Carola hatte lange nachgedacht, wie sie an Jack herankommen könnte. Einen richtigen Plan hatte sie nicht, kannte Jack aber gut genug, um sich seine Reaktion auszumalen, würde sie ihn jetzt anrufen. Aber ein Anruf wäre wohl erst einmal die sicherste Möglichkeit, denn sie hatte nicht zu Unrecht die Befürchtung, dass Jack sie als Sündenbock hinstellen könnte. Schließlich war es ihre Idee gewesen, ihn mit Lin zu beglücken. Und genau damit hatte Jacks emotionales Desaster seinen Anfang genommen. Seine Reaktion war also für sie kalkulierbar. Beherzt griff sie zum Telefon und wählte Jacks Nummer. Es klingelte lange und eigentlich war es ungewöhnlich für Jack, dass er sie warten ließ. Sie versuchte sich den Grund auszumahlen und kam zu dem Schluss, dass Jack entsprechend ihrer Erwartungshaltung sauer auf sie war. Am anderen Ende der Leitung wurde die Verbindung hergestellt.
"Hallo Jack, wie geht es dir, wie hast du die Nacht überstanden?"
"Du verdammtes Miststück! Was hast du mir..."
Carola legte ihr Handy auf den Tisch und lehnte sich zurück. Sie hatte darauf verzichtet, den Lautsprecher einzuschalten. So wie Jack ins Telefon brüllte, war das nicht nötig. Allerdings hatte sie genug Distanz zwischen sich und dem Telefon, dass sie Jack nur brüllen hörte und den Inhalt seiner Schimpfkanonade nicht mitbekam. Carola wartete geduldig und es dauerte fast 3 Minuten, bis das Gebrüll aus dem Hörer verstummte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ein leiseres 'Hallo Carola?' vernahm. Mit aller Selenruhe nahm sie das Telefon wieder in die Hand.
"Hallo Carola!? Bist du da?"
"Hallo Jack, ja, ich bin da. Sorry, ich hatte das Telefon in der Küche liegen lassen während du dein Selbstgespräch geführt hast. Ich denke mal, das, was du zu sagen hattest, umfasste dein übliches Repertoire an Flüchen und Kraftausdrücken und war für mich im Wesentlichen unwichtig! Geht es dir jetzt besser und können wir uns wie Erwachsene unterhalten?"
"Du verdammtes Miststück!"
Jack war wieder lauter geworden, aber Carola fuhr ihm selbstbewusst in die Parade.
"Du ungehobelter Rotzbengel! Also hat es gestern etwas bewirkt, was Lin dir um die Ohren geschlagen hat!?"
Es war mehr eine Feststellung Carolas denn eine Frage, und sie war geschickt und erfahren genug im Umgang mit Jack und hatte nur auf diesen Moment gewartet, wusste, dass die Erwähnung von Lin ihm sofort eine Maulsperre verpassen würde.
In der Tat war Jack für einen Moment verstummt.
"Also Jack, bist du jetzt bereit mir zuzuhören?"
"Was willst du mir sagen. Lass mich bloß mit dieser quergeschlitzten Asia-Tussi zufrieden!"
"Jack, du bist und bleibst ein Arschloch. Jetzt gesteh dir endlich ein, dass du genau das Gegenteil willst. Du hast dich in Lin verguckt und bist zu dämlich und unreif, mit deinen Gefühlen umzugehen und ins Reine zu kommen."
Carola sprach sehr bewusst leise und zwang Jack so damit, zuzuhören.
"Ich vergucke mich in keine Frau, das ist bei mir nicht drin."
Carola spürte genau die Unsicherheit in Jacks Stimme.
"Jack, du weißt es doch schon längst selbst. Soll ich dir sagen, wie du gestern deinen Abend verbracht hast? Du hast wohl ein paar Whisky getrunken und versucht, einen Schuldigen für dein Dilemma auszumachen. Dir sind immer wieder Bilder von Lin durch den Kopf gespukt und das Erste, was du vor dem Aufwachen vor deinem geistigen Auge gesehen hast, war ein Bild von Lin, die dir im Traum nahe war. Die Erkenntnis, dass dem nicht so war, hat dich letztendlich geweckt und dir ein beschissenes Gefühl gegeben, das du noch den ganzen Tag mit dir herumschleppen wirst. Und das wird sich wiederholen, Tag für Tag, bis du Holzkopf dir endlich mal ein wenig Emotionalität zugestehst!"
Jack schwieg für Sekunden und für Carola brachte es die Gewissheit, dass sie in Schwarze getroffen hatte. Die Antwort von Jack überraschte sie dann aber doch.
"Was soll ich tun?"
"Wow Jack, das scheint dir ja heftigst an die Nieren gegangen zu sein! Kann ich davon ausgehen, dass du die Schuldfrage unterbewusst reflektiert und eingesehen hast, dass du Bullshit von dir gibst?"
"Rede keinen Mist, nichts ist mir an die Nieren gegangen! Ich habe dich gefragt, was ich tun soll!"
"Jack, bevor ich überhaupt nur im Ansatz mit dir darüber reden werde, erwarte ich Ehrlichkeit von dir! Nicht mir gegenüber, sondern gegenüber dir selbst! Hast du das verstanden oder willst du, dass ich jetzt einfach auflege?"
Wieder blieb es am anderen Ende der Leitung ungewöhnlich lange still. Carola hakte nach.
"Nun Jack, was ist deine Entscheidung?"
"Okay, meine Nacht war beschissen. Du hast Recht mit dem was du gesagt hast! Was soll ich tun?"
"Ich werde dir helfen. Trinke jetzt erst mal einen Kaffee und ruhe dich noch etwas aus. Ich werde in 3 Stunden bei dir sein. Ich möchte dir persönlich gegenüber sitzen wenn ich mit dir Tacheles reden werde."
"Okay, einverstanden."
"Dann sehen wir uns in 3 Stunden!"
Carola legte auf und lehnte sich zurück. Sie musste selbst erst einmal verarbeiten, was da gerade abgelaufen ist. Jacks Verhalten war extrem atypisch für ihn. Sie war aber lange genug im Geschäft um zu wissen, wie Männer ticken und Jack war in diesem Fall keine Ausnahme. Zwar hob er sich mit seinen Eigenarten und mit seinem Auftreten extrem von der üblichen Klientel ab, aber letztendlich war er auch nur ein Mann und jetzt ist mit ihm wohl das erste Mal passiert, was vielen Männern irgendwann in ihrer frühen Jugend als Teen oder Twen passiert ist: Jack litt unter Liebeskummer, unerfüllte Sehnsucht nach etwas, was er über Jahre erfolgreich unterdrückt hatte.