessiert, setzen jedoch ein Pokerface auf. Wir erhalten die Zusicherung, dass das Schiff wirklich zur besagten Zeit den Anlegeort verlässt und nicht erst bei Vollbesetzung. Der Vermittler kann uns den Kahn nicht zeigen; er ist noch nicht eingetroffen. Wir lassen den Schlepper zappeln und schlendern in der näheren Umgebung herum, bis er uns ruft und auf ein einfahrendes Schiff zeigt. Beim Fahrkartenschalter handeln wir einen reduzierten Preis aus, der Mann bekommt endlich seine kleine Provision. Die Schiffsrundfahrt ermöglicht uns eine zusätzliche Perspektive auf Kochi und andere Inseln. Wir teilen das Oberdeck mit zwei indischen Ehepaaren, welche die Tickets sogar noch 100 Rs günstiger erstanden haben.
(Foto siehe separate Bildstrecke)
Nilgiri Mountain Railway
Mettupalayam liegt 350 Meter über Meer und da müssen wir hin, um unseren Schmalspurzug zu erwischen. Die Strecke ist leicht ansteigend, die Landschaft unspektakulär wie mehrheitlich auf der ganzen Reise durch Südindien. Von Kuchi aus erreichen wir nach gemütlicher Fahrt und einigen Teepausen in sechs Stunden Mettupalayam. Wir wohnen im Hotel EMS Mayora, für Rs 1‘400 inkl. Steuern, dem einzigen passablen Hotel in der Stadt. In der Kellerbar wie auch im Restaurant gibt es legalen Alkoholausschank, was in Indien bereits ein Prädikat für besseren Service und gehobenen Standard ist. Nicht alle Hotels leisten sich eine Lizenz. Zu zweit unternehmen wir einen Spaziergang vom Hotel zum Busbahnhof ins nahe gelegene Zentrum um die Kleinstadt zu observieren und ein paar Einkäufe zu machen. Die City ist typisch indisch, Null-acht-Fünfzehn mit viel Verkehr, Dreck und fehlenden Bürgersteigen. Trotzdem macht es Spass, mit den Ladenbesitzern zu verhandeln und das emsige Treiben zu beobachten.
(Foto Mettupalayam siehe separate Bildstrecke)
Babu fährt uns zum Bahnhof. Wir wollen Tickets für die Dampfeisenbahnfahrt am nächsten Tag beschaffen. Der zuständige Schalterbeamte ist nicht anwesend und sein Kollege im Fenster rechts, weist mich mit einem stummen Fingerzeig an, zu warten. Nach einer halben Stunde ist der zuständige Mann endlich da und händigt mir ein Formular zum Ausfüllen aus. Ich werde von der indischen Warteschlange hinter mir zur Seite gedrängt, doch gebe ich meinen Vorzugsstandort neben dem Schalterfenster nicht preis. So weit wie es mir möglich ist beantworte ich die Fragen, doch die Zugnummer, Abfahrtszeit etc. kenne ich nicht. Mit dem rechten Arm ergreife ich von links den rechten Rahmen des Schalterfensters und dränge die nachrückende Meute weg. Ich strecke das unfertig ausgefüllte Formular dem Beamten entgegen, doch der ist nicht gewillt, die paar Ergänzungen selber vorzunehmen. Und so kommt es, dass er diktiert und ich schreibe. Das tut meinem Ego keinen Abbruch, obschon ich genau weiss, dass das arme Schwein einen Minderwertigkeitskomplex hat und dringend eine Therapie absolvieren müsste. Er ist sich nicht bewusst, dass er seinen Arbeitsplatz einem Schweizer zu verdanken hat. Endlich kommt das Erfolgserlebnis und ich erhalte einen Fahrschein aus dem Matrixdrucker anno 1992 für den Transport von zwei Sahibs für den morgigen Zug um 7.10 Uhr. Darauf habe ich viele Jahre gewartet, denn diese Bahnfahrt stand seit langer Zeit auf meiner Reise-Wunschliste. Generell sind Eisenbahnfahrten meine ganz grosse Leidenschaft. Wenn irgendwo etwas auf Schienen rattert, muss ich einsteigen.
Mittlerweile ist später Nachmittag geworden und der Bahnhof erstrahlt in einem Licht, das jedes Fotografenherz erfreut. Ich nehme die Gelegenheit wahr, spaziere zum Lokschuppen und zur Wagenreparaturwerkstätte und lasse mir von einem freundlichen Bahnarbeiter alles erklären. Zwei Lokomotiven stehen noch unter Dampf und eine wird herausgefahren. Ich habe mehr als genügend Zeit. In Anlehnung an das vorgegebene Histogramm mache ich Einstellung um Einstellung und drücke genüsslich auf den Auslöser wie auf die Brustwarze einer Jungfrau. Ganz klar, Fotografieren kommt vor gutem Sex. Vom einfahrenden Nilgiri-Zug, aus Ooty herkommend, mache ich Bilder, später auch vom Führerstand der leeren Passagierwagen.
Ooty liegt in den Nilgiri-Bergen auf 2‘250 Metern über Meer. Ooty ist eine Abkürzung von Ootacamund. Offiziell heisst der Ort Udagamandalam, doch niemand nennt in so, alle sprechen nur von Ooty (sprich Uuti). Hier herrscht auch im Sommer ein angenehmes Klima, während im Flachland die Temperaturen häufig über 40 Grad Celsius hochschnellen. Wegen seiner Höhenlage war der Ort auch bei den britischen Kolonialherren sehr beliebt. Doch der Weg dorthin, ob mit Gaul oder Ochsenkarren, war beschwerlich. So wurde die Idee einer Bahn geboren. Die Briten hatten allerdings keinen blassen Schimmer von Bergbahnen und fragten zur Planung deshalb den Schweizer Niklaus Riggenbach an. Der Ingenieur hatte weltweit als Erster das Zahnradsystem patentiert und die Vitznau-Rigi-Bahn (VRB) erbaut. Im Alter von 63 Jahren nahm Riggenbach die Aufgabe an und reiste nach Südindien. In monatelanger Arbeit schritt er den Weg nach Ooty ab, um die optimale Linienführung für das Bahntrassee zu finden. In panischer Angst vor Schlangen, kämpfte er sich mit der Machete durch den Dschungel. Riggenbach leistete perfekte Arbeit. Trotzdem dauerte es fast 20 Jahre bis die Nilgiri Mountain Railway (NMR) 1899 eröffnet wurde. Im Juli 2005 nahm die UNESCO die NMR als Ergänzung zur Darjeeling Himalayan Railway auf die Liste des Weltkulturerbes, nachdem sie die Voraussetzungen erfüllte. Es ist die einzige indische Zahnradbahn. Der Zug legt eine Entfernung von 46 Kilometer zurück, dabei fährt er durch 208 Kurven, 16 Tunnel und über 250 Brücken. Die Bergfahrt dauert etwa 300 Minuten, die Talfahrt 215. Der Zahnradabschnitt beginnt nach 8 Kilometer und einer Elevation von 413 Meter in Kallar.
Eine gute Stunde vor Abfahrt sind wir auf dem Bahnhof. Trotzdem hat sich bereits eine grosse Menschenschlange, mehrheitlich Westler, gebildet. Jemand verkauft Chai, Goffi und Samosas. Eine dreiviertel Stunde vor Abfahrt können wir in geordneter Reihenfolge unsere Plätze im Wagen einnehmen. Mit meinen langen Beinen ist es mir nicht möglich am Fenster zu sitzen. Ich platziere mein rechtes Hinterteil schräg auf eine Aussenbank und strecke die Beine in den Zwischengang. Mein Reisekollege hat vorne im Wagen einen Fensterplatz ergattert, reist jedoch die ganze Strecke rückwärts. Mit dem mir gegenüber sitzenden Kanadier kommt eine interessante Konversation in Gang. Er ist mit zwei DSLR-Kameras ausgerüstet und in meinem Altersbereich. Der angegraute Traveller outet sich als ein passionierter Longterm-Backpacker nach meinem Gusto. Er sammelt Länder und ist seit Jahren unterwegs. Wie viele Länder ich schon bereist habe, will er wissen. Ich kann ihm diese Frage beim besten Willen nicht beantworten. Nie wäre es mir jemals in den Sinn gekommen, sie zu zählen - wozu auch. Einige Nationen gibt es mittlerweile gar nicht mehr, sie sind von der politischen Landkarte verschwunden; andere sind erst entstanden, nachdem ich dieses Territorium betreten habe. Ich weiss nur, dass ich in meinen intensivsten Reisejahren alle zwei Jahre einen neuen Pass benötigte, weil alle Seiten mit Visas vollgestempelt waren. "Es müssen schätzungsweise hundert sein“, gebe ich zur Antwort. "You’re already a captain“ bemerkt er erstaunt. "Es stellt sich die Frage, auf welche Weise man sie zählen muss“, ergänze ich. Da gebe es genaue Regeln, lässt er mich wissen. Ich erfahre, dass die Osterinseln (Rapa Nui) separat von Chile zu zählen sind. Auch die französischen Hoheitsgebiete in Polynesien wie Tahiti, Wallis, Neukaledonien sowie Franz. Guyana in Südamerika, gelten in seiner Vereinigung als einzeln besuchte Länder und zählen zusätzlich zur Mutternation.
Im Anschluss an die Eisenbahnfahrt brachte ich noch folgende Ergänzungsinformation in Erfahrung: Die Liste der Staaten der Erde führt alle Länder sowie deren Namen in Langform, Hauptstadt, Einwohnerzahl, Fläche, Bevölkerungsdichte, Flagge und Länderkürzel auf. Diese Liste umfasst zurzeit 193 Staaten, die Mitglied der Vereinigten Nationen (UNO) sind. Hinzu kommen 13 weitere Staaten, Nationen, Länder, Territorien, bei denen die Staatseigenschaft umstritten ist oder die sich in freier Assoziierung zu anderen Staaten befinden.
Mein indischer Sitznachbar am Fenster macht sich über eine Einweg-Aluminiumschale mit Massala und Roti her. Genüsslich tunkt er ein abgerissenes Stück des ungesäuerten Weizenfladens nach dem anderen in die gelbe Suppe. Gesättigt macht er sich an, das leere Alu durch das offene Fenster zu entsorgen. Eine grüne Pissnelke in der hinteren Reihe sieht es, gerät in Panik und versucht den Mann mit Schreikrämpfen von seinem Tun abzuhalten. "Dont do that“ schreit sie in Teutonen-Englisch durch den ganzen Wagen. Der Inder schaut zurück, versteht kein Wort, aber wohl ihre Absicht und lässt das Alu unbeirrt aus dem offenen Fenster fallen. Ende der Diskussion. Wir befinden uns freiwillig als Gäste in Indien. Die Leute brauchen unsere Belehrungen nicht. Hier gibt es keine Umweltpolitik, zumindest keine, welche der grossen ungebildeten Masse bekannt ist. Solche Reaktionen von unreifen Fundamentalnudeln – eigenartigerweise ausnahmslos immer Frauen – braucht dieses Land nicht, selbst wenn die Touristin im Kern der Sache eine gute Absicht bezweckt. Die Sorge zur Umwelt ist nur in westlichen Ländern ausgeprägt. Nur bei uns sind breite Bevölkerungsschichten für diese Problematik sensibilisiert. Die Dritte Welt hat in ihrer Sorgen-Hitparade ganz andere Prioritäten. Ein solches Theater wegen der Umwelt, kann sich nur ein wohlhabendes Land erlauben. In armen Nationen wird selbst der Ölwechsel von Motorfahrzeugen auf einer unasphaltierten Strasse durchgeführt. Glugg, glugg, und da tröpfelt das Altöl ins Gras.
Der Zug rattert durch die Berglandschaft und periodisch dürfen wir aussteigen. Das Panorama ist für einen verwöhnten Schweizer nicht spektakulär, vielmehr macht es Spass, die angehaltene Zugkomposition, den Lokomotivführer, die beiden Heizer, das Nachfüllen des Wassers und all die Inderinnen in ihren farbenprächtigen Saris zu fotografieren. Die meisten Passagiere sind Inder. Wir Touristen bilden eine Minorität. Die Dampfeisenbahn hat de facto keine Funktion als Erlebniszug, sondern vielmehr als Beförderungsmittel für die Einheimischen. Es werden reichlich Güter transportiert. Aus dem Zugfenster blicken Kinder und bitten um ein Foto. Grosses Gelächter macht sich breit, als ich ihnen das Ergebnis auf dem Display zeige; es ist das Mindeste, was ich als Dank anbieten kann. Schnell hole ich noch Chai und etwas Gebäck, um meinen Reisekumpel durch das Fenster von aussen zu versorgen. Der Arme kann seinen Standort im Wagen nicht verlassen, weil das Gepäck von den Reisenden im Gang turmhoch aufgeschichtet ist. Eine Ablage gibt es in diesem Toytrain nicht. Die Lokomotive pfeift zum Einsteigen und bald setzt sich der Zug wieder langsam in Bewegung. Die grüne Pissnelke in unserem Wagen macht erneut auf Panik, denn sie vermisst ihre Kollegin; doch ihr Schreien und Rufen geht im Dampfen und Zischen des anfahrenden Zuges unter. Wir sind nicht auf einer Privatfahrt. Das Personal nimmt auf solche Situationen keine Rücksicht. Hier in Indien muss jeder für sich schauen. Bei der nächsten Haltestelle zeigt sich, dass die Gesuchte in den falschen Wagen eingestiegen ist.
Die Zugfahrt uphill dauert satte 5 Stunden. Im oberen Teil der Strecke wird die Landschaft attraktiver und der Zug rattert an Teeplantagen vorbei. Auf der Sitzbank hinter mir sitzt ein Aussätziger, den Kopf mit einem Tuch umhüllt wie Lawrence von Arabien. Manchmal kommt sein Mund mit verfressenen schwarzen Lippen zum Vorschein. "Herrgott, was es alles für Krankheiten und Leiden gibt“ geht mir durch den Kopf. Kurz vor Ooty verlässt der Mann unseren Zug; wir rattern weiter bis zum Endbahnhof.
(Foto Ooty siehe separate Bildstrecke)
Ooty
Heute ist der Höhenort kein lauschiges Bergdörfchen mehr, sondern eine verbaute Kleinstadt mit farbigen Häusern, 100'000 Einwohnern und vielen Touristen pro Jahr. Das Schönste an Ooty ist der Weg dorthin - mit der Nilgiri-Dampfeisenbahn. Die Stadt kannst du in der Pfeife rauchen; sie bietet nichts, was du zwingend gesehen haben musst.
Zuverlässig wie immer, wartet Babu mit dem Wagen und unserem Gepäck vor dem Bahnhof. Wir gehen auf Hotelsuche und entscheiden uns für das Hotel Weeker zu Rs 400. Die Zimmer sind billig, aber auch nicht mehr als diesen Betrag wert. Um die Zeit totzuschlagen, besichtigen wir den Botanischen Garten und fahren anschliessend auf den höchsten Aussichtspunkt mit 2‘600 Meter über Meer. In der Nacht wird es empfindlich kalt und ich benötige drei Wolldecken, um die Kälte einigermassen abzuhalten.
Mysore
Auf der Strecke zwischen Ooty und Mysore liegt das Wildschutzgebiet Anai Mudi mit dem Bandipur National Park. Der Park ist für seinen reichen Wildbestand bekannt. Neben Tiger und Elefanten durchstreifen Gaur-Rinder, Rotwild, Panther, Lippenbären, Languren, Büffel und Wildschweine die Gegend. Obschon Lonely Planet klar darauf hinweist, dass Bandipur nicht der beste Ort ist um Wildtiere zu sehen, ist es meinem Reisekollegen ein ausgeprägtes Anliegen, hierhin zu kommen. Erwartungsgemäss behält LP recht und wir sehen nur Rotwild auf der Strecke von Ooty hinunter in die tieferen Gebiete. Wir sind uns schnell einig, dass wir auf die geplante 45 Minuten Safarifahrt verzichten und gleich weiterreisen.
In der Sandelholzstadt Mysore angekommen, wiederholt sich ähnliches Gebaren wie seinerzeit vor dem Taj Mahal in Agra. Vor dem Eingang zum Maharadscha-Palast scheinen sich sämtliche Souvenirverkäufer, Schlangenbeschwörer, Schlepper und Bettler der Stadt versammelt zu haben. Jeder versucht, dem Touristen eine Rupie abzuluchsen. Auf dem Weg zum Ticketschalter muss ich ein paar ganz aufdringliche Männer lautstark in ihre Schranken weisen. Nach der Leibesvisitation und dem Durchleuchten des Tagesgepäcks, haben wir Ruhe und bleiben auf dem grossen Palast-Areal ungestört. Fotografieren ist nur draussen, nicht aber im Palast erlaubt. Das Equippement muss an einem bestimmten Schalter deponiert werden. Wie in einem Tempel müssen wir im Palastinneren die Schuhe auszuziehen. Der Maharadscha-Palast ist unbestreitbar das touristische Herzstück von Mysore. Selten habe ich einen solch märchenhaften Palast gesehen. Wir sind von dem gigantischen Ausmass und der grandiosen Umgebung sichtlich beeindruckt. Nebst dem Taj Mahal erachte ich den Maharadscha-Palast von Mysore als das bedeutendste Bauwerk in Indien. Wenn mich jemand fragt, was man in Indien gesehen haben muss, gehört dieser Palast auf die To-do-Liste. Weiter nenne ich das Taj Mahal in Agra, die 1001-Nacht-Stadt Jaiselmer sowie den Pilgerort Varanasi. Mit Bestimmtheit gibt es noch mehr Spektakuläres und deshalb ist Indien immer wieder für eine neue Reise gut. Nach der Palast-Abschreitung reisen wir weiter und übernachten auf halber Strecke nach Goa in Shimoga.
(Foto Mysore siehe separate Bildstrecke)
Indiens höchster Wasserfall
Von 293 Meter Höhe fällt das Wasser in die Tiefe und ist zu Zeiten des Monsuns am eindrücklichsten. Allerdings werden die Wassermengen von einem vorherigen Staudamm gebändigt. Die Jog-Fälle gelten als höchste Wasserfälle in Indien und sind einen Besuch wert, wenn man ohnehin in der Region ist. Wer sich die Mühe macht, kann auf einem Pfad von 1‘200 Stufen hinunter wandern und bekommt eine besondere Perspektive auf die Fälle. Es sind praktisch nur indische Ausflügler und ganze Schulklassen Vorort zu sehen. Am Boden sitzend nehmen sie ihre mitgebrachte Mahlzeit ein und erfreuen sich dieser willkommenen Abwechslung. Wir fahren weiter Richtung Goa. Babu müssen wir periodisch in seiner typisch indischen Fahrweise mässigen. Er kann nicht aus seiner Haut raus und setzt immer wieder zu riskanten Überholmanövern an; er vergisst, dass wir komfortabel chauffiert werden wollen und nie in Eile sind. Eine Kolonne von Fahrzeugen anzuführen ist für uns nicht von Belang. Womöglich überfahren wir noch eine heilige Kuh und riskieren, von den Dorfbewohnern gelyncht zu werden. Aus indischer Sicht wäre es weniger schlimm, ein kleines Mädchen plattzuwalzen. Unfassbar, aber das ist Hinduismus!
(Foto Jog-Waterfalls siehe separate Bildstrecke)
Garten Eden auf Zeit
Goa blickt auf eine 450 Jahre lange portugiesische Prägung zurück und wurde Indien erst 1961 eingegliedert. Die Sitten waren hier immer wesentlich lockerer als im übrigen Land. Kein anderer Bundesstaat wurde so stark europäisch geprägt, nirgendwo gibt es einen so grossen christlichen Anteil. Ende der 1960er-Jahre nahm die Karawane der Blumenkinder ihren Anfang und die ersten Aussteiger entdeckten die Strände am Arabischen Meer. In westlichen Ländern probte man den Aufbruch und die Rebellion gegen die sogenannt biedere Gesellschaft. In das Transistorradio kam nachts auf Mittelwelle neuer Sound rein. Gehuldigt wurde dem Piratensender Radio Veronika, der ausserhalb der Zehnmeilenzone vor den Niederlanden her einstrahlte wie auch die englischsprachigen Sender von Radio Luxemburg und Radio London W1.
Über den Äther gingen Songs von den Gruppen The Kinks, The Move, Loving Spoonful, Mamas & the Papas, The Monkeys, Donovan, Sonny & Cher, Bob Dylan, Joan Baez, Marianne Faithful, Humble Pie, Small Faces, aber auch stillere Töne von Esther & Abi Ofarim, Leonard Cohen, George Moustaki, Michael Polnareff schepperten in schlechter Qualität durch den Radiolautsprecher. Ab 17 trieb ich mich an verlängerten Wochenenden und in den Ferien vermehrt in Paris, Amsterdam oder London herum. Wenn nicht per Anhalter, erreichte ich die Metropolen mit dem Zug. Am Freitagabend in den Nachtzug und dann durchpennen bis in den Gare de Lyon. Damals war TGV kein Begriff. In der Gewissheit, eine Hotelnacht gespart zu haben, ging es dann schnurgerade in eines der ersten geöffneten Bistros zum Petit Déjeuner. Noch immer höre ich die Melodie von Jacque Dutronc, Il est cinq heures, Paris s’éveille. Tagsüber gab's Kultur auf die Hirnrinde, nachts war die Gegend um St. Michel gesetzt und zu später Stunde kehrte ich in meine Absteige nach St. Denis zurück. In London wurde im legendären Tiffanys abgetanzt und tagsüber in der Kings- und Carnaby-Street nach ausgefallenen Klamotten gesucht. In Amsterdam waren die Schiffe auf den Grachten unsere Schlafstätte und das Paradiso und der Melkweg unser Zeitvertreib zu nächtlicher Zeit. Das war Freiheit, unangepasstes Leben in vollen Zügen wie es mir behagte und heute noch ansatzweise der Fall ist. Der Flower-Power nahm seinen Anfang in Kalifornien. Ab 1967 erschallte die Hymne San Francisco von Scott McKenzie. Der richtige Song, der richtige Mann, zum richtigen Zeitpunkt – selten hat etwas so perfekt zusammen gepasst. Im selben Jahr pilgerten The Beatles als Vorreiter in den Ashram von Maharishi Mahes Yogi nach Rishikesh in Nordindien.
Die Welle schwappte 1969 mit Woodstock über nach Westeuropa. Die Menge rief nach gleichmachenden politischen Systemen. Eine grosse Friedensbewegung unter Mitwirkung der Künstler Joan Baez und Bob Dylan wandte sich gegen den Krieg in Vietnam. Postkarten mit vielversprechenden Aussagen der Avantgarde aus Indien erreichten uns in Europa. Es war nicht mehr auszuhalten, wir mussten bei nächstbester Gelegenheit auch Richtung Osten. Die Berufsprüfung war geschafft, die Grundausbildung im Militär abgeschlossen, die Offizierslaufbahn verweigert und die besonders Dummen hatten ihr Studium abgebrochen. Die wirtschaftliche und politische Konstellation war günstig und der Landweg nach Asien problemlos und zu geringen Kosten zu bewältigen. Von einem spirituellen Weltbild beseelt, brachen junge Leute zum Bhagwan nach Poona und weiter nach Goa oder Südostasien auf. Dort konnte man herumhängen, faulenzen, baden, tanzen, philosophieren und kiffen. Die Protzsucht, die Vollkaskomentalität, fehlende Wärme, mangelnder Tiefgang, der Umgang mit Ausländern, gesellschaftliche Schranken und Hürden waren die vermeintlichen Ursachen.
Vor der Abreise war für Erstreisende in Indien immer alles besser - bis zur Konfrontation mit der Realität. Selbst ein günstiger Sitzplatz im Bus oder im Zug musste erkämpft werden. Das war damals so und ist heute nicht anders. Der Slogan Wir reisen in vollen Zügen kann hier wörtlich genommen werden. Mit diesen Erfahrungen im Kopf wurde das Europabild schnell relativiert. Wer durch Indien gereist ist, hat die Trostlosigkeit und den Stumpfsinn der Armut erfahren. Hier erwarteten die einheimischen Jugendlichen keine Herausforderung, keine Gegenwart, keine Zukunft. Nichts trieb die Halbwüchsigen an. Kein Tag war anders als der Tag zuvor. Kein Jugendlicher bot den ewig gleichen Gedanken seine Stirn und stellte etwas in Frage. Es ging ein Fatalismus umher, der jede Idee am Ausbrechen und Freiheit zunichte machte.
Von Europa wegrennen, bedeutete noch lange nicht, anderswo ankommen. In Indien wurden die Aussteiger gezwungen, ihre Träume sukzessive mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Sie konnten sich nicht mehr selber betrügen, denn es war alles anders, als in ihren Vorstellungen. Das Leben hier war für nutzlose Fresser eine angenehme Abwechslung vom Alltagstrott in Europa, herumlungern und nichts tun. Indien war aber nicht der richtige Ort, um sich mit einheimischen Frauen beschaulich ins Nirwana zu vögeln; das war nur mit Girls aus dem westlichen Kulturkreis denkbar. Die Ashrams lockten viele an wegen der freien sexuellen Ordnung und nicht wegen ihrer spirituellen Lehre; zu seinen wahren Beweggründen hat sich gegenüber mir nie jemand bekannt.
Irgendwann war die Luft draussen, die innere geistige Leere unverändert manifest, der Lebenssinn nicht gefunden und ohne etwas Kohle war auch das Leben im Lande Gandhis nicht nach westlichem Gusto. Wer wollte schon hier wie in der untersten Kaste leben. Die Drogenabhängigen verscherbelten ihre Reisepässe und machten überschüssige Klamotten zu Geld, um den Aufenthalt etwas zu verlängern bis irgendwann der Hammer der Behörden wartete. Manch einer kam der Polizei zuvor und setzte sich vorher eine Überdosis. Bereits damals erkannte ich, dass die schweizerische Nationalität mit einem Haufen Privilegien verbunden ist. Gestrandeten Landsleuten half unsere diplomatische Vertretung im Gegensatz zu Frankreich und anderen Nationen, die ihre Leute hängen liessen. Indien ohne Geld gefällt nicht. Da war es das kleinere Übel nach Europa zurückzufliegen – meist mit Aeroflot via Moskau - und eine Weile zu jobben, Kohlen zusammenzukratzen und wieder nach Goa abzuhauen. Arbeiten konnte man zu Zeiten der Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung immer sofort und musste nicht lange suchen. Wer im Hotel Mama wohnte, kein Auto fuhr und behutsam mit den Mitteln umging, hatte spätestens nach einem Jahr wieder genügend Kröten auf der hohen Kante um für eine Weile in Indien oder in Südostasien herumzuhängen.
Der Magic-Bus fuhr für wenig Geld periodisch ab London über Amsterdam, Türkei, Iran, Afghanistan, Pakistan nach Indien. Ausgeflippte Hippies reisten gemeinsam Richtung Osten und allenfalls auch zurück. Die rolling Party mit heissem Sound ab Music-Cassetten und einem ständig zugekifften Fahrer und Passagieren, dauerte bis Delhi sieben, acht Wochen und die Zeit verging wie im Fluge; kein Wunder, wenn alle stets zugedröhnt waren. In Teheran – zu Zeiten von Schah Reza Pahlewi - gab es meist einen Stopp, um alte Impfungen für einen Pappenstiel aufzufrischen (und guten Charras zu bunkern). Auf anderen Trips erwischte man einen free Ride mit einem Truck bis nach Istanbul oder Teheran. Die Lastwagenfahrer waren froh für Abwechslung und Unterhaltung auf dem langen Weg. Hinzu kam der Sicherheitsaspekt. In Indien eingetroffen, gab es bezahlbare Oneway-Flüge nach Bangkok um Südostasien abzuklappern. Rückflugtickets waren damals bei der Einreise kein Thema. Southeast-Asia on a shoestring steigt in meinen Erinnerungen hoch: Malaysia Hotel, Bangkok, Butterworth, Penang, Bugis-Street, Singapore – doch das sind andere Geschichten.
Goa heute
Was für Leute umgeben mich heute in Goa? Vergammelte Langzeiturlauber, die den kalten Winter in Europa überbrücken, Allerewigkeits-Aussteiger die seit über 30 Jahren keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen und täglich Joints einfahren; Vielleicht parasitäre Nichtstuer, die zuhause den Sozialstaat plündern, Sozialhilfe und Hartz IV beziehen und sich an der Wärme ein relaxtes Leben zulasten der dummen arbeitenden Bevölkerung zuhause gönnen? Daheim in der Stadt merkt eh kein Schwein, wo du dich gerade aufhältst. Zu Zeiten der Lowcoastcarrier ist der Sozialbetrüger, wenn nötig, in kurzer Zeit wieder zuhause in der Kälte und kann im Amt antreten, wenn nach ihm verlangt wird. Einige der aktiven Pioniere von damals betreiben heute ein kleines Verkaufsgeschäft, eine Verpflegungsstätte oder ein Cyber-Café.
Eine neuere Kategorie Touristen bilden die russischen und israelischen Junghippies, die nach einer Weile wieder verschwinden. Auf schweren gemieteten Royal Enfield Bullet 500 Classic EFI rattern sie ohne Helm, mit Shorts und in Gummilatschen über die Strassen, vorbei an Reisfelder, lieblichen portugiesischen schneeweissen Kirchen und ihre Dreadlocks flattern im Wind. Ein voller Geldbeutel ist wichtiger als eine Fahrerlaubnis. Goa ist nach wie vor ein Garten Eden für Freaks und Aussteiger auf Zeit. Zugegeben, es ist ein erhebendes Gefühl, mit einer satten Maschine über Goas Strassen zu tuckern und mit transzendentem Blick die Pampa zu geniessen, meist in zugedröhntem Zustand: Easy Rider mit indischer Kulisse. Doch aufgepasst, gerade in Goa sind die weissen Verkehrsteilnehmenden oft unberechenbar und verantwortlich für viele Unfälle; berichtet mir ein Ladenbesitzer.
Die im Vergleich zum Rest Indiens, niedrigen Alkoholpreise machen Goa zu einem beliebten Ziel indischer Touristen. Die kulturellen Unterschiede zu anderen indischen Bundesstaaten werden auf den ersten Blick deutlich: Frauen tragen in Goa oft westliche Kleidung und wagen am Strand auch schon mal einen Bikini anzuziehen.
Oft handelt es sich um Besuchergruppen höherer Gesellschaftsschichten aus Mumbai.
Foto Goa, siehe separate Bildstrecke)
Die Speisekarten in einigen Lokalen sind auf diese neuen zahlungskräftigen Gruppen angepasst. Die 1970er-Jahre sind endgültig vorbei und was jetzt in Goa abläuft ist ein lauwarmer Aufguss der seinerzeitigen Szene. Lockt hier die Erleuchtung? Vielleicht nicht, aber trotzdem ist Goa heute alleweil ein paar Tage Urlaub wert. Goa ist nicht das klassische Indien und ist es auch nie gewesen. Immer stand es im Verlaufe der Jahrhunderte unter westlichen Einflüssen. Vielleicht gefällt es mir gerade deswegen so gut hier.
Trance Music Sunset
Im südlichen Teil Goas siedeln heute viele Pauschaltouristen und Luxusreisende. Fette Rentner in orthopädischen Turnschuhen lümmeln in gepolsterten Liegestühlen. Per Hotelbus werden sie am Flughafen abgeholt und nach zwei Wochen wieder hingekarrt. Ob sie wohl realisieren, dass sie in Indien und nicht auf Gran Canaria sind? Für einen alternden 1968er ist der nördliche Teil die ideale Destination um nach einer anstrengenden Südindienreise ein paar Tage abzuhängen und nach den letzten Resten der legendären Tranceparties seiner Jugend zu suchen. Hier gibt es noch die Szene, doch hat sie sich vom Strand in die Clubs und Restaurants zurückgezogen, seit die indischen Behörden restriktiv gegen Lärmemissionen vorgegangen sind. Hier reiht sich ein Dorf und ein Strand an den anderen. Calangute, Baga, Anjuna, Vagator, Chapora, Arambol, Mandrem, ..und und und, heissen die Orte, wo die Leute mehr Reggae auf die Ohren kriegen als in Montigo Bay.
Ich habe mir in einzelnen Ausflügen eine Anzahl Dörfer angeschaut - Anjuna entspricht meinen Bedürfnissen nach wie vor am besten. Wo du auch sitzt, die meisten Lokale bieten Meeresblick. Das trifft sonst nicht überall zu. In den Läden werden indische Götterstatuen, Schmuck, tibetische Utensilien, Second-hand-Bücher, wunderschön bedruckte Saris und Tücher, aber auch indische Kleidung in allen Farben angeboten. Tatsache ist, dass nur die wenigsten Inder solche Klamotten anziehen würden. Um 17 Uhr gönnst du dir bei einer grossen Flasche Kingfisher einen Trance Music Sunset und soon after dark, steigt dann die Party im Strandlokal. Das Leben ist schön, lass uns die Musik lauter stellen. Drogen werden hier an jeder Ecke verkauft, doch hüte dich zu glauben, dass alles legalisiert wäre. Nach einer Weile der Inaktivität statuiert die Polizei periodisch immer wieder ein Exempel und ein armes Ausländer-Schwein wandert dann für lange Zeit im Staatsgefängnis hinter Gitter. Für Westler wird dann jeder Buchstabe des Gesetzes aufs Genaueste angewendet und mit der Entrichtung einer Sondergebühr unter der Hand ist in solch offiziellen Fällen nichts zu machen.
Durch ein Labyrinth aus leuchtend bunten Saris an einer Wäscheleine findest du den Weg zum Strand. In einigen Lokalen gibt es WiFi auf deinen Laptop – eine Hommage an das neue Goa - und du bist mit der Welt verbunden, wo immer du auch nur einen Drink bestellst. Ohne Fahrzeug macht Goa nur halben Spass, aber ein Roller tut es auch.
(Foto Anjuna siehe separate Bildstrecke)
Ich wohne im White Negro Guesthouse, einer sehr einfachen und ruhigen Unterkunft. Es ist Saison und das Zimmer kostet Rs 900. Langzeiturlauber erhalten Rabatt. Das Bettzeug ist sauber, die Zimmer werden aber nicht jeden Tag frisch hergerichtet. Mary absolviert hier seit zehn Jahren eine Karriere als Room Maid und kann sich mittlerweile ein wenig auf Englisch verständigen. Ich regle erweiterte Servicebedürfnisse direkt mit ihr. Ich benötige täglich mein Moskitonetz ordentlich aufgehängt sowie zwei frische Badetücher, eines für den Strand und eines für die Dusche. Das alles kostet mich ein freundliches Lächeln und einmal hundert Rupien Bakschisch. Basta – ich bin organisiert und die Wäsche macht sie mir auch noch. Der Weg ans Meer und zu den zahlreichen Lokalen dauert zu Fuss nicht länger als drei Minuten. Für die Rückkehr nachts ist eine Taschenlampe von gutem Nutzen. Nicht weil es gefährlich wäre zu dunkler Stunde rumzulaufen, sondern damit man nicht in die Scheisse der heiligen Kühe und der herumstreunenden Köter tritt.
Im Guesthouse hat jedes Zimmer eine kleine Veranda mit Sitzgelegenheit. Neben mir wohnt Geyr (53) aus Norwegen. Ein lieber Kerl, der mit sich und seiner Welt wohl vor langer Zeit Frieden geschlossen hat. Beruflich ist er selbständig und betreibt zuhause eine Imkerei. Er arbeitet von Frühjahr bis Herbst. Sobald der Honig eingebracht und die Jahresproduktion auf dem Markt verkauft ist, zieht es ihn Richtung Wärme. Zuhause lebt er auf dem Land in einem Mehr-Generationenhaus mit seinen Kindern, Enkelkindern und Eltern. In Oslo besitzt er ein Stadthaus und es scheint ihm gut zu gehen. Er ist zum zehnten Mal hier und überwintert jedes Jahr von November bis Ende Februar im selben Guesthouse und Zimmer. Sein Gebaren und sein Lebenswandel wirken auf mich sympathisch und bescheiden. Tagsüber sitzt er auf seiner Veranda und hat immer Zeit für einen Schwatz und ein paar Bierchen. Nachts ist er unterwegs und kommt selten vor 4 Uhr morgens ins Gästehaus zurück. Dann schläft er wenige Stunden und sitzt meist schon wieder vor acht Uhr auf der Veranda.
Mein Reisekollege hat nur ein paar Jahre mehr auf dem Zähler als ich, tendiert aber schon Richtung Altersheim. Es kommt nicht darauf an, wie alt man ist, sondern wie man alt ist. Zu Bezeichnungen Techno, Chillout, House und Trance hat er keinen Bezug und die Musik in den Lokalen empfindet er eher als störend. Nach dem Nachtessen zieht er sich mit Vorliebe regelmässig ins Gästehaus zurück, um noch ein Telefon von seiner Geliebten aus der CH zu empfangen und sich anschliessend in seinem gestreiften Schweizer-Schlafanzug zur Ruhe zu legen. Das zweiteilige Ding hat ihn auf seiner ganzen Indienreise begleitet und ich könnte ihn mir gar nicht mehr ohne vorstellen. Noch nie bin ich zeitlebens mit jemandem zusammengereist, der unterwegs ein Nachtgewand benötigt hat. Normalerweise zieht man sich nach dem Duschen für die Nacht ein neues T-Shirt und Unterwäsche an. Das sind dann auch gleich die Klamotten für den neuen Tag.
Geyr weiss immer, in welchem Dorf abends Livemusic gespielt wird. So habe ich mich öfters mit ihm verabredet und als Dank und Wertschätzung gleich noch meinen indischen Fahrer eingeladen; Babu – ein ehrlicher und lieber Kerl, gefangen in seiner Mentalität, Religion und Kultur. Die meisten Nächte verbrachte er im Auto wie es bei Berufsfahrern hierzulande üblich ist. Nur in gehobenen Unterkünften gab es vereinzelt ein Dormitory für Driver. Ausbedungen haben wir in jedem Hotel zumindest einen sicheren Abstellplatz für sein Auto und die Benutzung von sanitären Anlagen. War dies nicht möglich, erlaubte ich ihm in unserem Zimmer zu duschen; sehr zum Missfallen meines Reisekumpels. Einzig im kalten Ooty buchten wir für Babu ein Hotelzimmer. Nun ist er am Ende einer langen Reise angelangt und freut sich, bald zu seiner Familie nach Pondy zurückzukehren.
Anjuna
Eine unverzichtbare Goa-Erfahrung ist der Mittwochsmarkt in Anjuna. Hier gibt es alles zu kaufen, was die indische Souvenirindustrie zu bieten hat und der Tourist nicht braucht. Selbst Männer und Frauen aus den nördlichen Provinzen Punjab, Kaschmir und Rajasthan bieten ihre farbige Ware feil. Im Angebot sind indische Klamotten, bestickte Decken, Handwerksarbeiten, metallene Götter in verschiedenen Grössen, Piraten-CDs und jede Menge anderer Güter. Nur vereinzelt sieht man noch angegraute Alt-Hippies, die gebrauchte Sandalen, Hosen und Blusen verkaufen. Mit solchen Leuten nahm der Markt vor Jahrzehnten seinen Anfang. Viele verkauften ihre letzten Habseligkeiten, um den Aufenthalt zu verlängern. Diese wöchentliche Veranstaltung ist mittlerweile zu einer Institution und reinem Kommerz geworden. Die Touristen werden überall aus Goa in Bussen und Taxis herangekarrt. Viele kommen primär gar nicht zum Kaufen, sondern um in ihrem lässigen Outfit in der Szene gesehen zu werden. Meinem Reisekumpel sind fast die Augen rausgefallen. Im Nu wird er stolzer Besitzer eines fünf Kilo schweren Ganesh-Götzen, den er nun als zusätzliches Handcarry nach Hause schleppen muss.
Eine weitere interessante Abwechslung bietet ein Tagesausflug zum Weltkulturerbe nach Old Goa. Hier kribbelt die Geschichte unter den Füssen. Wer vorher in die Literatur guckt, profitiert und geniesst doppelt. Die zahlreichen guterhaltenen Bauwerke wie Kirchen und Museen aus portugiesischer Zeit sind beeindruckend und sehenswert. Jeder Bau erzählt eine Geschichte. Der passionierte Fotograf hält sich vorzugsweise den ganzen Tag Vorort auf, um für jedes Objekt die optimalen Lichtverhältnisse auszuschöpfen.
Schluss
Indien kann aufgrund seiner kulturellen Diversität, seiner von Mitteleuropa sehr verschiedenen Lebensweise und seiner immensen Bevölkerungsdichte, den Reisenden in einen Kulturschock versetzen. Du fühlst dich in einer schwer verständlichen Story von Franz Kafka. Die Leute hier ticken anders. Es ist vorteilhaft, sich zuhause auf die Reise vorzubereiten und sich über die Gegebenheiten vorab zu informieren. Kein anderes Land verführt, verwirrt derart und ist so eigensinnig. Vieles scheint hoffnungslos, schwierig, ohne Zukunft. Die Inder scheinen in Armut, Tradition und Religion gefangen zu sein.
Eine Individualreise von mehreren Monaten auf eigene Faust nach Indien ist die Meisterprüfung eines jeden Hardcore- und Budgettravellers. Du bist in verschiedener Hinsicht gleichzeitig gefordert: Im täglichen Kampf um den Sitzplatz im Bus, im Schlagabtausch um deine Koje im Zug, in immerwährender Konfrontation mit einer Mentalität ohne Manieren, im permanenten Achtgeben auf Schwindler, Betrüger, Bauernfänger, skrupellosen Geschäftsleuten, mit der grenzenlosen Umweltbelastung, in der täglichen Ernährung bis hin zum Dreck erstarrter Hotelzimmer.
Eventuell bist du ein versierter Könner und in der Lage, deinen Atem fünf Minuten anzuhalten. So bist du in einer besseren Ausgangslage und kannst mühelos die öffentlichen Toiletten benutzen. Dort fühlst du dich auch nie einsam, denn es wimmelt stets von lustigen krabbeligen Tierchen, die dir die Beine hinaufkriechen. Danke trotzdem deinem Gott, wenn du allenfalls als Mann geboren wurdest und zumindest für das kleine Geschäft eine Alternative hast. Möge Gott allen Frauen eine starke Blase und genügend Ausdauer bescheren, bis sie den nächsten McDonald's erreichen. Wenn das nicht funktioniert, gelangt Plan B zur Anwendung. Du stoppst den Bus, kniest beim rechten Hinterrad des Autobusses nieder, dein Partner legt ein grosses Batiktuch um dich und du befreist dich dann von deinem Druck. Zumindest weisst du jetzt, was wahre Erleuchtung bedeutet.
Und kommst du ins Land Gandhis zurück, stählt dich jede Reise mehr. Jeder ö.V.-Passagier muss wissen, auf was er sich einlässt. Sich beschweren? Sich bemitleiden? Nichts wäre komischer. Ein richtiger Traveller hegt keinen Groll über das Zugemutete, sondern er zeigt Freude, alles heil überstanden zu haben. Wie muss ein Mensch in Indien denken, um Indien zu verstehen? Ich weiss es nicht und hoffe, eines Tages die Geheimnisse dieses Landes zu entschlüsseln. Eines steht fest, nicht unsere Erlebnisse, sondern unsere Empfindungen prägen die Reiseeindrücke.
Nach acht Wochen Vegetarismus reise ich aus. Wieder einmal steht mir Indien bis über die Halskrause. Eine letzte Erduldungsphase beim Flugzeugwechsel in Mumbais Airport und dann im Transit des Suvarnabhumi im Süden von Bangkok zum ersten Mal wieder Südostasien schnuppern: Kalkulierbare Menschen, gute Kost, angenehme Atmosphäre. Ich freue mich wie ein kleines Kind. Es vergehen insgesamt dreissig Stunden bis ich nach der Rückkehr auf die Philippinen meine Zähne in das erstbeste Spanferkel haue und das grillierte Fleisch von den Knochen fetze. Vielleicht schon nächstes Jahr zeige ich der Welt, wie viel Indien noch in mir steckt. Ich komme wieder, immer wieder – denn die Hassliebe bleibt.
Swami Pitcairn
Drei Dinge sind unwiederbringlich: Der abgegebene Gewehrschuss, das in Eile gesagte Wort, eine verpasste Reise.
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