Aus der NZZ
Am Donnerstagabend hatte das Martyrium für den Thailänder Anusha Aungkean ein Ende. Nach seiner Freilassung aus den Fängen der Hamas landete der 28-Jährige zusammen mit sechzehn Landsleuten in Bangkok. Anushas Mutter Wassana Yojampa kann ihr Glück kaum fassen. «Ich kochte gerade, als mich ein Verwandter morgens um 5 Uhr anrief und sagte, dass auf X Bilder meines freigelassenen Sohnes zu sehen sind. Vor Freude weinte ich leise vor mich hin», sagt Wassana.
Die Familie wohnt rund eine Flugstunde von Bangkok entfernt in Udon Thani. Die Provinz mit der gleichnamigen Hauptstadt liegt im Nordosten Thailands. Sie ist die ärmste Region des südostasiatischen Landes. Wie gross das Wohlstandsgefälle ist, zeigen Zahlen der Weltbank: In Bangkok ist die Wirtschaftsleistung
pro Kopf mehr als 6,5mal so gross wie im Nordosten Thailands. Die Armut treibt die jüngeren Thailänder ins Ausland, damit die Familien in der Heimat über die Runden kommen.
30 000 Arbeiter in Israel
Israel ist eine beliebte Destination für thailändische Arbeitskräfte gewesen. Rund 30 000 waren dort beim Ausbruch des Krieges beschäftigt, die meisten davon in der Landwirtschaft. Davon arbeiteten bis 5000 Thailänder unweit des Gazastreifens in landwirtschaftlichen Betrieben und Kibbuzim, weshalb sie besonders stark unter den Massakern der Hamas am 7. Oktober litten: Sie fielen den Schergen als Erste in die Hände. 39 Thailänder wurden ermordet und mindestens 32 entführt. Über die genauen Zahlen tappt selbst die thailändische Regierung im Dunkeln, weil sich zahlreiche Illegale aus Thailand in Israel aufgehalten haben.
Anuthep Dawreang leitet das Arbeitsamt in Udon Thani.Aus seinen Statistiken geht hervor, dass Ende September aus der
Provinzhauptstadt annähernd 20 000 Erwerbstätige weltweit in 67 Ländern tätig gewesen sind. Populär waren neben Israel Taiwan, Südkorea und Japan.
Israel, wo sich vor dem Krieg mehr als 4000 Einwohner allein aus Udon Thani aufhielten, hat gegenüber den anderen Ländern zwei Vorteile: Zum einen haben sich die Regierungen beider Länder auf ein Abkommen verständigt, durch das thailändische Arbeitskräfte legal für fünf Jahre und drei Monate nach Israel entsandt werden können. Zudem verdienen sie gut. In Israel beläuft sich das durchschnittliche Salär auf annähernd 50 000 Baht pro Monat, was etwas mehr als 1200 Franken entspricht. In Taiwan ist es nur halb so hoch.
Für Thailänder aus Udon Thani sind 50 000 Baht viel Geld.Anuthep zückt seinen Taschenrechner, tippt ein paar Zahlen ein und sagt: «Bei uns in der Region beläuft sich der monatliche Mindestlohn auf rund 9000 Baht.» Selbst Angestellte des öffentlichen Dienstes, wo manche nur 15 000 Baht im Monat verdienen, kündigen, um ins Ausland zu gehen.
Wie gross die Not ist, zeigt auch eine andere Zahl. Thailands neuer Regierungschef Srettha Thavisin forderte seine Landsleute auf, aus Israel zurückzukehren. Auf grosse Resonanz stiess er nicht: Trotz den Kriegswirren sind von den mehr als 4000 Menschen aus Udon Thani bisher nur 1300 aus Israel zurückgekommen. Solche Zahlen zeigen, wie schlecht es um den Nordosten Thailands bestellt ist. «Die Region liegt im Nirgendwo und ist von der Landwirtschaft abhängig», sagt Anuthep vom Arbeitsamt in Udon Thani. Industrieunternehmen fehlt für den Transport von Gütern eine intakte Infrastruktur. Anbindungen an einen Hafen gibt es nicht. In der Not setzt der Nordosten Thailands nun auf China und die Belt-and-Road-Initiative.
Mithilfe chinesischen Know-hows wird Udon Thani ans Schienennetz angeschlossen. In wenigen Jahren wird es eine Verbindung nach Vientiane geben, Hauptstadt von Laos. Dadurch erhält Thailands Nordosten Zugang zum chinesischen Netz für Hochgeschwindigkeitszüge. Für die Landwirte sind dies gute Nachrichten. Sie werden so ihre exotischen Früchte und ihr Gemüse in China vertreiben und sich lukrative Einnahmequellen sichern können. Bis es so weit ist, werden jedoch noch einige Jahre vergehen. In der Zwischenzeit treiben die niedrigen Saläre die Menschen weiter ins Ausland.
Anusha hatte in Udon Thani bei einem öffentlichen Transportunternehmen gearbeitet und Busse gereinigt. Er verdiente kümmerliche 10 000 Baht pro Monat. Er sah nur einen Ausweg: Im März vergangenen Jahres heuerte er bei einer Farm in Israel an, die Avocado anbaute. Der Betrieb lag nur zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt. 50 000 Baht verdiente er umgerechnet monatlich. Das Geld eröffnete ihm neue Perspektiven.
Anusha unterstützte die Familie und seine siebenjährige Tochter, die auf den Spitznamen Earth hört. Und er konnte sich seinen Traum vom eigenen Haus erfüllen. Die Pläne hatte er bereits entworfen. Sein Vater setzte diese mit den monatlichen Überweisungen aus Israel um. Er schickte seinem Sohn Fotos, damit Anusha in Israel die Fortschritte begutachten und Änderungswünsche äussern konnte. Als er am 7. Oktober entführt wurde, stoppte der Vater die Bauarbeiten. «Warum hätte er ein Haus vollenden sollen, in das der Sohn vielleicht nie hätte einziehen können?», fragt Anushas Mutter Wassana rhetorisch.
Vor einer ungewissen Zukunft
Seit Anushas Freilassung packt der Vater wieder an. Das Haus ist im Vergleich zu anderen Gebäuden im ländlichen Udon Thani, die oft auf Stelzen stehen und aus Holz sind, luxuriös. Neben dem grosszügigen Wohnzimmer gibt es eine separate Küche, ein Badezimmer, das Schlafzimmer für die Eltern und ein Kinderzimmer für Earth. Die Böden sind gekachelt, die Aussenmauern bereits verputzt. Bis Ende März soll das Haus fertig sein. Bezahlt ist es bereits.
Einen zweiten Traum hat sich Anusha wegen der unfreiwilligen Rückkehr jedoch noch nicht erfüllen können:
Er wollte seinem Vater als Dank für den Bau des Hauses ein Auto kaufen. Daraus wird nun erst einmal nichts, denn Anusha und seine Familie stehen vor einer ungewissen Zukunft. «Nach Israel lasse ich ihn nicht mehr», sagt zwar seine Mutter Wassana. Lange dürfte es Anusha dennoch nicht in der Heimat halten. Dafür sind die Aussichten zu trüb. Der Arbeitsmarkt gibt nichts her. Die Ersparnisse sind aufgebraucht.
Weniger Glück als Anusha hatte Wittawat Kullawang mit dem Bau eines Hauses. Schnittwunden am Hals zeugen davon, dass er am 7. Oktober beim Angriff der Hamas nur knapp dem Tod entronnen ist. Wittawat spricht gefasst über die Ereignisse des Tages, auch wenn er nachts nur mit Beruhigungs- und Schlafmitteln Ruhe findet. Beim Ausbruch des Krieges arbeitete er auf einer Geflügelfarm, die sich unweit des Gazastreifens befand. Auf die hatte es die Hamas abgesehen. Am 7. Oktober stand der 33-Jährige um 9 Uhr morgens einem Palästinenser gegenüber und war hoffnungslos unterlegen.
Mit Glück den Angriff überlebt
Das Gegenüber hatte ein Küchenmesser und forderte den Thailänder auf, sich auf den Boden zu legen. Wittawat weigerte sich und wurde daraufhin mit Messerstichen traktiert. Die ersten Stiche trafen ihn an der Stirn, dann zielte der Häscher auf den Hals. Der Kampf dauerte zehn Minuten. Wittawat fiel blutüberströmt in Ohnmacht. Der Palästinenser dachte, sein Opfer sei tot. Er liess von ihm ab und rettete Wittawat so ungewollt das Leben.
Seine thailändischen Kollegen auf der Farm – von den zehn überlebten neun, zwei wurden entführt – zogen ihn nach dem Abzug der Hamas in die Schutzräume, wo sie gegen 18 Uhr von der israelischen Armee gerettet und in ein Spital nach Jerusalem gebracht wurden. Wittawat verbrachte drei Tage dort. Schlaf fand er keinen. «Mir gingen immer wieder die Bilder vom Kampf durch den Kopf.»
Wittawat war vier Jahre in Israel. Zu Beginn hatte er auf einer Farm, die Gurken und Tomaten anbaute, 30 000 Baht verdient. Den Grossteil des Geldes überwies er an seine Familie, die damit ihr Leben, den Kindergartenbesuch der Tochter sowie ein Auto finanzierte. Nach dem Wechsel zu einer Geflügelfarm erhöhte sich sein Salär. Vier Monate vor dem Attentat der Hamas verdiente Wittawat 50 000 Baht pro Monat – eigentlich genug Geld, um ein Haus in der Heimat zu bauen. Seit dem 7. Oktober ist jedoch alles anders.
Nach der Rückkehr in die Heimat steht Wittawat auf der Baustelle und gibt den Arbeitern Anweisungen. Die Grundmauern stehen. Löcher werden ausgehoben. Dabei wird es erst einmal bleiben. Wittwata und seine Frau bewirtschaften zwar mehr als 25 000 Quadratmeter Ackerfläche, was 32 Handballfeldern entspricht. Sie bauen Auberginen, Bohnen, Reis, Wassermelonen sowie Zuckerrohr an. Verdienen tun sie jedoch derzeit fast nichts. Die Rücklagen sind aufgebraucht. Von der thailändischen Sozialversicherung erwarten sie eine Einmalzahlung von 100 000 Baht, gerade einmal zwei Monatssaläre in Israel.
Zudem hat die israelische Regierung zugesagt, ihn bis zu seinem Lebensende finanziell zu unterstützen, weil Wittawat im Krieg verletzt worden ist. Er soll monatlich einen Betrag in Relation zu seinen Verletzungen erhalten. Wie sich dieser berechnet, wie hoch er sein wird, und ob die israelische Regierung überhaupt zahlt, ist so ungewiss wie die Perspektive in der Heimat. Als Alternative bleibt einmal mehr nur das Ausland.
Eine Rückkehr nach Israel scheidet trotz den lukrativen Salären jedoch aus, auch wenn er die Jahre dort nicht bereut. «Es war es wert, das Risiko einzugehen.» Ein zweites Mal möchte Wittawat das Schicksal jedoch nicht herausfordern.