Nele-Imke verschwand wortlos im Bad. Sie war ganz offensichtlich stocksauer.
Hätte ich ihr auch noch von Noi gebeichtet, sie hätte vermutlich die Atmung eingestellt, um den Grad der Stille noch zu steigern. Nele-Imkes Art Differenzen auszutragen, hatte mich zwar immer genervt, aber auch nie ihre Wirkung verfehlt. Dieses Mal wirkte es jedoch nicht. Zwar war ich plötzlich wieder nüchtern, aber sogar etwas erleichtert.
Ich stritt nicht gern mit ihr und fühlte mich alles andere als wohl damit, wenn sie sauer auf mich war.
Aber: Sie würde nicht fragen, warum ich getrunken hatte, obwohl das sonst gar nicht meine Art war. Und sie würde auch nicht fragen, was ich an dem Tag sonst getan hatte. Sie würde eine Weile gar nicht mehr mit mir sprechen und ich musste weder lügen noch beichten. In dem Moment war ich zum ersten Mal froh über ihr Schweigen.
Verständlich, schließlich war es ja auch das erste Mal, dass ich nicht ehrlich zu ihr war. Das erste Mal, dass ich sie betrogen hatte. Das erste Mal, dass eine Frau mein Glied im Mund hatte. Das erste Mal, dass ich mit einer anderen Frau als Nele-Imke intim war.
Aber was genau hatte ich da nun eigentlich mit Noi gemacht?
Hatte ich sie genötigt, missbraucht, erniedrigt, gedemütigt, geschändet und ausgenutzt? War ich ein Vergewaltiger? Ein Sextäter? Oder hatte ich sie doch irgendwie verführt, beglückt, erfreut und erregt? Dann war ich sowas wie ein Ehebrecher und Betrüger. War sie eine Hure und ich ihr Freier?
Ich hatte noch immer keine Ahnung was da eigentlich passiert war und fand einfach keine schlüssige Erklärung für Noi's verhalten.
Eine Hure war sie sicher nicht. Das war ganz klar ein normaler Massage-Salon. Ich hatte ja selbst eine ganz normale Massage dort gehabt und auch andere Kunden wurden nur massiert. Wäre es eine Bar, ein Bordell, oder eine dieser GoGos gewesen, wäre alles klar gewesen. aber so war es ja nicht. Und sie hatte ja auch gar nicht nach Geld gefragt.
Dabei fiel mir ein, dass ich die Massage gar nicht bezahlt hatte. Ich musste also nochmal dort hin zurück. Das würde peinlich werden. Sehr peinlich.
Aber damit konnte ich mich in dem Moment nicht beschäftigen. Erstmal musste ich verstehen.
Huren bieten Sex gegen Geld. Das war sehr einfach und der Kern des Geschäftsmodells Prostitution. Kein Geld, keine Prostitution, also konnte Noi keine Hure und ich kein Sextourist sein.
So weit, so klar und die Erkenntnis, wenigstens keiner dieser Schänder zu sein, erleichterte mich für einen Moment. Aber auch nur für einen Moment, denn die drängende Frage kam schnell auf: "Welche Möglichkeiten blieben?"
Letztlich konnte ich es drehen und wenden wie ich wollte: Ich war entweder ein Vergewaltiger oder ein Betrüger; oder irgendwas dazwischen, oder beides.
Ich ertappte mich dabei, dass ich hoffte "nur" ein Betrüger zu sein. "Nur ein Betrüger". Die Worte hallten dröhnend in meinem Kopf. Hätte mir vor wenigen Tagen jemand gesagt, ich würde hoffen "nur Nele-Imke betrogen zu haben", weil das das kleine Übel wäre, ich hätte denjenigen ausgelacht und für verrückt erklärt. Nun klang diese Möglichkeit für mich so attraktiv, dass ich mich schon fragte, ob ich mir das Ganze nicht nur schön redete.
Ich hatte Nele-Imke betrogen. Ich hatte die Frau, die ich liebte und bewunderte und mit der ich den Rest meines Lebens verbringen wollte, hintergangen und ihr Vertrauen missbraucht. Und diese Möglichkeit erschien mir ernsthaft als zu schön, um wahr zu sein.
Aber welche Wahl hatte ich denn schon als mir das Ganze schön zu reden? Schließlich zog es einem ja schon bei dem Gedanken an die Alternative die Eingeweide zusammen.