Pongs Handy klingelte. Ich zuckte kurz zusammen und starrte das bimmelnde Ding an, als hätte ich nie zuvor ein Handy in Aktion gesehen. Unschlüssig, ob ich den Anruf beantworten sollte, beobachtete ich, wie es zur Melodie des Klingeltons an meiner Teetasse vorbei in Richtung Tischkante vibrierte. Den Namen des Anrufers konnte ich in Thai-Schrift natürlich nicht entziffern. Rief Pong selbst auf ihrem Handy an, um mit mir zu sprechen? Das konnte durchaus sein - meine Handynummer hatte sie vermutlich nicht im Kopf, und dass ich ihr Handy nicht im Restaurant liegen lassen würde, konnte sie sich auch denken. Da war es nicht unlogisch, dass sie ihr eigenes Handy anrief, um mich zu erreichen.
Andererseits konnte natürlich auch sonstwer anrufen, um mit Pong zu sprechen. Da es sich um ihr Handy handelte, war das mindestens ebenso wahrscheinlich. Das würde sicher ein Thai sein. Wie sollte ich dem erklären, was ich mit Pongs Handy machte und -mehr noch- ihre Privatsphäre verletzte und Anrufe für sie entgegen nahm, die mich ganz sicher nichts angingen?
Der- oder diejenige würde Pong das ziemlich sicher berichten. Wie sollte ich Pong das erklären? Hatte ich nicht bereits mehr als genug Probleme mit Pong zu klären?
Das kleine Bild, dass das Display über der Thai-Krakelei anzeigte, gab keinen Aufschluß über die Identität des Anrufers. Das war ein nichtssagendes Bild irgendeiner Pflanze.
Das Handy bewegte sich unbeirrt auf die Tischkante zu und würde in wenigen Augenblicken herunterfallen. Das erhöhte den Entscheidungsdruck. Annehmen oder nicht?
Schließlich nahm das Handy mir die Entscheidung ab. Es verstummte und kam direkt an der Tischkante zum Stehen. Ich starrte es noch immer an. Es lag regungslos dort, als wartete es darauf, dass ich mich endlich zu einer Entscheidung durchringen würde, während es mich gleichzeitig wegen meiner Unentschlossenheit zu verhöhnen schien.
Im nächsten Moment verlor es die Geduld, schlug wieder an und setzte seinen Weg fort. Es brauchte eine Schrecksekunde, bis ich begriff, dass das Handy nicht mit mir spielte, sondern einfach ein neuer Anruf einging. Dieses Mal war die Entscheidung einfacher: Nach dem Handy greifen, oder es auf den Boden fallen lassen.
Ich Griff zu und nahm den Anruf an.
Sofort kam mir in den Sinn, dass es auch eine dritte Option gegeben hätte, nämlich das Handy einfach nur festzuhalten ohne den Anruf zu beantworten. Aber dafür war es nun zu spät. Was sollte ich sagen? War es Pong, oder doch jemand anderes?
Schon hörte ich eine Frauenstimme, die irgendetwas mir völlig Unverständliches plapperte. "Hello, Pong is not here!" unterbrach ich, woraufhin die Stimme augenblicklich verstummte und eine Pause begann, die sich eine gefühlte Ewigkeit hinzog.
Dann wieder Thai-Geplapper. Ich versuchte es mit Englisch, aber die Dame schien der Sprache nicht mächtig, also winkte ich die Kellnerin heran, reichte ihr das Telefon und bat sie zu übersetzen.
Die Rückfrage, wo Pong war und wann sie wieder erreichbar sein würde, beantworte ich mit: "Pong is not here, but will be back soon."
Die Kellnerin sprach noch etwa eine Minute mit der Anruferin und gab mir dann das Telefon mit den Worten zurück: "OK, she understand now."
Keine 15 Minuten später klingelte Pongs Handy erneut. Ich erkannte das Bild, wusste daher, dass es wieder die gleiche Anruferin war und entschied nicht zu antworten. Ich konnte mich mit ihr ja ohnehin nicht verständigen, die Kellnerin war gerade nicht in der Nähe und schließlich wusste sie ja bereits, dass Pong nicht da war. Sollte sie sich halt etwas gedulden.
Wo blieb Pong nur? Die ließ sich wirklich Zeit. Ich blickte zu einem der Eingänge, in der vagen Hoffnung, dass Pong vielleicht gerade herinkommen würde. Das war natürlich nicht der Fall. Stattdessen blieb mein Blick an einer älteren Thai hängen, die dort stand und telefonierte. Ich kann nicht wirklich erklären warum, aber mir kam sofort der Gedanke, dass es sich dabei um die Anruferin handelte, die gerade Pongs Handy zum Klingeln brachte.
Der Gedanke erhielt weitere Nahrung, als sie, scheinbar einem Signal folgend, in meine Richtung kam. Ganz sicher war ich, als sie wenige Meter vor meinem Tisch ihr Handy vom Ohr nahm und Pongs Handy im gleichen Moment verstummte.
Sie lächelte freundlich zur Begrüßung und sagte etwas. Vermutlich ihren Namen, den ich aber nicht wirklich verstand. Ich tat es ihr gleich und sie setzte sich mir gegenüber.
"Na toll, jetzt kann ich mich mit der Unbekannten anschweigen, während ich auf Pong warte." dachte ich etwas genervt. Als die Thai wieder zu Telefonieren begann, hatte ich kurz die irrationale Hoffnung, dass ich mich geirrt hatte und die Tante jemand anderes suchte, sich nur kurz setzen wollte und gleich wieder verschwinden würde. Aber das war natürlich nicht der Fall. Sie legte auf und lächelte mich breit, freundlich und stumm an.
Wenige Augenblicke später gesellte sich eine weitere, jüngere Thai mit ihrem Kind dazu, was meine Stimmung zunächst weiter verfinsterte. Was sollte der Unsinn? Konnten die nicht woanders auf Pong warten, wenn es denn so dringend war? Wenigstens an einem Nachbartisch?
Mir war die Situation, dort mit denen zu sitzen und schweigend auf Pong zu warten, äußerst unangenehm. Entsprechend froh war ich, als sich herausstellte, dass die jüngere Thai etwas Englisch sprach.
Die Verständigung war nicht ganz einfach, da ihr Englisch sehr rudimentär war, aber nach und nach konnte ich heraushören, dass sie nicht viel Zeit hatten, um auf Pong zu warten und eigentlich gleich wieder los mussten.
Ich wollte natürlich nicht, dass man mir meine Erleichterung und Freude darüber anmerkte, versuchte daher das höflich zu überspielen und faselte irgendwas dahingehend, wie schade das wäre, Pong sicher gleich wiederkommen würde und sie sich nur einige Minuten gedulden mussten.
Hätte ich auch nur geahnt, wer mir da gegenüber sitzt, hätte ich ihnen natürlich gesagt, wie lange ich dort schon wartete und alles andere als sicher war, dass und wann Pong wiederkommen würde. Aber das hatte ich nicht getan, weil ich ja nichts geahnt hatte. Und weil ich eben nichts geahnt hatte, reagierte ich auch nur mit einem beiläufigen Lächeln zum Abschied, als sie sich erhoben und erklärten, dass sie nun wirklich gehen mussten.
Die jüngere Thai wäre fast gestolpert und hingefallen, weil sich ihre Kleine an ihr Bein geklammert hatte. Sie beugte sich zu ihr runter, sagte ihr irgendwas und nahm sie auf den Arm. Ich war etwas perplex, als sie mir die Kleine auf den Schoß setzte und geradezu entsetzt, als ich bemerkte, dass sich die beiden zum Gehen wandten. Die kleine strampelte und wollte natürlich mitgehen. Welches Kind bleibt auch schon ruhig bei einem fremden Mann sitzen, wenn die Mutter weggeht, fragte ich mich noch, während ich die Kleine festhielt, damit sie nicht nicht herunterfiel.
Als ich die Kleine fest im Griff hatte und wieder aufsah, waren die beiden schon einige Meter entfernt und ich rief ihnen hinterher:"Hey, where you go?"
Die Jüngere drehte sich fragend um: "Wait Pong ... time, no have ... you take care Off ... thank you."
Ich versuchte mich zu erinnern, was wir vorhin gesprochen hatten. Ich hatte kaum etwas verstanden. Hatte sie mir das vorhin gesagt? Ich wusste es nicht. Ziemlich sicher war aber der Name Off nicht gefallen. Das wäre mir aufgefallen. Ich sah die Kleine an. Sie war niedlich. Ich lächelte sie an. Sie strampelte wieder, versuchte sich von meinem Schoß zu befreien und fing nun an zu weinen. Ich sah auf und sagte der Thai, dass das so nicht ginge, konnte die beiden aber nur gerade noch im Ausgang verschwinden sehen.
Ich weiß nicht, wer von uns beiden entsetzter war - Off oder ich. Der Lautstärke nach zu urteilen ganz klar Off, denn als sie die beiden bekannten Gesichter nicht mehr sehen konnte, setzte ein panisches und herzzereißendes Weinen und Schreien ein. Sie wand sich verzweifelt und versuchte mir zu entkommen.
Für einen kurzen, schändlichen Augenblick war ich versucht sie einfach los und den beiden nachlaufen zu lassen. Wenn sie Glück hatte, würde sie die beiden vielleicht noch einholen, was gleichzeitig mein Glück gewesen wäre. Die konnten doch nicht ernsthaft die Kleine hier bei mir abladen. Waren die noch ganz dicht? Panik stieg in mir auf und ich begann zu schwitzen, was vielleicht auch ein wenig von dem Kampf mit der kleinen Off herrührte.
Ich versuchte sie zu beruhigen - mit mäßigem Erfolg. Wie sollte das auch gehen? Sie verstand mich ja nicht. Ich wusste, dass Kinder in dem Alter bereits einiges verstanden, wenn man mit ihnen sprach, aber das galt natürlich nur, wenn man auch in ihrer Muttersprache sprach.
Off gab alles und schrie das ganze Restaurant zusammen. Gott sei Dank waren mittlerweile die meisten Gäste gegangen, die Pongs Abgang zuvor mitbekommen hatten. Nur das ältere Paar, dass den Tisch gewechselt hatte, war noch da, beäugte die Situation skeptisch und diskutierte ganz offensichtlich darüber.
Hoffentlich kamen die nicht auf die tolle Idee die Polizei zu rufen. Vermutlich würden sie ihr nach deren Eintreffen irgendwas von einem Zuhälter aus Deutschland auf Mädchenjagd erzählen und ich konnte dann versuchen, zu erklären, was ich hier allein in Pattaya mit einem schreienden Kleinkind auf dem Schoß vorhatte.
Meine Panik nahm zu, irgendwas musste ich unternehmen. Nur was?
Off wurde etwas ruhiger. Nicht leiser, aber ruhiger. Das Strampeln stellte sie fast ganz ein, das Weinen und Schreien hingegen nicht. Ich war mit nicht ganz sicher, ob meine Beruhigungsversuche ein wenig gefruchtet hatten, sie erschöpft war, oder einfach nur eingesehen hatte, dass sie nicht entkommen konnte. Ich winkte die Kellnerin hinzu und bat sie der Kleinen verständlich zu machen, dass ihre Mama bald käme und wir hier auf sie warten würden. Sie schien zu verstehen und das Weinen ließ etwas nach und klang auch bei weitem nicht mehr so verzweifelt wie noch einige Augenblicke zuvor.
Als die Kellnerin auch noch einen Eisbecher brachte, verstummte es ganz. Off war nun damit beschäftigt das Eis zu etwa gleichen Teilen auf meine Hose, ihr T-Shirt und in ihren Mund zu befördern. Natürlich wäre es sehr viel einfacher und vor allem sauberer gewesen sie zu füttern, aber ich war erstmal heilfroh, dass sie nicht mehr weinte und so war sie auch ganz sicher deutlich länger beschäftigt. Außerdem schien sie Spaß dabei zu haben. Sollte sie mit dem Eis ruhig etwas rumsauen. Mir war es egal. Ich beschränkte mich darauf hin und wieder den Löffel vom Boden aufzuheben und zu säubern und beobachtete, wie Off eifrig kleine Portionen Eis in Richtung Mund jonglierte.
Die beiden Thai-Frauen hatten eine Tüte auf einem der Stühle zurückgelassen, deren Inhalt ich nun inspizierte. Außer etwas Kleidung für Off und einer Puppe war noch etwas Spielzeug-Kleinkram darin. Genug, um Off eine Weile zu beschäftigen, wenn sie mit dem Eis fertig war. Ich entspannte mich. Wäre doch gelacht, wenn ich als ausgebildeter Pädagoge nicht mit Off klarkommen würde bis Pong wieder auftauchte.
Wenn Pong wieder auftauchte. Was, wenn Pong nicht wieder ins Restaurant kam? Dann saß ich allein mit einem kleinen Thaimädchen in einem Restaurant mitten in Pattaya fest, wo es von Perversen nur so wimmelte. Beobachtet von den beiden Alten, die mich mindestens für einen Zuhälter hielten, und Kellnern, deren Rechnung ich nicht würde bezahlen können.
Aber darum musste ich mich später kümmern. Off warf glucksend den Löffel zu Boden und sah mich fröhlich lächelnd an in der Erwartung, dass ich ihn wieder aufheben würde. Nele-Imkes Schwester hatte ein neues Spiel erfunden: 'Malte holt das Stöckchen!' Ich musste schmunzeln, denn die beiden waren ganz offensichtlich verwandt.