Ich wollte die drei gerade auffordern gefälligst leise zu sein, um Off nicht zu wecken, brachte jedoch kein Wort heraus. Völlig perplex starrte ich in den Lauf der Pistole, die einer der Polizisten auf mich richtete. Ich verstand nicht wirklich was das sollte, wagte aber instinktiv keine Bewegung. Noch bevor ich wirklich begriffen hatte, dass ich tatsächlich mit einer Waffe bedroht wurde und der Polizist vermutlich auch nicht zögern würde diese zu benutzen, hatte mich der andere bereits zu Boden geworfen und mir Handschellen angelegt.
Off war durch den Krach natürlich aufgewacht und schrie erschrocken auf, so dass die Rezeptionistin sich ihrer annahm und sie heraustrug. Erst als die Rezeptionistin die Decke der Kleinen zurückschlug, verstand ich, was überhaupt vor sich ging. Die Blicke der Polizisten und der Tussi von der Rezeption waren so vielsagend, dass mir schlagartig klar wurde, was sie dachten.
Der bloße Gedanke daran war so ungeheuerlich, dass ich zunächst keine Worte fand, um diesem monströsen Verdacht zu widersprechen oder mich zu verteidigen.
Aber das war wohl auch egal, denn es schien ohnehin niemand an einer Erklärung interessiert. Für die Polizisten war alles klar und so führten sie mich ohne weitere Nachfrage ab.
Einzig ein Handtuch warfen sie mir noch zu, mit dem ich mich wenigstens etwas bedecken konnte. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich hatte kaum die Möglichkeit den Wahnsinn auch nur ansatzweise zu erfassen. Viel zu sehr musste ich mich darauf konzentrieren, mit auf dem Rücken gefesselten Händen das Handtuch zu halten und nicht zu stolpern.
Alles glotzte mich an, als ich durch die Lobby zum Ausgang geführt und in den vor der Tür geparkten Polizeiwagen gestoßen wurde. Das Handtuch hatte ich dabei verloren, aber einer der beiden Polizisten hob es vom Bürgersteig auf und warf es mir in den Wagen nach an den Kopf.
Aus den Augenwinkeln hatte ich in der Lobby noch kurz die Rezeptionistin mit Off auf dem Arm gesehen, die immer noch damit zu tun hatte die Kleine zu beruhigen. Vor dem Eingang des Hotels hatte sich zu beiden Seiten eine kleine Menschenmenge versammelt. Sie reckten die Hälse, um besser sehen zu können.
Kurz bevor der Wagen an anfuhr, sah ich, wie Pong sich ihren Weg durch die Menge bahnte und rief ihr zu, dass Off im Hotel sei. Sie sah zu mir herüber, blieb wie angewurzelt stehen und starrte offenbar gleichermaßen überrascht und geschockt dem Wagen hinterher. Ich war mir sicher, dass sie mich gehört und auch erkannt hatte. Weniger sicher war ich mir, ob sie auch verstanden hatte, was ich ihr zugerufen hatte.
Auf der kurzen Fahrt zum Polizeirevier hatte ich das erste Mal Gelegenheit ein paar Gedanken zu sortieren. Weit kam ich damit nicht, denn mein Verstand schien sich zu weigern dass Offenkundige weiter zu denken. Die hielten mich ernsthaft für einen Kinderschänder. Mich. Ausgerechnet mich, Malte.
Weiter ließ mich mein Verstand nicht denken. Lediglich meine Eingeweide verkrampften sich. Sie waren offenbar schon weiter als mein Verstand und hatten wohl bereits eine Vorahnung dessen, was das bedeuten und was daraus folgen würde.
Auf dem Polizeirevier wurde ich ohne viele Worte in eine Zelle verfrachtet, die ziemlich gleich wie die meines vorherigen Aufenthaltes war. Vielleicht war es sogar die Gleiche. Ich war mit nicht sicher und hatte auch nicht darauf geachtet.
Ein erster Impuls ließ mich nach Sum Ausschau halten, als würde sie irgendwie zu den Zellen dazugehören. Aber das war natürlich Unsinn.
Statt Sum hockte ein schlacksiger Typ, etwa Mitte, Ende Fünfzig auf der Matratze, grinste mich an und hob seine Hand zum Gruß: "Hello, my name is Dietmar."
Dietmar? Das klang deutsch. "Wenigstens etwas." dachte ich erleichtert, als ob es irgendetwas ändern oder mir irgendwie helfen würde, mit einem Deutschen in der Zelle zu sitzen.
"Malte." antwortete ich so freundlich und höflich, wie es mir mit der tonlosen Stimme irgend möglich war, die ich in dieser trostlosen Situation noch herausbrachte.
Dietmar war offensichtlich freudig überrascht und bot mir mit einem Handzeichen Platz auf der Matratze an. "Oh, ein Deutscher. Na, dass nenn' ich mal Glück im Unglück. So können wir uns wenigstens etwas unterhalten. Mein Englisch ist nämlich nicht so toll." begann er auch gleich ein Gespräch, während ich mich niederließ. Mir war gerade gar nicht danach mich zu unterhalten und so nickte ich nur kurz und lächelte gezwungen, was vermutlich wie eine Grimasse aussah.
"Mach' dich nicht verrückt. Das wird schon wieder. Man hört immer diese Horrorgeschichten, aber auch in Thailand wird meistens nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Außerdem: Mit Kohle kann man hier 'ne ganze Menge drehen." fuhr er fort.
Der hatte gut reden. "Wenn du wüsstest in welchem Schlamassel ich bin." dachte ich nur, sagte aber nichts. Ich wollte nicht reden, sondern nur in Ruhe nachdenken. Ich vermutete, dass Dietmar wegen einer Lappalie dort war. Jedenfalls schienen die Zelle und die Situation seine Laune nicht sonderlich zu trüben und in seiner Stimme lag sehr viel mehr Zuversicht als Niedergeschlagenheit.
Was, wenn Pong mich nicht verstanden und Off nicht geholt hatte? Was würde dann mit der Kleinen passieren? Schließlich wusste ja niemand, wer sie war und wie man Pong erreichen konnte. Gab es in Thailand so etwas wie einen Jugend- und Kindernotdienst? Ich hatte keine Ahnung, beruhigte mich aber damit, dass Pong mich ganz sicher gesehen hatte und ziemlich sicher bei der Polizei nachfragen würde. Damit war wenigstens sichergestellt, dass Off nichts zustossen würde.
Weit weniger sicher war ich mir, ob Pong mir helfen würde. Wenn Pong noch immer überzeugt war, dass ich sie auf den Strich schicken wollte, wäre es sicher wenig hilfreich, wenn ihr zudem noch berichtet würde, dass ich mich an ihrer Tochter vergriffen hätte. Nein, das wäre ganz sicher nicht hilfreich.
"Worum geht's? Junge oder Mädchen?" hörte ich Dietmar fragen und antwortete ganz beiläufig in Gedanken: "Mädchen!"
"Wie alt?" fragte er weiter und ich antwortete wieder beiläufig: "Nicht ganz drei."
"Wow, das ist verdammt jung. Ich steh' ja eher auf Ältere, so ab neun oder zehn ..." er stutzte, als ich ihn verdutzt ansah. Woher zum Teufel wusste er, was man mir vorwarf?
Dann lachte er laut. "Nun guck' nicht so verdattert. Du müsstest mal dein Gesicht sehen." Schließlich klärte er mich auf: "Ich kann nicht etwa hellsehen oder sowas. Wenn man dir nichts mit Kindern vorwerfen würde, hätten sie dich nicht in diese Zelle gebracht. Ich war schon ein paar Mal hier. Die trennen uns von den anderen Gefangenen, damit die uns nicht ans Leder gehen."
Uns? Ich war noch beim Sortieren des Gesagten und versuchte zu verstehen, was er meinte, als Dietmar bereits fortfuhr und mich aufklärte, dass Thailand für unsereins nicht mehr so geeignet war wie früher und ich mich künftig besser Richtung Kambodscha orientieren sollte. Da wäre alles noch viel lockerer. Nur leben könne man da nicht so gut. Dafür wäre Thailand wiederum besser, aber Kambodscha war ja nicht weit. Er machte das jedenfalls nur noch dort und nahm dann alles auf Video auf. Die hatte man zwar nun bei ihm gefunden, aber das war halb so schlimm. Er achtete nämlich immer peinlich genau darauf, dass er darauf nicht zu erkennen war.
"Machst du auch Videos? ich kann dir da ein paar Kontakte vermitteln; die zahlen richtig Asche für sowas - gerade mit Kleinkindern. Da kannst du richtig absahnen. Je krasser, desto mehr natürlich. Ist klar, oder?" hörte ich Dietmar wie durch einen Nebel sagen, während vor meinem inneren Auge die Bilder abliefen, die sich mir von meinem Praktikum beim Sozialdienst der Kinder- und Jugendhilfe ins Gedächtnis gebrannt hatten.
Ich erinnerte mich, wie entsetzt ich an meinem ersten Tag dort von dem Fall eines Sechsjährigen war, dem der eigene Vater den Arm gebrochen hatte und daran, wie irritiert und sprachlos ich über die Freude der Sachbearbeiterin war, dass wir noch rechtzeitig hatten eingreifen und das Kind dort herausholen können, bevor etwas Schlimmes passiert war. Ich hatte nicht verstanden, wie man das als "nicht schlimm" betrachten konnte - und ich hatte da noch keine Vorstellung davon, was sie mit "schlimm" gemeint haben konnte. Das verstand ich erst, als diese "schlimmen" Fälle nach und nach kamen.
Es gab Eltern, die ihre Kinder verwahrlosen und sogar verhungern ließen. Es gab Tanten, die ihre Neffen und Nichten im Internet meistbietend an Perverse verkauften, ohne sich auch nur im Geringsten darum zu kümmern, was dort mit ihnen passierte, und Onkel, die das gleich selbst taten. Es gab Eltern, Nachbarn, Erzieher, Lehrer, Nachbarn oder einfach nur fremde Passanten, die Kindern Unglaubliches antaten. Die Kinder, die ihr Martyrium wenigstens physisch überlebt hatten, wurden dann zu diesen 'Fällen'.
Es dauerte keine drei Tage, bis ich verstanden hatte, was die Kollegin an meinem ersten Tag gemeint hatte. Da hatte ich auch verstanden, warum es dort wohl niemanden gab, der nicht davon tagträumte, was man alles mit den Tätern anstellen sollte und würde. Aber die bekamen wir natürlich nie zu Gesicht. Ich hatte sechs Wochen durchgehalten und keinen einzigen davon gesehen.
Und nun saß einer von denen direkt neben mir und gab mir Tipps, weil er mich für seinesgleichen hielt. Ich erinnere mich noch, dass er mir empfahl mich an die deutsche Botschaft zu wenden, wenn ich tatsächlich verurteilt werden sollte, um auf meine Auslieferung nach Deutschland hinzuwirken. Das wäre allemal besser als in Thailand im Knast zu sitzen. Dort bräuchte man dann nur ein wenig mit den Therapeuten quatschen und wäre bald als "geheilt" wieder draußen. "Ist schon geil, oder? Als würde man versuchen wegzuquatschen, dass jemand auf Männer oder Frauen zu steht. Bei Homos würden sie das nicht mal andenken. Das gilt ja als normal und geht ja sowieso nicht. Aber bei uns funktioniert das natürlich immer." spottete Dietmar.
Was dann passierte, kann ich nur schlußfolgern. Eine wirkliche Erinnerung habe ich daran nicht. Filmriss nennt man das wohl.
Das Nächste, woran ich mich wieder erinnere, ist, wie ich erschöpft und außer Atem auf der Matratze hockte und meine Hände anstarrte. Sie schmerzten fürchterlich, als hätte man mir jeden Knochen einzeln gebrochen und die Haut von den Händen abgezogen. Und so sahen sie auch in etwa aus. Das Blut war schon zum Teil getrocknet und einige Finger klebten aneinander. Ich nahm einen eigenartigen Geruch von Eisen wahr und sah mich irritiert um, um herauszufinden was geschehen war.
Eine Gestalt lag auf dem Boden in der gegenüberliegenden Ecke der Zelle. Sie rührte sich nicht. Sie lag nicht weit entfernt, denn die Zellen waren ja sehr klein. Dennoch wusste ich nicht gleich, um wen es sich handelte. An der Kleidung erkannte ich schließlich, dass es sich um diesen Dietmar handeln musste. Am Gesicht war er nicht zu erkennen, denn das war eine einzige blutrote Masse.
Mein Blick wanderte erstaunt, verwirrt und fragend zwischen meinen Händen und diesem Etwas, das höchstwahrscheinlich mal ein Gesicht gewesen war, hin und her. Beides hatte die gleiche Farbe und obwohl der Zusammenhang ziemlich offensichtlich war, begriff ich ihn nicht sofort, was vermutlich auch daran lag, dass mir Gewalt, besonders in diesem Ausmaß, eigentlich zuwider und völlig fremd, ja nahezu unbekannt, ist.
Noch mehr wunderte ich mich aber darüber, dass ich keinerlei Reue oder Mitleid empfand. Da war vielmehr ein eigenartiges Gefühl der Genugtuung und Freude, das so gar nicht zu der Situation passen wollte. Es ist schwer zu beschreiben, aber es war ganz sicher kein Gefühl, etwas Falsches getan zu haben - eher im Gegenteil. Dabei hatte ich keine Ahnung, ob er überhaupt noch lebte, oder ich ihn vielleicht sogar umgebracht hatte.
Ich war selbst überrascht, wie egal mir das war. Mehr aus Neugier als aus Sorge um ihn versuchte ich Lebenszeichen auszumachen. Auf den ersten Blick war nichts zu erkennen. Er lag noch genau so leblos da wie zuvor. Auch ob er atmete, konnte ich nicht erkennen, also stieß ich sein Bein mit meinem Fuß an. Keine Reaktion.
Ich ging davon aus, dass er wohl tot war und überlegte, was das bedeutete. Zu meiner eigenen Überraschung empfand ich noch immer weder Reue noch Bedauern. Das Gefühl etwas Richtiges getan zu haben, verschwand nicht. Es fühlte sich eher an, als hätte ich ein gefährliches Raubtier zur Strecke gebracht. Daran war nichts Schlechtes. Es war zumindest eher gut als schlecht.
Allerdings setzte nun auch die Sorge wegen der Konsequenzen ein, denn ich wusste, dass das vielleicht nicht jeder so sehen würde und selbst wenn doch, man mir zumindest nicht zugestehen würde, dass es meine Aufgabe war, mich darum zu kümmern.
Ich sinnierte gerade darüber, ob es eigentlich einen großen Unterschied machte, ob ich als Kinderschänder oder Kinderschänder und Mörder in einem Thai-Knast verrotten würde. Ich kam zu dem Schluss, dass ich vermutlich eh keine 3 Jahre schaffen würde und es daher letztlich ziemlich egal wäre, wie lange ich wofür bekäme. Paradoxerweise beruhigte mich diese Erkenntnis auf seltsame Weise und zwar so sehr, dass ich ernsthaft darüber nachdachte es zuende zu bringen, als Dietmar wider Erwarten doch noch ein Lebenszeichen von sich gab.
In etwa dort, wo zuvor seine Nase gewesen sein musste, hob und senkte sich aus der roten Masse mit steter Regelmäßigkeit eine kleine, blutige Rotzblase. Ein untrügliches Zeichen, dass die Gestalt noch atmete. Wer atmete, der lebte, folgerte ich ohne jegliche Emotion. Ich saß eine ganze Weile da, beobachtete die Rotzblase und war jedes Mal hin und hergerissen, ob ich mir wünschen sollte, dass es die letzte Rotzblase wäre, oder er doch besser weiteratmen sollte.
Eigentlich wusste ich was ich wollte, aber die Konsequenzen ließen mich zögern es selbst in die Hand zu nehmen und ich schämte mich für diese Feigheit.
Irgendwann öffnete sich die Tür und zwei Polizisten erlösten mich aus dem Dilemma. Sie blieben wie erstarrt in der Tür stehen und ihre verdutzten Blicke wanderten zwischen mir und Dietmar. Einer der beiden beugte sich zu Dietmar hinunter, um zu prüfen, ob er noch lebte, sah die Rotzblase und zog sich wieder zurück. Die beiden begutachteten mich eindringlich. Offenbar überlegten sie ob und wie sie mir Handschellen anlegen sollten. Ich sah an mir herab und erkannte, warum die beiden zögerten. Nicht nur meine Hände waren rot von Blut, sondern mehr oder weniger mein ganzer Körper war mit Dietmars Blut besudelt. Nicht überall so deckend und tiefrot wie an den Händen, aber doch so sehr, dass man mich kaum berühren konnte, ohne sich selbst einzusauen.
Die beiden waren wohl zu dem gleichen Schluß gekommen und zogen sich erstmal zurück. Wenig später öffnete sich die Tür erneut. Sie stellen mir einen Eimer Wasser hin, legten eine Seife, ein Handtuch und eine Shorts daneben und wiesen mich an, mich zu säubern.
Ich wusch mich eilig und war froh, das klebrige Blut endlich abwaschen zu können. Allerdings war der Erfolg mäßig. Wer schon einmal versucht hat Blut abzuwaschen, weiß sicher wie schwierig das ist. Wenigstens konnte ich das Gröbste entfernen und es klebte nicht mehr. Zu sehen war es allerdings nach wie vor, wenn auch deutlich blasser.
Die beiden führten mich aus der Zelle. ich erkannte den Weg wieder und wusste, dass sie mich zum Chief bringen würden. Im Vorraum seines Büros saß Pong mit Off auf dem Arm und sprang auf als sie mich sah. "Gott sei Dank, wenigstens hat sie Off" dachte ich nur und wollte zu gern kurz mit Pong sprechen. Aber die beiden Polizisten unterbanden das direkt, wiesen Pong an sich wieder zu setzen und schoben mich ins Büro des Polizeichefs.