Für eine Sekunde überlegte ich, wie Pong auf etwas derart Absurdes überhaupt kommen konnte, aber schnell wurde mir klar, dass das in dem Moment unwichtig war. Erstmal war es nur wichtig Pong aufzuhalten, um das Missverständnis überhaupt klären zu können, auch wenn ich noch überhaupt keine Idee hatte, wie ich das tun sollte. Also hastete ich zum Ausgang. Das Geschrei hinter mir bezog ich dabei gar nicht auf mich, sondern nahm es eher beiläufig und gänzlich unbeteiligt wahr.
Ich war kaum fünf Meter weit gekommen, als ich zu Fall gebracht wurde. Die zierliche Kellnerin, die sich mir in den Weg gestellt hatte, hatte ich nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen und ich hätte im Traum nicht damit gerechnet, dass sie sich mir in den Weg stellen würde. Warum hätte sie das auch tun sollen? Wer rechnet denn auch mit sowas? Natürlich versuchte ich auszuweichen, was den Zusammenstoß etwas milderte, aber ganz verhindern konnte es ihn nicht. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel. Die russische Familie, in deren Mitte ich stürzte und deren Tisch ich unter mir begrub, sprang entsetzt und laut fluchend auf. Auf der anderen Seite des Ganges erging es einem indischen Pärchen sehr ähnlich, als die Kellnerin deren Tisch mit sich riss.
Die Sorge, Pong zu verlieren, ließ mich meinen ersten Impuls unterdrücken, die Kellnerin zur Rede zu stellen und zu fragen, ob sie noch ganz dicht war und was das sollte. Als ich mich aufrappelte, um Pong zu folgen, waren die anderen Kellner bei mir und ich fand mich inmitten eines Tumultes wieder, in dem russische, indische, englische und Thai-Wörter auf mich einprasselten. Zunächst war ich verwirrt und verwies auf die tölpelhafte Kellnerin, doch nach und nach begriff ich, dass die Kellnerin lediglich auf die Zurufe ihres Kollegen reagiert hatte, einen Zechpreller aufzuhalten.
Ich hatte tatsächlich nicht daran gedacht zu zahlen. Wie auch? Schließlich musste ich Pong aufhalten, aber natürlich musste das für die aussehen, als wollte ich die Zeche prellen und natürlich wollten sie das verhindern. Das konnte man ihnen kaum vorwerfen. Ich sah mich kurz um und ein, dass auch das Chaos, die umgestürzten Tische und Stühle, die Speisen und Getränke auf dem Boden und den Kleidern der Russen und Inder, meine Schuld war.
Ich sah zum Ausgang. Pong war natürlich weg und ich würde sie auch nicht mehr einholen.
Die Wut auf die Kellnerin war schlagartig verflogen und ich begann mich kleinlaut bei den Umstehenden zu entschuldigen.
Die russische Familie war am umgänglichsten. Sie wollten wohl ohnehin gerade gehen und sahen das Ganze eher locker. Nur das Sommerkleid der Frau hatte ein paar Tropfen Kaffee abbekommen und die beiden Kinder im Teenageralter fanden das Ganze eher spannend und feixten. Ich bot an als Entschuldigung ihre Rechnung zu übernehmen, was sie gerne annahmen. Sie bedankten sich sogar kurz und verabschiedeten sich dann.
Das Inderpärchen war nicht ganz so einfach zu besänftigen. Vor allem die kleine, dicke Frau kriegte sich nicht wieder ein und krakeelte durchgehend, als hätte ich versucht sie zu vergewaltigen. Sie gaben sich nicht damit zufrieden, dass ich auch ihre Rechnung übernehmen wollte, sondern forderten Schadenersatz für die Kleidung der Frau, die angeblich nun nicht mehr tragbar war. Dabei waren an der Kleidung der Alten beim besten Willen keine Flecken zu sehen. Sie war lediglich etwas feucht und ich war mir ziemlich sicher, dass es sich dabei allenfalls um Wasser handelte, wenn es überhaupt von dem Unfall kam und die alte Kuh sich nicht einfach nur selbst durchgeschwitzt hatte. Andererseits hätte man auf dem bunten Fetzen, in den sie sich eingewickelt hatte, wohl nicht mal Rotweinflecken ausmachen können.
Während ich noch das Gekeife der Inderin über mich ergehen ließ, waren die Kellner bereits mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Auch mit ihnen war die Sache schnell geklärt. Schnell jedenfalls insofern, dass ich glaubhaft machen konnte, das Zahlen aufgrund des Disputs mit Pong lediglich vergessen zu haben und nicht etwa die Rechnung schuldig bleiben wollte. Deutlich länger dauerte es dann, bis der Kellner unsere Rechnung und die der anderen aufaddiert hatte und ich diese endlich begleichen konnte.
Mir blieben genau 1560 Baht übrig, die ich den Indern anbot. Natürlich war die Frau der Meinung, dass ihr bunter Fetzen sehr viel mehr wert war, aber ihr Gatte bremste sie schließlich, da ich ihm zu verstehen gab, dass es mehr nun mal nicht zu holen gab. Letztlich nahm er das Geld und zog die keifende Alte mit sich aus dem Lokal.
Endlich war die Situation geklärt und ich konnte nach einer gefühlten Ewigkeit Pong folgen. Ich wusste, dass ich mich nicht mehr zu beeilen brauchte. Pong war sicher längst verschwunden. Sie hätte mittlerweile in Bangkok sein können, so lange hatte das Ganze gefühlt gedauert. Den Schauplatz dieser Peinlichkeit wollte ich dennoch so schnell wie möglich verlassen und ging resigniert zum Ausgang. Natürlich sah ich mich auf der Straße nach ihr um, konnte sie aber natürlich nirgends entdecken. Obwohl ich bezweifelte, dass Pong abheben würde, versuchte ich sie anzurufen. Es klingelte, aber wie befürchtet, nahm Pong den Anruf nicht an. Sie schien wirklich zu denken, dass ich sie in Deutschland auf den Strich schicken wollte. Mir war noch immer ein Rätsel, wie Pong überhaupt auf die absurde Idee gekommen war, ich könnte ein Zuhälter sein.
Ich war verzweifelt. Was sollte ich tun? Selbst wenn Pong noch ihre paar Sachen aus dem Hotelzimmer holen wollte, hätte sie dazu nun mehr als genug Zeit gehabt und wäre auch dort sicher längst wieder weg. Zumal ich den Weg dorthin auch noch zu Fuß zurücklegen musste, denn ich hatte ja keinen einzigen Baht mehr in der Tasche. Mangels anderer Ideen beschloss ich dennoch zum Hotel zu gehen.
Bevor ich mich aufmachte, versuchte ich nochmals Pong anzurufen, auch wenn das mehr von dem Impuls getragen war irgendetwas tun zu müssen, als der Hoffnung, dass Pong den Anruf beantworten würde.
Zu meiner Überraschung hörte ich Pongs Klingelton hinter mir und schnellte freudig herum. Doch es war nicht Pong, die mich da anlächelte, sondern die Kellnerin, die ich zuvor angerempelt hatte. Ich verstand erst nicht, warum sie Pongs Handy in der Hand hielt. Dann begriff ich, dass Pong es in der Hektik vergessen hatte. Pong würde also zurückkommen. Wenn nicht zu mir, dann wenigstens zu dem Restaurant - ich brauchte nur zu warten.
Ich grinste, nahm der Kellnerin das Handy ab und bedankte mich höflich.
Erst wollte ich am Eingang warten, um mir die Peinlichkeit zu ersparen, mich wieder zu den anderen Gästen setzen zu müssen, die den Schlamassel und vor allem Pongs Vorwürfe zuvor mitbekommen hatten, entschloss mich aber dagegen, da das Restaurant mehrere Ein- und Ausgänge hatte, unübersichtlich war, und ich keinesfalls riskieren wollte, Pong zu verpassen.
Also begab ich mich wieder an den Tisch, an dem wir gesessen hatten. Der Kellner war zunächst überrascht mich wiederzusehen, fragte dann aber höflich nach meiner Bestellung. Ich zögerte einen Moment, denn ich hatte ja kein Geld mehr. Andererseits konnte ich auch schlecht in einem Restaurant sitzen, ohne etwas zu bestellen. Also nahm ich einen Tee, um mich etwas zu beruhigen. Ich war mir ganz sicher, dass Pong wiederkommen würde. Dann musste sie halt nachher den Tee bezahlen.
Es war kaum zu übersehen, mit welchen Blicken mich die anderen Gäste bedachten und ebenso wenig konnte ich das Getuschel überhören. Selbst die, die Pongs Worte zuvor entweder nicht gehört oder verstanden hatten, waren mittlerweile aufgeklärt worden, dass ich wohl ein Zuhälter aus Deutschland auf Mädchenjagd in Thailand war.
Eine Weile versuchte ich das zu ignorieren, wollte sowas aber letztlich auch nicht auf mir sitzen lassen. Als sogar ein älteres Paar am Nebentisch den Tisch wechselte, um nicht so dicht bei mir sitzen zu müssen, verteidigte ich mich schließlich: "It is not true. I am not a …" ich musste nach der Vokabel suchen "… a closed-holder.“
Aber niemand schien mir zu glauben und so gab ich es auf, schlürfte resigniert meinen Tee und wartete unter den Augen der anderen Gäste darauf, dass Pong zurückkehrte.
Aber Pong ließ sich Zeit. Viel Zeit - und ich begann bereits damit eine Exit-Strategie zu entwickeln, wie ich das Restaurant verlassen konnte, ohne die mittlerweile vier Tees gleich bezahlen zu müssen.