Ein Mann an einem Nachbartisch, den ich gar nicht bemerkt hatte, sprach mich in meinen Dialekt an. Die Schweizer meinen oft, sie müssen ganz langsam sprechen,
wenn sie einen Berner kennenlernen.
Er eröffnete mir, dass er aus Sankt Gallen sei, und ich nahm das ohne grosser Begeisterungsausbruch zur Kenntnis.
Er hiess Rolf und es interessierte ihn nicht, wo ich wohne, sondern stellte mir bald eine für ihn brennende Frage.
„Weißt Du, wie es ist, wenn Dein Vorgesetzter eine Frau ist?“ fragte er mich.
Ich meine das zu wissen.
Eine Frau als Vorgesetzte zu haben hat den grossen Vorteil, dass sie nie
unverhofft neben mir am Pissoir steht und ein berufliches Gespräch beginnt.
„Nein,“ log ich höflich, fasste aber in meinem Kopf unwillkürlich meine Erfahrungen mit weiblichen Vorgesetzten zusammen.
Vorgesetzte Frauen sind in der Regel viel schneller als ihre männliche Kollegen, sie sind blitzgescheit und bestens ausgebildet.
Problemsituationen beleuchten sie vorzugsweise formaljuristisch, betrachten sie als Herausforderung
und lieben das Spiel mit möglichen Varianten, von denen sie dann in der Regel die Komplexeste bevorzugen.
Diesen Entscheid verfolgen sie mit grosser Beharrlichkeit, ohne Rücksicht auf die Meinungen ihrer Mitarbeitenden.
Weibliche Vorgesetzte denken meistens materialistisch und blenden menschliche Komponenten aus.
Einen gefällten Entscheid machen sie niemals rückgängig, weil sie befürchten, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Sie haben ein intimes Verhältnis zur Macht, und das mag mit ein Grund sein, weshalb sie in leitender Position
diese mit allen Mitteln verteidigen: bei der Durchsetzung ihrer Interessen sind sie in der Wortwahl nicht zimperlich,
und wenn es um die Ergreifung von Massnahmen geht, werden diese ohne grossem Aufheben knallhart und gefühllos umgesetzt.
„Es ist der Untergang,“ flüsterte er und näherte seinen Kopf meinen, „eine Frau als Chefin ist das Ende.“
Ich antwortete, dass das doch nicht ganz so schlimm sein könne, und erkundigte mich nach
dem Grund seiner Meinung. Das hätte ich vielleicht lieber sein sollen, aber der Abend war
schwül und das Bier war kühl, also was soll’s, dachte ich, und liess seine Stimme plätschern.
Er ist Bankkaufmann gewesen, erzählte er, über 25 Jahren im Backoffice angestellt bei einer
der grossen Schweizer Banken – nicht jene mit drei, sondern jene mit zwei Buchstaben
im Namen. Er war zuständig für Zahlungen, die aus dem Ausland eintrafen, er musste sie
auf ein Konto von einem sehr grossen Anlagefonds seiner Bank umbuchen. Aufgrund der Währungsunterschiede
fielen dabei Bruchteile von Rappen an, welche nicht umgebucht werden konnten und auf einem Zwischenkonto
warteten, bis sich ein bestimmter Betrag angehäuft hatte, der dann der Bank gutgeschrieben wurde.
Diese Gutschrift wurde im Rahmen der Qualitätssicherung kontrolliert - was vorher geschah, hingegen nicht.
Seine Frau, die er während der Ausbildung kennengelernt hatte, arbeitete gleichenorts im Schalterdienst.
Die Ehe ist kinderlos geblieben, und sie haben es sich gemütlich eingerichtet, eine Eigentumswohnung
mit Hilfe einer Hypothek des Arbeitgebers, zwei Mal jährliche Ferien, der Sommer in Rimini, der Winter in der Lenk
– und alles, alles war gut.
Ich hörte Rolf gelangweilt zu und dachte unwillkürlich an einen Geldautomaten,
den ich am Vormittag mit einer hübschen Bankkundin fotografiert hatte.
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