Member hat gesagt:
[...]Der Artikel ist übrigens kostenpflichtig, da nützt auch ein Link nichts...
Manchmal ereignen sich im Fussball Szenen, die viel verraten, obschon sie nach offizieller Lesart gar keine Bedeutung haben, denn nach dieser wären sie ungültig. Ungültig, weil vielleicht unbemerkt für das Publikum ein Schiedsrichterpfiff das Spiel unterbrochen hatte; ungültig, weil die Fahne des Linienrichters bereits eine Offsideposition anzeigte.
In der 89. Minute im Final der Champions League ereignete sich ein solcher Augenblick: Kylian Mbappé, der französische Weltmeister, war frei vor Bayerns Torhüter Manuel Neuer aufgetaucht – eine Situation, wie sie verheissungsvoller nicht sein kann für einen Angreifer von seinem Format. Neuer spreizte sich wie ein Oktopus in Bedrängnis, Mbappé brachte den Ball nicht an ihm vorbei, und er konnte es nicht begreifen, wie überhaupt dieser Szene etwas Unwirkliches anhaftete.
Neymar fassungslos
Wäre es kein Offside gewesen, dann wäre diese Situation prädestiniert gewesen, Kylian Mbappé ein Leben lang zu verfolgen: dieses sonderbare Versagen im entscheidenden Augenblick, in dem er weder seinem Ruf noch dem eigenen Anspruch gerecht wurde. Und doch stand die Szene nicht für sich allein an diesem Abend, an dem PSG den Bayern mit 0:1 unterlag. Denn Mbappé war nicht der Einzige, der in einer solchen Situation scheiterte: Auch Marquinhos, der Innenverteidiger, der in der Finalrunde im Mittelfeld eine so prächtige Figur abgab, konnte den Ball aus kürzester Distanz nicht an Neuer vorbeibugsieren. Neymar, der endlich einmal aller Welt beweisen wollte, was für ein Spitzensportler er doch ist, musste innert weniger Sekunden gleich zweimal erfahren, dass Bayerns Goalie an diesem Abend unüberwindbar war. In einer feinen Melange aus Anerkennung und Sarkasmus kommentierte Thomas Tuchel, Neymars Coach: «Manuel Neuer, das grenzt ja fast an Wettbewerbsverzerrung.»
Falsch lag Tuchel nicht. Der Däne Peter Schmeichel, einst ein ebenfalls hochdekorierter Goalie, merkte in seiner Rolle als TV-Kommentator an, dass die Bayern wohl mit jedem anderen Torhüter dieses Turnier nicht gewonnen hätten. Sicher hatte er die frühen Interventionen Neuers gegen den FC Barcelona im Viertelfinal und gegen Olympique Lyon im Halbfinal im Sinn, als den Bayern ein Rückstand drohte. In einem Nachsatz erklärte wiederum Tuchel: «Neuer hat das Torwartspiel auf ein neues Niveau gehoben.»
So wurde dieser Abend nach ausgelassener Pokalübergabe flugs zu einer Art Positionsbestimmung. Es galt, Manuel Neuer fussballhistorisch einzuordnen unter die grossen Goalies: unter Jaschin, Maier, Banks, Casillas und Buffon. Dass es darauf hinauslaufen könnte, hatte Kylian Mbappé offenbar schon vor dem Spiel geahnt, als er erklärte: «Neuer ist einer der besten Torhüter der Fussballgeschichte.»
Lauter Klassekeeper
Bezweifeln wird dies niemand ernsthaft. Erst recht nicht in einer Zeit, die so reich an Klassetorhütern ist: Nicht nur der Belgier Thibaut Courtois erhält Lob für seine Leistungen bei Real Madrid, auch Jan Oblak von Atlético überzeugt. Tottenhams Hugo Lloris zeigt seit einem Jahrzehnt konstant starke Leistungen. Keylor Navas von PSG ist eine unterschätzte Spitzenkraft mit grosser mentaler Stärke und Barças Marc-André ter Stegen, die Nummer 2 im deutschen Nationalteam hinter Neuer, zweifellos ein Weltklassemann. Dass zwei Brasilianer, Manchester Citys Ederson und Liverpools Alisson, wie selbstverständlich zu den besten Keepern der Gegenwart gezählt werden, wäre noch vor zwei Jahrzehnten als Stoff für eine Science-Fiction-Erzählung abgetan worden.
«Kein bisschen Show»
Unter ihnen allen ragt Neuer heraus, und zwar so deutlich, dass ein Kollege wie Alisson einst unumwunden gegenüber Sky erklärte: «Er ist mein Vorbild! Er hat neue Normen gesetzt.» Wenig hat dies allerdings mit spektakulären Paraden zu tun, bei denen der Goalie mit Anlauf von einem Pfosten zum anderen fliegt. Eher ist es die Sachlichkeit von Neuers Spiel, die verblüfft, wie es auch der einstige Bayern-Captain Philipp Lahm im Gespräch mit der NZZ erklärte: «Diese Art und Weise, wie er Bälle fängt: Die saugt er förmlich an! Er macht kein bisschen Show, das ist für mich einfach beeindruckend.»
Die Ökonomie des Torwartspiels hat keiner so gut verinnerlicht wie der Bayern-Captain: das Gespür dafür, den Winkel zu verkürzen, wenn der Gegner über die Aussenbahn kommt, den Körper dem Angreifer so entgegenzustellen, dass die Fläche für einen Treffer immer kleiner wird. Das wirkt unorthodox, so, als gehe Neuer in eine seitlich versetzte Kniebeuge. Man fragt sich, woher er die Elastizität in den Sehnen nimmt.
Eben jene Aktionen sind es, auf die Tuchel anspielte, als er Neuer attestierte, neues Terrain zu erschliessen. Aber es ist nicht das erste Mal, dass Neuer dafür gepriesen wird, Schrittmacher bei der Entwicklung des Torwartspiels zu sein; auch dürfte ihm die freundliche Wendung, er habe ein Turnier für sein Team entschieden, bekannt vorkommen. An der Weltmeisterschaft 2014 entschied Neuer den Achtelfinal gegen Algerien – und zwar ohne den Ball auch nur ein einziges Mal mit der Hand zu berühren. Immer wieder klärte er vor dem eigenen Tor, oft sogar ausserhalb des Strafraums, um Konter der Algerier gegen die mit extremem Risiko spielenden Deutschen abzufangen.
Die hoch verteidigende Abwehr und der Goalie befinden sich nahezu immer im idealen Abstand zueinander, was überhaupt erst die Voraussetzung dafür schafft, intensives Pressing zu spielen. Auf diese Weise erweitert Neuer den taktischen Rahmen seines Teams. Sein Stil hat längst Nachahmer gefunden: Nicht nur Allison, sondern auch Ederson und vor allem ter Stegen repräsentieren eine Generation von Goalies, die die Altvorderen in ihrem Spiel antiquiert erscheinen lässt.
Und Manuel Neuer selber? Erklärte, er habe ein gutes Spiel gemacht. Als alles vorbei war, nahm er ein Souvenir mit: das Netz des Tores, das er zuvor so bravourös verteidigt hatte. In diesem Moment wirkte er ein wenig wie ein Gladiator, der nur mal kurz den Dreizack aus der Hand gelegt hat.