Das Telefon klingelte und ich nahm an. Nele-Imke. Ich hörte ihr nicht richtig zu, saß immer noch wie paralysiert auf dem Bett und sah zu, wie Pong sich ankleidete und ihre wenigen Sachen zusammensuchte und einpackte. Ich wusste nichts zu sagen.
Ganz weit weg, wie aus einer anderen Welt, nahm ich Wortfetzen von dem wahr, was Nele-imke sagte. Ich quittierte sie automatisch mit einem zustimmenden Brummen, ohne wirklich hinzuhören.
"… heiß hier … 3 Stunden gewartet … Botschaft … " - "hhmmm“
Pong hatte mittlerweile alles beisammen. Sie weinte noch immer, als sie zur Tür ging.
"… Gentest … ist in Englisch … Fachchinesisch … gar nicht so einfach ...“ - "hhhmm, gut“
Pong winkte noch kurz und warf mir einen Kuß zu, bevor sie die Tür schloß. Ich konnte noch immer nichts sagen und meine Tränen tropften mir auf die Schenkel.
"neunundneunzigkommaneunsechssieben … hoffentlich nun zufrieden ...“ - "hhmmm, super … Moment! Sag‘ das nochmal.“
"Was? Den genauen Prozentwert?“ fragte Nele-Imke nach.
"Alles!“ antwortete ich hastig. "Hast du mir nicht zugehört? … Also: Ich war bei der Botschaft und habe da ..“ begann Nele-Imke.
"Das mit dem Gentest. Nur das mit dem Test.“ unterbrach ich sie barsch.
"Malte, jetzt hör aber auf. Reicht dir das immer noch nicht? Jetzt komm‘ mir nicht damit, dass es nicht 100%ig ist und ein paar Promille oder so fehlen. Ich versteh‘ wirklich nicht, warum ...“ sagte Nele-Imke, aber ich unterbrach sie wieder.
"Was genau steht da? Kannst du mir nicht einfach sagen, was genau da steht? Ist das so schwer?“ polterte ich.
Nele-Imke schnaubte kurz, antwortete dann aber: "Ist ja gut. Was kann ich dafür, wenn du mir nicht zuhörst? Kurz und knapp: Die beiden Personen, von denen die eingereichten Proben stammen, sind mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,967% blutsverwandt. Genau wie ich immer gesagt habe.“
Ich traute meinen Ohren nicht. Das konnte nicht sein. Wie sollte das möglich sein? War Pong tatsächlich Wolfgangs Tochter? Ich begriff nicht, wie das möglich sein konnte, wie ich mich so getäuscht haben konnte. War das Ergebnis wirklich zuverlässig? Konnte da jemand getrickst haben?
"Bist du dir ganz sicher?“ hakte ich nochmal nach.
"Ja, bin ich. Lesen kann ich noch.“ antwortete Nele-imke patzig.
Ich konnte es nicht fassen. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Pong hatte doch gerade gebeichtet, dass sie gelogen hatte. Hatte sie etwas anderes gemeint? Und wenn ja, was sollte das sein?
Dann realisierte ich, dass Pong gerade gegangen war und ganz sicher nicht wiederkommen würde. Panik ergriff mich, ich sprang hektisch auf und hastete zur Tür. Leider etwas zu hastig, denn ich blieb mit dem kleinen Zeh am Bein eines im Weg stehenden Stuhles hängen. Stand dieser Scheißstuhl schon immer da?
Für einen Moment zuckte der Schmerz bis in den Oberschenkel und ich taumelte gegen den Wandspiegel, der meinem Beispiel folgte und kurz nach mir zu Boden stürzte.
Mit einem Satz war ich wieder auf den Beinen. Den Schmerz in meinem Fuß ebenso ignorierend wie die herumliegenden Scherben, riss ich die Tür auf und humpelte eilig auf den Flur. Pong wartete noch auf den Fahrstuhl, etwa 30 Meter entfernt. "Bitte, bitte, lass' den Fahrstuhl jetzt nicht kommen ...", war mein einziger Gedanke. Aber darauf konnte ich mich natürlich nicht verlassen und rief laut nach ihr, während ich mit einer Mischung aus einbeinigem Hüpfen und buckeligem Humpeln versuchte, sie einzuholen.
Zu allem Überfluss kam mir nun auch noch ein wohlgenährtes Rentnerpärchen auf Urlaub entgegen, dass mir nicht nur den Weg, sondern auch den Blick auf Pong versperrte. Nur für ein oder zwei Sekunden, aber die bloße Angst, Pong könnte in diesem Moment mein Rufen nicht hören und für immer im Fahrstuhl verschwinden, verkrampfte mir die Eingeweide. Instinktiv hasste ich die beiden, zumal sie mich auch noch blöde anglotzten, als sie endlich den Weg frei machten.
"Noch nie einen humpelnden Mann gesehen? Such dir 'ne Thai, dann ist hier wenigstens Platz auf dem Gang." fauchte ich den Mann an, als ich zwischen beiden hindurchstolperte.
Ich hatte natürlich keine Ahnung, ob sie mich überhaupt verstanden, aber das interessierte mich auch nicht. Ebenso ahnte ich natürlich nicht, dass sie mich keineswegs wegen meines Humpelns anglotzten, sondern weil ich keine Zeit gehabt hatte, mir etwas überzuziehen. Wäre mir das in dem Moment bewusst gewesen, hätte ich ihre Blicke wohl eher verstanden und wäre gnädiger mit ihnen gewesen, aber das war jetzt unwichtig.
Noch bevor ich es sah, hörte ich das Grauen.
Der normalerweise eher leise Gong, der die Ankunft des Fahrstuhls signalisierte, dröhnte wie eine Kirchturmglocke. Kaum verstummt, öffnete sich der Fahrstuhl und verschlang Pong. "POOONG!" reif ich verzweifelt, dann schlossen sich die Fahrstuhltüren. Von nackter Panik ergriffen, versuchte ich die letzten Meter mit einem verzweifelten Hechtsprung zu überwinden. Mein Fuß schmerzte beim Absprung, als würde er abgerissen. Vielleicht deshalb sprang ich zu kurz, was ich noch in der Luft liegend realisierte. Der Aufprall war hart und ein höllischer Schmerz schoss durch meinen Brustkorb. Ein oder zwei Meter rutschte ich noch über den Teppichboden, dann kam ich zum Stillstand.
Mein Brustkorb schien explodiert zu sein. Jeder Atemzug wurde von stechenden Schmerzen begleitet. Zudem schien der Teppich diverse Abschürfungen verursacht zu haben. Es fühlte sich an, als würde meine rechte Seite mit unzähligen Feuerzeugen gefoltert.
Das alles nahm ich jedoch nur beiläufig wahr. Mein Blick war gebannt auf meine rechte Hand gerichtet, die es in den Spalt der Fahrstuhltüren geschafft hatte. Mir Schoß kurz die Frage durch den Kopf, ob Fahrstühle in Thailand auch diesen Sicherheitsmechanismus haben, der die Türen bei Widerstand wieder aufgehen ließ, oder ob mir der Fahrstuhl nun die Hand abtrennen würde. Ich wusste es nicht und es war mir auch egal. Sollte ich meine Hand verlieren, dann wäre dem halt so. Viel schlimmer wäre, dass ich dann auch Pong verlieren würde.
Dann spürte ich, wie die Fahrstuhltüren mein Handgelenk zusammendrückten. Der Druck wurde stärker und ich verlor die Hoffnung, dass Thyssen Krupp eine Dependance für Fahrstuhltechnik in Thailand haben könnte.
Plötzlich zogen die Türen sich zurück und gaben meine Hand frei. Ich lachte und weinte erleichtert wie ein kleines Kind und kroch auf allen Vieren zu Pong in den Fahrstuhl.
Nun bahnten sich auch die Schmerzen mit voller Wucht ihren Weg. Keuchend und gekrümmt lag ich zu Pongs Füßen und umklammerte diese instinktiv. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Nun würde alles gut. Was auch immer das Problem war, wo auch immer das Missverständnis lag, nun würden wir es doch noch klären können, nun würde ich vielleicht doch noch mit Pong zusammen sein können. Das Atmen fiel mir ob der Schmerzen schwer, dennoch blickte ich strahlend vor Freude und Erleichterung zu Pong auf.
Doch Pong schien geschockt und sah mich entsetzt an. Freude war in ihrem Gesicht jedenfalls nicht zu erkennen, was mich etwas verunsicherte. Ich war noch dabei meine ersten Worte zu sortieren, als mich ein greller Schrei zusammenzucken ließ.
Wir waren in der Lobby angekommen und zwei Touristinnen wichen erschrocken einige Schritte vom Fahrstuhl zurück. Es waren vermutlich Backpackerinnen, die gerade eingecheckt hatten. In die neben ihnen stehenden Rucksäcke hätten sie wohl problemlos selbst hinein gepasst. Erst jetzt realisierte ich das Bild, dass Pong und ich bieten mussten.
Ein splitternackter Mann, der offensichtlich verletzt, blutend und keuchend, weinend und mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht, aber dennoch lächelnd die ebenso nackten Beine eines entsetzt dastehenden Thai-Engels umklammerte, war sicher ein Anblick, den nur die wenigsten erwarteten, wenn sich eine Fahrstuhltür öffnete.
Ich war völlig überfordert und wusste nicht worauf ich mich zuerst konzentrieren sollte. Unfähig irgendetwas zu tun, registrierte ich gerade noch wie ein Hotelmitarbeiter von der Rezeption aufmerksam wurde und auf uns zusteuerte, als Pong den Fahrstuhl wieder in Gang setzte und wir zurück in unser Stockwerk fuhren.
Dort empfing uns das Touri-Pärchen mit lautem Geschimpfe. Sie hatten das Geschehen der letzten Minuten nicht vergessen und das einzige was sie daran verstanden hatten, war offenbar meine Empfehlung gewesen, die Alte gegen eine Thai zu tauschen. Von Pong gestützt, legte ich den Weg zum Zimmer langsam wie in Zeitlupe zurück, begleitet von dem ununterbrochenen Gezeter der Touri-Zicke. Sie schien von meinem Vorschlag ganz und gar nicht begeistert gewesen zu sein. Bei ihm war ich mir da aber gar nicht so sicher, denn er sagte fast nichts, was schließlich auch ihr auffiel. "Jetzt sag' doch auch mal was Georg" versuchte sie ihn durchweg anzustacheln. Aber Georg schien gar nicht böse zu sein. Vielleicht hatte ich ihn ja auf eine Idee gebracht und seine keifende Alte über die dreißig Meter neben der engelsgleichen Pong zu sehen, ließ ihm meinen Vorschlag sicher mehr als nur nachdenkenswert erscheinen.
Das war auf eine bedrückende Art seltsam. Ich konnte kaum gehen, da einige Scherben des Spiegels mir noch in den Füßen steckten, konnte kaum atmen, da ich mir vermutlich eine oder mehrere Rippen geprellt hatte und trotzdem hätte ich vor Freude singen können.
Georg war körperlich offensichtlich in guter Verfassung, aber ich glaubte in seinen Augen eine tief traurige und gequälte Seele zu erkennen. Ich empfand tiefes Mitleid mit Georg und bedauerte meinen Spruch ehrlich, denn dieser Gedanke würde ihn vielleicht nicht mehr loslassen und ihm seine Pein nur noch mehr bewusst machen.
Endlich im Zimmer angekommen, legte ich mich auf das Bett und Pong bestellte Verbandsmaterial und Pflaster bei der Rezeption, die auch direkt gebracht wurden. Dann begann sie mir die Scherben herauszuziehen und die Wunden zu versorgen, rieb die Schürfwunden mit irgendeiner Salbe ein und kehrte schließlich die Spiegelscherben auf dem Boden zusammen. Sie war bei allem sehr vorsichtig, fürsorglich und zärtlich, sagte aber kaum ein Wort.
Dann endlich, nachdem alles erledigt war, setzte sie sich zu mir aufs Bett und fragte: "What now?"