Ein sanftes Stupsen holte ihn zurück in die Realität.
„Wir sind gleich in Buriram, Jack. Bist du hungrig?“
Jack benötigte einige Sekunden sich wieder zu orientieren.
„Ich könnte eine Kleinigkeit vertragen. Ich würde gerne einmal eine dieser angeblich so köstlichen Nudelsuppen probieren.“
Chalitah lächelte ihn nur ein und bekundete mit einem Nicken ihres Kopfes Zustimmung. Der Zug war mittlerweile im Bahnhof angekommen und zusammen mit anderen Reisenden stiegen sie aus. Jack empfand es als fast unerträglich heiß, der Himmel war strahlend blau und keine Wolke trübte ihn. Er folge Chalitah. Jack war auch hier auf diesem Bahnhof aufgefallen, dass er sehr gepflegt aussah, Blumenbeete und ein sauberer Bahnsteig. Es schien eine Eigenart in Thailand zu sein, dass die staatliche Gesellschaft dafür Sorge trug, die Bahnhofe so zu gestalten, etwas, was in Deutschland so wohl nicht umzusetzen war.
Vor dem Bahnhof befand sich in einem Verteilerkreis eine Turmuhr, links und rechts des Vorplatzes gab es zahlreiche Restaurants derart, wie er es auch schon in Bangkok gesehen hatte. Fahrer von Tuk Tuks waren eifrig bemüht, Fahrgäste zu bekommen, was in Anbetracht der ausgestiegenen Reisenden kein Problem darstellte. Jack war allerdings erstaunt zu sehen, dass es auch Fahradrickschas gab, meist gefahren durch ältere, recht hager wirkende Männer, was in Jack die Frage aufkommen ließ, woher die überhaupt noch die Kraft nahmen, zwei bis drei Passagiere nebst Gepäck zu befördern.
„Was verdienen die alten Knaben mit so einer Rickscha?“
„Das hängt von der Entfernung ab, ich vermute mal so 20-50 Baht für eine Strecke, viel wird es allerdings nicht sein, was da im Laufe eines Tages zusammenkommt. Der Beruf steht kurz vor dem Aussterben, das ist zumindest mein Eindruck.“
Sie hatten die Hauptstraße erreicht, Jack schaute nach links und wollte gerade einen Schritt auf die Straße machen, als Chalitah ihn zurückhielt.
„Jack, Linksverkehr, nicht vergessen!“
Unbewusst war Jack wieder in alte Gewohnheiten zurückgefallen.
„Sorry, das ist etwas, was ich mir wirklich verinnerlichen sollte!“
„Ganz meiner Meinung, es wäre wichtig für deine Gesundheit!“
Zusammen überquerten sie die Straße und Chalitah führte ihn in ein kleines Restaurant, zumindest hielt es Jack dafür. Die gesamte Front war zur Straße hin offen und der Innenbereich war mit einfachsten Blechmöbeln und Plastikstühlen ausgestattet. Lediglich vorne befand sich eine einfache Kochstelle, an der eine hagere Frau mit langen schwarzen Haaren in einem beständigen Rhythmus Plastikschalen mit Fleisch, Nudeln, Gemüse, Gewürzen und Brühe befüllte, die dann von einem Mädchen zu den Tischen gebracht wurde.
Chalitah gab bei diesem Mädchen ihre Bestellung auf und es dauerte nur wenige Minuten, bis jeweils eine Schale mit einer wohlriechenden Suppe vor ihnen stand.
Auf dem Tisch stand ein kleiner Korb aus Plastik mit Gewürzen und Jack sah zu, wie Chalitah sich daran bediente. In Anbetracht des Pulvers aus Chili schaute Jack etwas bedenklich zu Chalitah.
„Jack, Chili solltest du nur sehr wenig nehmen. Zucker und Fischsauce geben eine gute Mischung und passen geschmacklich zu diesem Süppchen. Wenn du es etwas saurer magst, im letzten Schälchen ist Essig.“
Jack nahm eine geringe Menge Chili, Zucker und Fischsauce, verrührte es und kostete vorsichtig. Er war überrascht über den intensiv köstlichen Geschmack. Chalitah beobachtete ihn genau und schmunzelte.
„Jack, es gibt meiner Meinung nach nur zwei Suppenküchen in Buriram, deren Suppe wirklich köstlich und empfehlenswert ist. Dies hier ist eine davon, die andere ist in der Nähe des Marktes. Den werden wir allerdings erst morgen besuchen.“
Jack genoss die kleine Mahlzeit. Das zur Mahlzeit gereichte Wasser, serviert in kleinen Blechtassen mit zerstoßenem Eis betrachtete er allerdings wieder skeptisch.
„Keine Sorge Jack, das Wasser kannst du unbesorgt trinken. Es ist einwandfrei!“
Sie hatten ihre kleine Mahlzeit beendet. Auch wenn er nur wenig Chilipulver genommen hatte, stand ihm der schweiß im Gesicht und die Mittagshitze tat ihr übriges dazu.
„Mir ist nach einer Dusche. Lass uns ins Hotel!“
„Tja, mein Lieber, das mit dem Hotel läuft nicht mehr. Wir nehmen uns ein Tuk Tuk und fahren nach Hause.“
Jack schaute ob dieser Eröffnung etwas erstaunt.
„Ich hatte dich bereits vorgewarnt. Mit dem verhätschelten Leben ist es jetzt vorbei. Das, was wir seit unserer Fahrt von Bangkok aus erlebt haben, waren nur einleitenden Präliminarien.“
Jack schaute etwas verwundert, erinnerte sich aber auch an Chalitahs Ankündigungen, die sie bereits in Bangkok gemacht hatte. Er zog es vor zu schweigen. Chalitah übernahm die Rechnung. Sie verließen das Restaurant und gingen zurück zum Bahnhof. Der Zug war schon lange weg und das zuvor hektische Treiben war eine zwangsläufigen Ruhe gewichen, das Warten auf den nächsten Zug.
Chalitah steuerte direkt auf ein Tuk Tuk zu und sprach kurz mit dem Fahrer, der nach einem kurzen Wortwechsel wohl dem von Chalitah gewünschten Preis akzeptierte.
„Wohin fahren wir jetzt? Ich hoffe, nicht zu weit?“
Jack hatte keine Vorstellung davon, was Chalitah vorhatte, geschweige denn davon, wie er sich dieses Zuhause vorstellen sollte. Es war ihm ein unbequemes Gefühl, fernab einer jeglichen, städtischen Infrastruktur zu wohnen.
„Es ist nicht weit, nur etwa 8 km außerhalb von Buriram, ein kleines Dorf direkt an der Hauptstraße.“
Das Tuk Tuk fuhr entlang der Bahnlinie, kreuzte sie und wenig später befanden sie sich schon außerhalb von Buriram auf einer viel befahrenen Hauptstraße. Für Jack war es das erste Mal, dass er sich außerhalb einer thailändischen Stadt auf einer Hauptverkehrsstraße bewegte. Das Tuk Tuk fuhr mit dröhnendem Motor und die hinter dem Auspuff verwirbelnde Luft wehte ab und an die stinkenden Abgase in den Bereich, in dem Chalitah und Jack saßen. Zumeist bewegte ihr Fahrer sein Gefährt auf dem Randstreifen, wich nur dann gänzlich auf die Straße aus, wenn Fußgänger oder langsamer fahrende Motorräder das erzwangen. Immer wieder wurden sie von schnell fahrenden LKWs und natürlich auf PKWs überholt, aber bei den LKWs hatte Jack jedes Mal ein mulmiges Gefühl in Anbetracht der riesigen Räder, die sich an seinem Blickfeld vorbeischoben. Letztendlich war er froh, als der Fahrer die Fahrt verlangsamte, entgegenkommenden Verkehr passieren ließ und dann rechts in eine Seitenstraße einbog. Schlagartig wurde es um ihn herum ruhiger.
„Das hier ist Baan Sawai Sor, hier werden wir die nächste Zeit verbringen!“
Jack musste schlucken. Die Häuser, innerlich sträubte er sich dagegen, sie als solche zu bezeichnen, waren einfachster Natur und bei einigen hatte er Zweifel daran, dass sie den nächsten Sturm trotzen könnten, ohne Schaden zu nehmen. Einige Anwohner betrieben wohl kleine Geschäfte, einfachste Hütten mit noch einfacherer Einrichtung, in denen Waren des alltäglichen Gebrauchs angeboten wurden.
„Chalitah, hier…“
Chalitah nahm ihm das Wort aus dem Mund.
„Hier werden wir die nächste Zeit verbringen, Jack, finde dich damit ab!“
Chalitahs Worte hatten einen gewissen scharfen Unterton, der Jack instinktiv daran hinderte, zu widersprechen. Chalitah gab dem Fahrer einen Hinweis und der bog daraufhin in einen schmalen und unbefestigten Seitenweg ein. Der Rest der Fahrt verlief recht holprig und das Tuk Tuk stoppte vor einem einfachen Steinhaus. Kinder in Lumpen gekleidet, zumindest kam es Jack so vor, hatten das Tuk Tuk schon lange vorher gehört und warteten neugierig auf die Ankömmlinge. Chalitah stieg zuerst aus und wurde sofort von den Kindern umringt und herzlich begrüßt. Jack war von den Eindrücken gefangen. Er saß immer noch reglos im Tuk Tuk und wusste überhaupt nicht, wie er sich verhalten sollte. Zu neu, zu fremd war das alles, was da auf ihn an Impressionen einstürzte.
Eine ältere Frau erschien im Türrahmen, erkannte Chalitah ging auf sie zu und blieb vor ihre stehen. Chalitah grüßte sie auf thailändische Art und Weise respektvoll mit einem Wai. Erst nach diesem Begrüßungsritual umarmte sie die Frau. Sie hielten sich ein paar Sekunden, bevor sie sich wieder voneinander lösten. Chalitah wandte sich Jack zu und lachte ihn an. Der erschrak erst, als er die Tränen sah, die Chalitah über die Wangen liefen.
„Was ist los? Warum weinst du? Wer ist das?“
Jack war immer noch zu verwirrt, um die Schlüsse aus dem geschehen zu ziehen.
„Jack, alles okay! Das ist meine Mutter. Ich freue mich, sie gesund wiederzusehen. Mach dir keine Sorgen, aber nach fast einem Jahr solltest du es verstehen, welche Gefühle hochkommen, wenn man seine alte Mutter wiedersieht! Steig aus und begrüße sie!“
Etwas unbeholfen und durch die Situation verunsichert, stieg Jack aus dem Tuk Tuk und ging unter den neugierigen Blicken der mittlerweile Versammelten zu der alten Frau. Er versuchte es Chalitah gleichzutun, legte seine Hände zusammen und grüßte ihre Mutter so, wie er es sich bei Chalitah abgesehen hatten. Sein Bemühen wurde von den umgebenden Kindern mit lauten Lachen quittiert, was nicht gerade dazu beitrug, dass er sich sicherer fühlte. Chalitahs Mutter nickte nur mit dem Kopf, lächelte ebenfalls, aber wie Jacks Eindruck war, eher verständnisvoll, griff nach Jacks Arm und zog ihn ins Haus. Chalitah folgte ihm, während ein junger Bursche ihr Gepäck nahm und es ebenfalls ins Haus brachte.