von Dr.G.M. Gad Labudda
Die hilflosen Kinder hilfloser Eltern - 2 mal 11 Seiten - ('Victor Schluff')
Wenn von einer Familie in einer Kleinstadt gesprochen wird, denken viele Leute an ein kleines Häuschen mit einem Vorgarten, in dem zwei junge Leute sitzen, während zwei oder drei Kinder auf einem Rasen herumlaufen und vielleicht mit einem Ball oder mit einem Hund spielen. Eine Idylle, die wohl aus einem Bilderbuch stammt, denn die Wirklichkeit sieht anders aus. Oft ist sie so schlimm, daß sie in kein Bilderbuch paßt. Pok, Thong und Suwa hatten nie eine Chance für ein eigenes Leben. Ihre Lebensgeschichte war nicht idyllisch, sie wird nie in einem Bilderbuch stehen. Sie zeigt einen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens, die abgestorbenen Gefühle in der fortgeschrittenen Gesellschaft, die Entfremdung des Menschen, den Wert, den man einem Menschen zuschreibt, die Anschauung, daß Kinder nicht zur Gesellschaft gehören, weil sie nicht nützlich sind, solange sie keinen Gewinn einbringen, und niemand wird darüber voller Stolz berichten. Man kennt diese Schicksale. Man hat kein Interesse, sich um fremde Kinder zu kümmern. Es ist viel bequemer, wenn man darüber schweigt.
Ihre Eltern kamen aus normalen Familien und wurden normal erzogen. Sie stammten aus Familien von Reisbauern, die nach und nach ihre wenigen Felder verkauften, um nicht zu verhungern. Bis sie nichts mehr hatten, kein Geld und keine Felder. Nur Hunger hatten sie, und Kinder, aber die bedeuteten ihnen nicht viel, denn sie hatten kein Gefühl für andere Menschen, hatten sie doch selbst nie Zuneigung erhalten und wußten nicht, was Wärme oder Liebe ist. Zudem hatten sie andere Sorgen. Kinder brauchte man im Alter, um versorgt zu werden. Aber bis dahin waren sie unerwünschte Esser, die Kosten verursachten und störten, den ganzen Tag lang störten, denn sie hatten kein Geld, ihre Kinder in eine Schule zu schicken, um ihre Ruhe zu haben. So geht es vielen Leuten im Isan, dem armen Nordosten Thailands, deshalb ist solch ein Leben dort normal. Deshalb spricht man auch nicht darüber, denn die Probleme anderer Menschen gehen einen ja nichts an. Wenn man sich zu sehr um arme Nachbarn und ihre Kinder kümmert, läuft man Gefahr, ihnen vielleicht auch noch helfen zu müssen.
Als die Eltern noch heranwuchsen und sich begegneten, sahen sie das erste Mal einen Menschen, der sie mochte, einen Menschen, der attraktiv war, sexuell anregend, und von dem sie glaubten, daß er ihnen helfen kann. Diesen Menschen wollten sie haben, denn sie hielten ihn für nützlich und brauchbar. Deshalb waren sie etwas nett zu ihm, damit er sie wollte und auch nett war. Da dieser Irrtum auf Gegenseitigkeit beruhte, sprachen sie von Liebe und heirateten einige Monate später. Sie zogen in ein barackenähnliches Holzhaus, das in einzelne Zimmer mit Kochecke und Toilette aufgeteilt war. Er war auf dem Bau beschäftigt und sie war nun Hausfrau. Nach der Hochzeit verbrachten sie die Abende zuhause und hatten viel Sex. Sie nannten das Liebe. Doch schon bevor Pok, der erste Sohn, geboren wurde, wußten sie, daß es keine Liebe war, weil ihr Ehepartner ihnen weder Zuneigung geben, noch helfen konnte. Es war für beide eine herbe Enttäuschung, als sie bemerkten, daß der Ehepartner sie nicht liebt, sondern nur erwartete, geliebt zu werden. Als Gemeinsamkeit hatten sie nur den Sex,, das einzige Gefühl, das sie geben konnten, und so kamen nacheinander Pok, Tong und Suwa, zwei Söhne und eine Tochter auf die Welt, die in ihren ersten Lebensjahren das Lieblingsspielzeug ihrer Mutter waren.
Säuglinge werden bei vielen thailändischen Familien emsig umsorgt. Doch wenn sie zu stören beginnen, so gegen Ende des dritten Lebensjahres, hört das auf, denn die Eltern haben über Erziehung keine weiteren Informationen als jene, die sie in ihrer eigenen Erziehung genossen haben. Das hat zur Folge, daß sie hilflos sind, ihre Kinder nicht verstehen können und nun beginnen, sich vor ihnen zu schützen, sich gegen sie zu wehren und oftmals auch, sie entsprechend ihren Wünschen zu nützlichen und profitablen Familienmitgliedern zu formen. Wohl die meisten Kinder erhalten nun ihre erste Rekrutenausbildung. Die Eltern sprechen mit ihnen nur noch im Kasernenhofton und die Kinder erleben zumeist Befehle, Verbote und Strafen, womit sie sich frühzeitig an die Funktion und die Herrschaft späterer demokratischer Regierungen gewöhnen können.
So wuchsen die Kinder während ihrer ersten Lebensjahre in dem auf, was man so schön ‘trautes Heim’ nennt, was aber nichts mit Geborgenheit zu tun hat und nur beweist, daß die Floskel ‘Zuhause’ nicht nur mit einem Gefühl der Zusammengehörigkeit oder des Behütetseins, sondern auch mit dem Gefühl der Angst oder der Furch vor diesem ‘Behütetwerden’ besetzt werden kann. Der Vater war selten zuhause. Er sagte, er muß viel arbeiten, um die Familie zu ernähren, deshalb mußte er Überstunden machen. Bald kam der Vater immer später von der Arbeit. Er setzte sich mit Kollegen und Freunden zusammen, die dann ‘Lao Kao’ tranken, den billigen Reisschnaps. Die Mutter setzte sich mit Freundinnen zusammen, deren Männer auch auf dem Bau arbeiten. Sie tranken eine ‘Sam Niu’ genannte ‘Medizin’, einen billigen Kräuterlikör, der nach einem süßlichen Magenbitter schmeckt. Die Kinder der Frauen waren dann meist in der Nähe, solange sie noch klein waren, achteten aber darauf, ihren Müttern nicht ungerufen zu nahe zu kommen, weil sie zu leicht geschlagen wurden, sei’s wegen irgend einer Handlung oder einfach nur weil sie störten, denn nun waren sie nicht mehr niedlich. So war die Mutter froh, daß sie in der Nähe einer Schule wohnten, wo sie die Kinder mit Beginn des vierten Lebensjahres in einer Vorschulklasse untergebracht hatte. Dort wurden sie gut aufgehoben.
Dann verlor der Vater die Arbeitsstelle. Er war betrunken und wollte die ‘Mia Noi’, die hübsche Nebenfrau des Vorarbeiters zum Sex zwingen. Er hatte in seinem Suff geglaubt, daß ihr das Spaß machen muß und gar nicht daran gedacht, daß sie schreien könnte. Der Vorarbeiter kam, sah seine Freundin mit einer zerrissene Bluse im festen Griff eines betrunkenen Arbeiters, und siegte. Er schlug einmal kräftig zu und brachte den betrunkenen Mann, der jetzt auch noch torkelte, vor den Chef, der ihn entließ. Zuhause zeigte der Vter sein Auge und erzählte, daß er wegen eines Unfalls entlassen worden war. Aufgebracht ging die Mutter, um den Chef zur Rede zu stellen. Aber der war nicht da, nur der Vorarbeiter. Der holte seine Freundin, die erzählte, warum der Vater entlassen wurde. Aufgebracht kam die Mutter nachhause. Dann hatte der Vater ein zweites blaues Auge und eine Platzwunde am Kopf. Die Mutter hatte eine gebrochene Nase, Schnittwunden und aufgeplatzte Lippen. Der Streit dauerte länger und die Kinder erlebten die Schlägereien ihrer Eltern jetzt öfter. Tatsächlich war die ohnehin schwache Bindung der Eltern endgültig zerstört, wenn sie sich auch nicht trennten. Doch die Spannungen waren unübersehbar und in Wirklichkeit kämpften sie jetzt gegeneinander. Das schien ihnen angenehmer, als alleine zu sein und gar nicht beachtet zu werden, zumindest solange sich nicht die Möglichkeit eines Lebens mit einem neuen Partner abzeichnete. Der Vater fand keine neue Arbeit und war jetzt viel zuhause. Er übernahm verschiedene Aushilfsarbeiten, um sich mit Lao Kao betrinken zu können. Er hatte Verständnis dafür, daß seine Frau mittrank. Die Kinder störten und wollten etwas zu essen haben. Dafür hatten die Eltern kein Verständnis.
Das Einkommen reichte gerade eben für den Lao Kao, aber nicht für die Miete, obwohl der Vater nun versuchte, sich mit Kartenspielen ein Einkommen zu verschaffen. Aber er verlor mehr Geld, als er gewann. Er fand nicht weit entfernt eine kleine Bretterhütte ohne Strom und Wasser, so konnten die Kinder weiter zur Schule gehen. Sie waren sehr froh darüber, denn seit der Vater fast immer betrunken zuhause war und die Mutter wegging, um Geld zu verdienen, bekamen sie zuhause oft Schläge.
Nach einem besonders heftigen Streit der Eltern schien sich alles zu wenden. Sie hörten auf, zu trinken. Der Vater rasierte sich und suchte Arbeit. Nach zwei Wochen konnte er bei einer großen Baufirma anfangen. Das Leben wurde erträglich, bis der Vater abends wieder wegblieb, mit Freunden Lao Kao trank und Karten spielte. Die Mutter ging wieder oft weg, sie blieb lange und kam meist erst lange nach Mitternacht betrunken nachhause. Die Eltern stritten viel miteinander, wenn sie sich sahen und die Kinder hatten oft nichts zu essen und bekamen Schläge.
Dann überschlugen sich die Geschehnisse. Der Vater kam einige Tage mit Freunden nachhause. Sie betranken sich jetzt mit amerikanischem Whisky und der Vater sagte, sie würden bald wieder eine gute Wohnung und genug zu essen haben. Doch die Mutter kam tagelang nicht nachhause und die Kinder hatten nichts zu essen. Eines Tages kamen weder Vater noch Mutter nachhause. Am nächsten Tag kamen zwei Polizisten und fragten nach der Mutter, sie sollte wegen einer Angelegenheit des Vaters zur Polizei kommen. Die Mutter kam erst zwei Tage später und ging am nächsten Tag zur Polizei. Danach sagte sie den Kindern, der Vater hat mit zwei Freunden in der Firma Geräte gestohlen und verkauft. Schweißgeräte, Bohrmaschinen, Motorsägen und Anderes. Sie hatten im Büro der Firma eingebrochen und den Wachmann sie gehört hatte und sie beim Aufbrechen einer Tür erwischte, haben sie ihn niedergeschlagen. Der war aber schnell wieder zu sich gekommen und hat die Polizei gerufen. „Jetzt sitzt der Vater im Gefängnis und da soll er viele Jahre bleiben“, schimpfte die Mutter, als sie wegging.
Am Nachmittag des nächsten Tages hielt ein Auto vor der Hütte. Die Mutter stieg aus, holte einige Papiere und Sachen aus der Küche und erklärte den Kindern, sie sollen dem Vater sagen, daß sie nicht länger mit ihm leben kann. Die Kinder wollten wissen, wo sie hingeht, doch sie sagte nur, daß sie weggeht, und daß sie die Kinder nicht mitnehmen kann, weil niemand sie haben will. Sie schimpfte, daß der Vater die Schuld hat. Als die Kinder sagten, sie haben Hunger, ging sie zum Wagen und kam mit einhundert Baht wieder. Dann fuhr die Mutter weg, verließ ihre Kinder.
Die Kinder waren ratlos, sie gingen zum Vater. Der sagte ihnen zur Begrüßung, daß er jetzt keine Kinder brauchen kann, dann meinte er, die Mutter soll ihm Zigaretten, Geld und Essen bringen. Als er hörte, daß die Mutter nicht mehr mit ihm leben will, ihn verlassen hat und weggegangen ist, war er lange Zeit still. Dann sagte er seinen Kindern sehr leise, sie dürften nicht in der Hütte bleiben, sonst kämen sie in ein Heim, das noch schlimmer ist, als das Gefängnis. Sie sollten weglaufen und sehen, daß sie nach Bangkok kommen. Er kann ihnen nicht mehr helfen, sie müßten versuchen, sich selbst durchzuschlagen und am Leben zu erhalten. Sie sollten nie vergessen, daß er nur im Gefängnis sitzt, weil er versucht hat, ein guter Familienvater zu sein, seine Familie zu ernähren und ihr ein gutes Leben in Wohlstand und den Kindern ein besseres Leben und eine gute Schulbildung zu bieten, und wenn sie in Bangkok etwas verdienen, sollten sie ihm Geld und Zigaretten schicken. Dann mußten die Kinder gehen. Es war ein seltsames Gefühl gewesen, den Vater hinter Gittern zu sehen. Es war nicht viel Mitleid dabei, auch nicht das Gefühl, den Vater verloren zu haben, sondern eher das angenehme Gefühl der Sicherheit, daß er sie jetzt nicht schlagen konnte
Pok, Tong und Suwa waren jetzt zwölf, zehn und neun Jahre alt. Sie durften nicht in der Hütte bleiben und nicht zur Schule gehen. Wenn man sie findet, kommen sie in ein Heim, hatte der Vater gesagt. Weil sie keine Eltern mehr haben. Sie sollten weglaufen, am besten nach Bangkok. Sie hatten Angst. Sie waren nicht gewollt, sie waren verlassen worden, ausgesetzt. Sie hatten keine Eltern und keine Wohnung mehr, sollten sich selbst durchschlagen. Sie wollten mit den Nachbarn sprechen. Vielleicht fanden sie jemand, für den sie arbeiten konnten, um etwas zu essen zu bekommen. Aber die Nachbarn wollten noch nicht einmal mit ihnen sprechen und schickten sie sofort weg, warfen sie hinaus, noch bevor sie etwas gesagt hatten. Da war nur eine Familie, deren Eltern ihnen sagten, sie hätten genug Ärger mit ihren eigenen Kindern. Sie fanden keine Leute, für die sie genug tun konnten, als daß es sich lohnen würde, drei Kinder durchzufüttern. Das Geld hatte nur der Staat, der ihnen etwas zu essen geben würde und so gut unterbrachte, daß mehrere Personen dafür bezahlt wurden, auf sie aufzupassen, damit sie nicht weglaufen. Sie waren nun auf der Flucht vor dem Staat und der Polizei, um nicht eingesperrt zu werden. Weil sie keine Eltern haben.
Es waren bange und schlimme Stunden, die sie nun zum letzten Mal in der Hütte zusammensaßen, Stunden, die sie nie in ihrem Leben vergessen würden. Pok kochte noch einmal Reis in einem Topf. Den Reiskocher hatte die Mutter mitgenommen. Sie mußten den Reis mit Fischsoße essen, denn es gab nichts anderes und sie durften die hundert Baht der Mutter jetzt nicht für besseres Essen ausgeben, solange sie noch irgendetwas zu essen hatten. Sie würden das Geld brauchen, wenn es gar nichts mehr zu essen gab. Pok sagte, sie müßten so viel essen, wie möglich, denn es war nicht sicher, ob sie morgen etwas zu essen finden. Währenddessen besprachen sie ihre Zukunft. Es fielen keine Tränen. Zu schrecklich, zu unfaßbar war die Situation, zu entsetzlich die Leere, in die sie gefallen waren. Pok erklärte, warum sie fliehen mußten, sagte, daß es ihnen ähnlich geht, wie den Menschen, die aus den Dörfern kamen, weil sie nichts mehr zu essen hatten, weshalb sie nach Bangkok fuhren, um dort nach Arbeit und Essen zu suchen. Manche von ihnen waren auf die Dächer der Züge geklettert, weil sie kein Geld hatten. Das müßten sie auch tun. Deshalb müßten sie nachts aufbrechen, um nicht gesehen zu werden.
Suwa wollte wissen, was sie denn in Bangkok machen sollen, doch Pok zuckte mit den Schultern und meinte, sie müßten alles tun, was möglich ist und verkündete, daß Buddha gelehrt hatte, daß nichts im Leben sicher sei, das müßten sie akzeptieren und das wäre jetzt ihr Leben, bis sie volljährig werden. Sie sprachen noch darüber, daß es nur der Hunger war, den sie mit den Leuten gemein hatten, die ihre Dörfer verließen. Diese Leute mußten sich nicht verstecken, sie durften arbeiten, wenn sie eine Arbeit fanden. Und sie waren nicht von ihren Eltern verlassen oder ausgesetzt worden, man hatte sie nicht weggeschickt, weil man sie nicht mochte und keiner sie haben wollte. Die Leute aus den Dörfern suchten Arbeit, aber sie waren nicht auf der Flucht vor jedem Polizisten.
Es gab nicht viel, was sie mitnehmen konnten, jeder hatte nur ein kleines Bündel mit Kleidungsstücken. Nur Suwa hatte noch eine Stoffpuppe, die ihr früher einmal eine Nachbarin geschenkt hatte. Schluchzend entschuldigte sie sich bei der Puppe, daß sie so eine schlechte Mutter ist, daß sie für die Puppe nicht einmal einen Platz hat, an dem sie bleiben kann, an dem sie sicher ist. Dann drückte sie die Puppe fest an sich, streichelte sie und versprach ihr unter Tränen, daß sie sie nie alleine lassen wird, auch wenn es ihnen nicht gut gehen mag, aber sie wird sie immer mitnehmen, bei sich behalten und nie vergessen. Sie bettete die Puppe in ihren Beutel und lief den Brüdern hinterher, die schon losgegangen waren und nun auf sie warteten. Sie schlichen geduckt um den Bahnhof herum, um nicht gesehen zu werden. Pok kundschaftete aus, wann der Zug nach Bangkok losfuhr und wo er stand. Die Bahnhofsuhr zeigte, daß sie noch viel Zeit hatten. Sie versteckten sich in einem Gebüsch und schliefen. Eine halbe Stunde vor Abfahrt weckte Pok die Geschwister. Sie schlichen über das Bahngelände und fanden am Ende des Zuges einige halbhohe Waggons mit großen Kisten. Hier waren sie vor dem Wind geschützt und konnten sich verstecken.
Bisher hatten sie Abenteuer immer geliebt, sie brachten Abwechslung und waren aufregend. Aber was sie jetzt erlebten, war eine ganz andere Art von Abenteuer, denn sie konnten nicht mehr zurückkommen. Sie mußten ihre Heimat und ihre Vergangenheit vergessen. Lange dachten die Kinder an ihre Eltern, die Schule, die gemeinsam verbrachte Zeit und das Nichts, das vor ihnen lag, bis das Stampfen der Räder sie einschläferte. Bei jeder Station wurden sie wach. Sie hatten Angst, gesehen zu werden, sie froren und hatten Hunger. Pok packte eine Plastiktüte mit dem Reis aus, der übriggeblieben war. Sie aßen ihn wieder mit Fischsoße. Die Fahrt war endlos, aber sie wußten, daß der Zug am späten Abend des nächsten Tages in Bangkok ankommen mußte. Sie hatten Durst, aber sie konnten den Waggon nicht verlassen, bis er in Bangkok war. Es war zu gefährlich auf einem Bahnhof auszusteigen und nach Wasser zu suchen, denn es war nicht sicher, wann der Zug abfuhr. Als die Nacht vorüber war und die Sonne die Luft erwärmte, schauten sie lange Zeit über die Wände des Waggons auf die vorbeiziehende Landschaft, auf arbeitende Menschen und Siedlungen, in denen Menschen lebten, mit Häusern, in denen sie zuhause waren. Da sie nachts wegen der Kälte und dem Fahrtwind nur wenig geschlafen hatten, schliefen sie auch einige Stunden während des Tages. Nun bekamen sie Hunger und Durst, aber sie durften den Waggon nicht verlasen, sie mußten ausharren, bis sie nach Bangkok kamen. Hunger und Durst, das Rattern der Räder und die nagende Ungewißheit über ihre weitere Zukunft ließen den Tag wie im Zeitlupentempo vergehen. Alle möglichen Gedanken und Ängste gingen den Kindern durch den Kopf und wuchsen bedrohlich, bis Pok die Geschwister mit einem Gespräch über die Schule ablenken konnte.
Mit dem kühlen Fahrtwind der beginnenden Dämmerung verging der Durst und Angst kam wieder in ihnen auf. Der Waggon war für sie schnell zu einer Heimat geworden, er hatte ihnen Sicherheit und Schutz geboten. Bald mußten sie ihn verlassen und sie durften nicht gesehen werden. Wachsam schaute Pok auf die Schilder der Stationen, als die Umgebung belebter wurde, immer mehr Häuser, immer mehr Lichter zu sehen waren und weitverzweigte Schienenstränge sich bemerkbar machten. Ein gewaltiges, unüberschaubares Meer von Häusern, Straßen und Fahrzeugen ließ sie sich völlig verloren vorkommen Endlich kamen die ersten Schilder von Bangkok, der Zug verlangsamte seine Fahrt und schob sich quietschend über viele Weichen hinweg auf eine riesige Halle zu. Das mußte der Bahnhof sein; nun mußten sie schnell abspringen.
Als der Zug langsam an einigen abgestellten Waggons vorbeifuhr, kletterten sie mit steifen Gliedern aus dem Waggon und ließen sich auf den Schotter fallen. Schnell liefen sie hinter die stehenden Waggons, um sich hinter einem großen Kasten zu verstecken, der am Rande des Geländes vor einem großen Zaun stand. Nun waren sie in Bangkok. Aber sie wußten nicht weiter. Sie mußten irgendeine Arbeit, Unterkunft und Nahrung suchen und wußten nicht, wo. Aber erst einmal mußten sie weg vom Bahnhof, wo man sie nicht sehen durfte. Der große Zaun hörte nach einigen hundert Metern an einer breiten Straße auf. Als Pok noch einmal erklärte, wie sie schnell am Zaun entlang laufen und sich am Ende des Zaunes treffen sollten, erschien ein größerer Junge und sagte: „Die vordersten Waggons gehören mir!“ Als sie überhaupt nicht wußten, wovon er sprach, welche Waggons er meinte und wieso sie ihm gehörten, fragte er; „Seid ihr neu hier?“ Pok zeigte auf den Zug, der jetzt quietschend am Bahnsteig hielt und der Junge lachte.
„Dann kommt ihr gerade aus Nong Khai“, fragte der Junge, was die Geschwister bestätigten. Dann fragte er: „Und Eure Eltern?“ Stockend sagte Pok: „Der Vater sitzt im Gefängnis und die Mutter ist abgehauen.“ Der Junge nickte: „Ich bin Suk. Ich bin auch aus Nong Khai. Ich bin meinen Eltern weggelaufen, aber ich bin jetzt schon fünf Jahre hier. Ich werde Euch heute helfen, weil ihr neu seid, aber nur heute. Ich kann Euch später alles erklären, aber jetzt müssen wir erst einmal arbeiten. Der Zug, mit dem ihr gekommen seid, wird gerade auf ein Abstellgleis geschoben. Wenn die Lokomotive wieder wegfährt, müssen wir ganz schnell rein und alle Flaschen rausholen, die wir finden. Die sind unter den Sitzen, zwischen den Polstern und in den Ecken. Ich fange vorne an und ihr fangt hinten an, wir treffen uns irgendwo in der Mitte. Wir müssen uns beeilen, bevor andere Straßenkinder kommen oder die Putzkolonne von der Bahn. Wenn Männer kommen, müßt ihr weglaufen. Wir treffen uns dann wieder hier zwischen dem Gerätekasten und dem Zaun. Damit lief er los und die Geschwister folgten ihm. Sie sammelten die Flaschen vom Boden auf, aber sie hatten die Mitte des Zuges noch nicht erreicht, als Männer und Frauen mit roten Westen in die Waggons einstiegen und die Geschwister mit ihrer Beute hinter den Kasten liefen. Ihnen folgte Suk, dem noch ein Mann einige Meter hinterherlief und laut hinterherschimpfte. Schnaufend lachte er: „Sie haben immer Angst, daß wir etwas Kostbares finden, was ihnen dann entgeht.“
Es war ein erfolgreicher Tag gewesen. Die Geschwister hatten zusammen vierzehn Flaschen gefunden, von denen man aber zwei nicht brauchen konnte, und Tong hatte eine Plastiktüte mit zwei großen Portionen ‘Kao muu deng’ gefunden, Reis mit Schweinefleisch. Auch Suk war zufrieden. Er hatte zwölf Flaschen, einen fünfzig Baht-Schein und ein Taschenmesser gefunden. Er zog zwei Plastiktüten aus der Tasche, sagte den Geschwistern, sie sollten ihre Flaschen dort hineintun und dann gingen sie los, um die Flaschen zu verkaufen. Suk sagte ihnen, daß sie für Bierflaschen einen Baht bekommen, daß die großen Cola- oder Pepsiflaschen mehr bringen, aber selten sind, und daß sie auch die großen Flaschen von Mekong, Saeng Thip und Saeng Som verkaufen können. Andere Flaschen werden aber nicht angenommen. Sie könnten auch Getränkedosen verkaufen oder Altpapier, aber davon müßten sie mehrere Kilo zusammenhaben, sonst lohnte es sich nicht. Er brachte sie zu einem Altwarenlager, wo sie das Geld für die Flaschen bekamen und sich umsahen, um zu wissen, was sie alles verkaufen konnten. Dann setzten sie sich zusammen an den Rand das Schuppens, der Büro, Wohnung und Lagerraum des Verwalters war, unterhielten sich und verspeisten gemeinsam die von Tong gefundenen Reisgerichte.
Suk weihte sie dabei in die Überlebensgeheimnisse der Straßenkinder ein. Er sagte ihnen, wo sie schlafen konnten und wo sie auf keinen Fall schlafen durften, wie etwa in Bahnhöfen und Busstationen und an Plätzen mit Publikumsverkehr. Er nannte die Tempel und Plätze, die sie meiden mußten, weil dort die Wohlfahrt oder die Polizei auf sie lauerte, nannte Plätze, wo sie Nahrung finden konnten, Großmärkte und kleinere Märkte beim Abbau, wo sie übriggebliebene, leicht beschädigte Früchte bekommen konnten, Tempel, zu denen sie nach der Mittagszeit gehen konnten. Er nannte ihnen die Plätze, an denen sie am frühen Morgen Flaschen finden konnten. Wichtiger war noch, daß er ihnen sagte, wo sie sich und ihre Kleider waschen konnten und daß sie sich sehr sauber halten sollten, weil sie sofort auffielen und überall verjagt wurden, wenn sie schmutzig waren. Sie sollten nicht betteln gehen, weil sie dabei schnell geschnappt werden und sie sollten vor allen Dingen nichts mit Drogen machen, weil das zu gefährlich ist. Wenn sie aber einmal nicht anders könnten, als Kurierdienste mit Drogen zu leisten, wofür die Händler gerne Kinder einsetzen, dann sollten sie auf gar keinen Fall selbst von den Drogen nehmen. Denn von denen würden sie abhängig und dann würden sie nur noch arbeiten, um die Drogen zu bekommen. Aber wenn sie richtige Drogen nehmen, können sie nicht mehr richtig arbeiten. Die meisten Leute fangen dann an, zu stehlen oder werden kriminell, um die Drogen zu erhalten und landen hinter Gittern. Selbst wenn es nur Zigaretten sind, dann kostet ein Päckchen fünfunddreißig Baht, davon hätten sie alle zusammen einen Tag zu essen und die anderen Drogen seien noch viel teuerer und sie helfen nicht, sie machen den Körper kaputt.
Die Geschwister erzählten von ihren Eltern, die immer betrunken gewesen waren und sie dann geschlagen hatten. Sie waren sicher, daß sie keine Drogen nehmen wollten. Dann sprach Suk noch kurz mit dem Chef des Altwarenlagers und erklärte den Geschwistern anschließend, sie könnten für zehn Baht am Tag einen der alten Karren mieten, um Flaschen, Papier und Blechdosen zu sammeln. Das wäre eine sichere Einnahmequelle, damit sie nicht in Mülltonnen nach Essen suchen müßten. Wenn sie zusammen mit dem Wagen gehen, würde man glauben, die Eltern seien in der Nähe. Aber sie müßten sauber aussehen und dürften nie zur Schulzeit mit dem Wagen unterwegs sein. Vor allen Dingen aber müßten sie zusammenbleiben. Jeder kann einem einzelnen Kind etwas wegnehmen, wenn er größer oder stärker ist, aber vor drei Kindern hätte man mehr Respekt. Und außerdem gehen einzelne Straßenkinder in Bangkok schnell unter, wenn sie sich nicht einer Gruppe anschließen. Dort müssten sie sich aber in eine Rangordnung einfügen und viel vom ihrem Verdienst an die größeren Jungen abgeben, oder an die Erwachsenen, die solche Gruppen wie Bandenchefs leiten. Sie brauchten sich aber keiner Gruppe anzuschließen, wenn sie zusammenbleiben.
Die Geschwister berieten sich. Sie schämten sich fürchterlich, Abfälle aufsammeln zu müssen, aber sie wußten, daß sie nirgends eine Arbeit oder eine Unterkunft finden würden. Schließlich faßte Pok sich ein Herz und sagte: „Ich meine, es ist besser, Abfälle zu sammeln, als Abfälle essen zu müssen. Zumindest, solange wir keine besseren Möglichkeiten finden.“ Tong und Suwa senkten ihre Köpfe. Sie waren nicht froh darüber, aber sie hatten auch keinen besseren Vorschlag. Suk bot ihnen an, er könnte ihnen die zehn Baht für den ersten Tag leihen, doch Pok sagte, soviel hätten sie noch. Als Suk sich verabschiedete, weil er noch Geld verdienen mußte, bezahlte Pok die Miete für den Wagen und sie durften unter dem verlängerten Dach eines Schuppens schlafen. Suk rief ihnen noch zu: „Wir sehen uns morgen wieder am Zug.“
Die Geschwister kuschelten sich an der schützenden Schuppenwand zusammen und sprachen noch eine Weile miteinander. Sie waren sehr niedergeschlagen, aber sie wußten, daß es ein großes Glück war, daß sie Suk getroffen hatten und daß er ihnen schon viel geholfen hatte. Ohne ihn hätten sie nicht gewußt, was sie uönternhömen und an wen sie sich wenden konnten. Sie hätten sicher keine Möglichkeit gefunden, sich selbst zu ernähren. Dann wollten sie schlafen, weil sie mit dem Morgengrauen aufstehen mußten, um die Ersten auf der Straße zu sein. Nur Suwa holte noch ihre Puppe aus dem Beutel, drückte sie an sich, sprach leise mit ihr und versprach ihr noch einmal, daß sie sie immer bei sich behalten und nie allein lassen wird. Dabei schlief sie mit der Puppe im Arm ein.
Noch vor dem Morgengrauen wurden sie wach und machten sich auf den Weg. Pok schob den Wagen und sammelte Sachen an der Hauptsraße auf, während Tong und Suwa zu beiden Seiten der Straße und in den Nebenstraßen nach Abfällen suchten. Es kostete sie Überwindung, auch in die Abfalleimer und Mülltonnen zu schauen, aber es würde sie auch Überwindung kosten, nichts zu essen zu haben. Als sie die ersten Schulkinder auf der Straße sahen, brachen sie die Suche ab und schoben den Karren zum Händler. Der nickte zufrieden, zählte die Flaschen, packte Getränkedosen und Plastikflaschen zusammen, stapelte das Papier ordentlich und wog es. Dabei erklärte er den Kindern, wie sie diese Arbeiten am besten machen und daß sie es beim nächsten Mal selbst tun sollten. Dann gab er ihnen zweiundsiebzig Baht und sagte: „Nicht schlecht für den ersten Tag, Ihr habt das Geld für den Wagen und Euer Essen schon verdient und der Tag ist noch nicht zu Ende. Wenn Ihr nicht anfangt, Drogen zu nehmen und weiter früh aufsteht, könnt Ihr noch viel mehr verdienen.“
Dann zeigte er auf einen Gaskocher und Geschirr und sagte: „Das könnt ihr benutzen, bis Ihr Euch eigene Sachen kaufen könnt, wenn ich es nicht gerade brauche und Ihr es immer saubermacht und zurückbringt.“ Sie durften sich jetzt bis zum Nachmittag nicht auf der Straße sehen lassen. Sie konnten sich waschen, Tong machte Reissuppe zum Frühstück, Suwa wusch freiwillig die Wäsche und sagte, die Jungen hätten viel härter gearbeitet, als sie. Pok sagte, sie hätte sehr gut gearbeitet, fügte aber hinzu, daß sie sich noch einarbeiten müssen und daß ihm noch vom Wagen die Hände wehtun, aber da mußte er sich auch einarbeiten und er würde sich wohl schon bald dran gewöhnen.
Nachmittags zogen sie wieder los und hatten schon einen fast vollen Wagen, als sie Suk abends am Bahnhof trafen und gemeinsam den Zug entleerten. Er hatte zwei große Tüten voller Sachen und lud sie auf den Wagen, als sie wieder zum Altwarenhändler gingen. Die Geschwister erzählten ihm, wie gut der Händler zu ihnen war, doch Suk warnte sie: „Ja, er ist gut, solange ihr fleißig seid. Aber wenn ihr kein Geld mehr einbringt, ist er auch nicht mehr gut.“ Nachdem sie ihre Sachen sortiert hatten, gab der Händler ihnen noch einmal einhundertunddreiundvierzig Baht und gratulierte ihnen. Sie waren sehr stolz. Jeder von ihnen hatte an diesem Tag mehr verdient, als ihr Vater jemals auf dem Bau verdient hatte. Doch Suk warnte wieder: „In Bangkok ist das Leben aber auch viel teuerer.“ Sie unterhielten sich noch, bis Suk ging und dann gingen sie schlafen.
In der folgenden Zeit verdienten sie tatsächlich besser, aber sie waren auch immer unterwegs, wenn es ihnen möglich war. Nach zwei Wochen sagte der Händler ihnen, sie sollten einmal mit ihm mitkommen und zeigte ihnen etwa dreihundert Meter weiter auf dem Weg zur Straße an der Rückseite eines Hauses einen Schuppen, in dem sich ein Raum mit einem Tisch, Stühlen, einem Gaskocher und einer Kommode befand. In der Mitte des Raumes hing eine Glühbirne und vor dem Fenster hing ein großes Brett. Der Händler sagte, sie könnten den Raum für fünfhundert Baht im Monat mieten, aber sie dürften niemand sagen, daß er ihnen erlaubt hat, hier zu sein. Wenn sie einmal gefaßt würden, müßten sie sagen, sie hätten die Tür offen gefunden und wären eingezogen. Und vor Einschalten der Glühbirne müßten sie immer das Brett vors Fenster hängen. Die Geschwister waren einverstanden, hatten sie doch jetzt eine eigene Wohnung und ein Dach über dem Kopf, brauchten nicht mehr im Freien zu schlafen und konnten ihre wenigen Sachen hier unterbringen. Sie hatten in der Fremde ein eigenes Zuhause gefunden, wo sie als Familie zusammen leben konnten.
Langsam lernten sie auch einzelne Leute kennen. Der Inhaber eines Restaurants hatte sie einmal gerufen, weil sie sauber aussehen, hatte er gesagt. Er wollte ihnen Flaschen, Papier und andere Sachen vor die Tür stellen, dafür müßten sie aber auch anderen Abfall entsorgen. Sie waren einverstanden. Der Mann war mit ihrer Arbeit zufrieden und er hing ihnen fast jeden Tag eine gut verschnürte Plastiktüte mit übriggebliebenem Essen in kleineren Tüten an einen Haken neben der Tür. Es war meist genug zu essen für den ganzen Tag. Als sie sich einmal mit der Essenstüte in ein Gebüsch setzten, um etwas zu essen, kam schwanzwedelnd ein großer Hund, der das Essen gerochen hatte. Suwa gab ihm etwas von ihrem Reis ab, während Tong sofort protestierte. Er meinte, sie hätten selbst nicht genug zu essen, um auch noch Hunde zu ernähren. Doch Pok sagte, sie brauchten auch nicht alle Hunde zu ernähren, aber es wäre gut, wenn sie einen großen Hund hätten, der sie bewacht und beschützt: „Menschen haben Angst vor Hunden. Wenn wir ihm Futter geben und nett zu ihm sind, bleibt er vielleicht bei uns.“ Er gab ihm auch etwas Futter und tätschelte ihn. Tatsächlich ging der Hund mit ihnen mit und wurde zu einem ständigen Begleiter, der immer nebern Pok und dem Wagen herlief. Sie nannten ihn ‘Nong’.
Sie verdienten gutes Geld und hatten sich einmal überlegt, was sie damit anfangen. Pok meinte, sie sollten so wenig wie möglich ausgeben, das Geld sparen und als Sicherheit beiseite legen, für den Fall, daß einer von ihnen krank wird oder einen Unfall hat, für den Fall, daß sie einmal keine Abfälle mehr sammeln könnten oder um vielleicht später einmal etwas anderes zu tun, wozu sie Geld brauchten. Als Tong und Suwa meinten, Pok soll das Geld für sie aufheben, fand er das gar nicht gut und erinnerte sie daran, daß sie auf der Flucht waren und jederzeit gefaßt werden könnten. Er schlug vor, den größten Teil des Geldes im Schuppen zu verstecken. Außerdem sollte aber jeder von ihnen einen größeren Betrag in einer kleinen Tasche in der Unterhose bei sich tragen, weil sie nie wissen, was passiert und jederzeit getrennt werden können. Dann müßten sie Geld haben, um weglaufen, sich wieder zu treffen, oder sich notfalls alleine helfen zu können.
Daran wurden sie erinnert, als schon anderthalb Jahre vergangen waren und ihr Freund Suk nicht mehr erschien. Bald erfuhren sie, daß Leute von der Fürsorge ihn gefaßt und in ein Heim gesperrt hatten. Der Altwarenhändler erzählte ihnen immer, wenn Straßenkinder von der Fürsorge gefaßt oder von der Polizei geschnappt worden waren. Viele hatten etwas verbrochen, waren wegen Drogen gefaßt worden, die meisten wurden aber nachts gefaßt, weil sie sich an gefährlichen Orten wie an der Patpong oder an der Soi Cowboy aufhielten, weil sie beim Betteln aufgefallen waren oder weil sie keinen Schlafplatz hatten und irgendwo auf der Straße geschlafen hatten.
Es vergingen fast vier Jahre, seit sie in Bangkok angekommen waren, ohne mit ernsthaften Problemen konfrontiert worden zu sein. Sie hatten sich verstecken müssen und waren nicht zur Schule gegangen, aber sie hatten ein ordentliches Familienleben geführt, das weitaus besser war, als sie es bei ihren Eltern gehabt hatten. Pok hatte sie zusammengehalten, er hatte darauf geachtet, daß sie immer sauber waren, jeden Tag arbeiteten, keinen Unfug anstellten und sich nicht herumtrieben. In der Zeit, in der sie nicht auf die Straße durften, weil Kinder zu dieser Zeit in der Schule waren und sie auffallen würden, hatten sie im Schuppen in Schulbücher geschaut, um etwas zu lernen. Das war zwar nicht sehr intensiv gewesen und geschah eher aus Langeweile, aber Pok hatte darauf bestanden, daß sie wenigstens lesen und schreiben können müßten, wenn sie schon nicht zur Schule gehen konnten. So hatten sie denn jeden Tag Lesen und Schreiben geübt, wenn es auch nur zwei oder drei Stunden gewesen waren. Aber es hatte gereicht, daß sie kleine Geschichten lesen konnten, die sie manchmal im Abfall fanden, auch wenn ihnen manche Worte begegneten, die sie nicht kannten und nicht verstehen konnten. Pok hatte eines Tages einen gebrauchten Fernsehapparat beschafft, der dann ihre Hauptbeschäftigung wurde, wenn sie nicht mit dem Karren unterwegs waren. Aber sie vernachlässigten ihre Arbeit nicht, wenn irgendwelche interessanten Sendungen zu erwarten waren.
Doch als sie eines Tages Flaschen aufsammelten und in Mülltonnen stöberten, rief Pok ihnen zu, sie sollten laufen, als drei Männer auf sie zukamen. Pok selbst lief nicht. Er fühlte sich für den Wagen verantwortlich, den er nur geliehen hatte. Die Männer nahmen Pok mit und steckten ihn in ein Heim. Pok war erst sechzehn Jahre alt, er mußte vom Staat beschützt werden, deshalb kam er hinter Gitter. Pok hatte eine Aufgabe gehabt. Er hatte die Vaterrolle übernommen und es war seine Aufgabe, für die Geschwister zu sorgen, sie zu beschützen und die Familie zusammenzuhalten. Aber das war verboten.
Er durfte seine Aufgabe nicht mehr durchführen, er durfte nur noch eingesperrt sein. Das Geld, das er bei sich gehabt hatte, wurde ihm abgenommen, weil es angeblich illegal verdient war. Es verschwand. Im ‘Heim’ war er der Diener für die Aufpasser und für die stärkeren, älteren Jungen. Er mußte ihre Arbeiten verrichten, ihre Aufträge und Befehle durchführen und ihnen sein Essen abgeben, um nicht verprügelt zu werden. Die Aufpasser interessierte das nicht, denn sie betrachteten die Gefangenen nicht als Menschen, hatten sie doch noch nicht einmal Eltern und folglich keine Rechte und kein Geld, sie konnten sich nicht wehren, durften sich nirgends beschweren und sie konnten sich nicht freikaufen. Sie waren Spielzeug für die sadistischen Spiele der Aufpasser und der größeren Jungen.
Nach dem thailändischen Gesetz dürfen Kinder, die mit der Zustimmung der Eltern über ein Jahr lang eine eigenständige Geschäftstätigkeit ausgeübt haben, dieselbe Tätigkeit später auch ohne Einverständnis der Eltern oder Erziehungsberechtigten durchführen. Aber sie dürfen sich nicht wehren, wenn der Staat seine Gesetze nicht akzeptiert und sie stattdessen einsperrt. Pok dachte viel an seine Geschwister und war verzweifelt, daß er ihnen nicht mehr helfen konnte. Aber der Staat schützte ihn und hielt ihn deshalb hinter Gittern, wo er oft verprügelt wurde. Pok ging daran, daß er seine Aufgabe nicht erfüllen konnte, an seiner Verzweiflung und an dem Heim zugrunde. Er war fünf lange Jahre Familienvorstand gewesen und hatte für Gemeinschaft und Gerechtigkeit gesorgt. Nun war er Laufbursche für die Stärkeren und bekam selbst dann Prügel, wenn er nur einmal versuchte, seine Meinung zu sagen. Nach zwei Jahren, die man ihn beschützt hatte, gehorchte er nur noch Befehlen und sprach mit niemand mehr. Als Kind hatte er selbständig gelebt, sich selbst ernährt und seine Geschwister beschützt. Nun hatte der Staat ihn beschützt und er konnte nur noch gehorchen. Der staatliche Schutz war erfolgreich gewesen, der Staat hatte sein Ziel erreicht und aus dem selbständigen Jungen einen gehorsamen Bürger geformt. Wenn er es nicht schafft, aus dem Heim wegzulaufen, dann wird er mit Erreichen der Volljährigkeit zur Armee eingezogen. Dort wird die demokratische Erziehung dann weitergeführt und perfektioniert.
Tong und Suwa kamen auf verschiedenen Wegen und zu unterschiedlichen Zeiten zu ihrem Händler, der ihnen sagte, sie sollten ganz schnell hinter dem Lager durch die Büsche verschwinden und zum Schuppen laufen, er käme später dorthin. Sie trafen sich dann beim Schuppen und am Abend meldete sich der Händler. Er sagte, er habe jetzt viele Probleme. An diesem Tag habe man sechs Straßenkinder, die bei ihm ihre Sachen verkaufen wollten, festgehalten und mitgenommen. Man würde sein Lager jetzt bewachen und alle Kinder mitnehmen, um zu überprüfen, wo ihre Eltern sind und ob die Kinder die Genehmigungen ihrer Eltern haben. Man hatte bei ihm nach Drogen gesucht, zwar keine gefunden, aber er hatte eine Strafanzeige wegen Beschäftigung Minderjähriger erhalten. Er kann ihnen vorläufig nichts mehr abkaufen und bei den anderen Altwarenhändlern sieht es nicht anders aus, sagte er. Der Staat mache gerade eine große Razzia wegen Obdachlosen, Straßenkindern und Drogenkonsum, weil eine große, internationale Konferenz in Bangkok ansteht. Dazu will man ein schönes, sauberes Stadtbild vorweisen, ohne Obdachlose und ohne Straßenkinder. Das erreichte man am leichtesten, indem sie verboten wurden.
Tong und Suwa waren verzweifelt. Pok war für sie ein Vater. Er war für sie dagewesen und hatte ihnen Halt gegeben. Nun hatte man ihn eingesperrt. Er hatte nichts Böses getan, er hatte nur viel und hart gearbeitet. Warum sperrte man ihn ein? Weil er gearbeitet hatte? Weil er ihnen geholfen hatte? Oder einfach, weil sie vom Staat kamen und stärker waren, weil sie keine Kinder mochten, die keine Eltern hatten? Außerdem hatte man ihnen die Arbeit genommen. Sie durften keine Altwaren mehr sammeln und verkaufen. Wie sollten sie jetzt leben? Sie durften nicht arbeiten gehen, niemand durfte Kindern Arbeit geben. Die Beamten des Staates würden sie sehen und einsperren. Kinder haben gefälligst Eltern zu haben, sonst muß man sie einsperren. Sie hatten in den fünf Jahren sehr viel gearbeitet, sie hatten viel gespart und sie hatten sehr viel Geld. Aber sie durften jetzt noch nichts damit anfangen. Pok hatte darauf geachtet, daß sie alles Geld zurücklegen, fast jeden Tag um die zweihundert Baht, und er hatte gesagt, das Geld ist die Grundlage für eine eigene Existenz, wenn sie erwachsen sind. Sie dürften es jetzt nicht vergeuden, nur weil Pok nicht mehr bei ihnen war. Außerdem konnte das Geld ihnen nur Nahrung geben, aber sie konnten nicht jahrelang im Schuppen sitzen, essen und darauf warten, daß sie volljährig wurden. Sie mußten etwas tun, sie mußten irgendeine Beschäftigung finden. Sie wollten versuchen, andere Straßenkinder zu treffen und herausfinden, was die machten, um zu überleben. Sie mußten irgendwelche Möglichkeiten finden, etwas zu tun und sich zu ernähren.
Sie ließen den Hund zuhause und zogen am späten Nachmittag los. Am Rande eines kleinen Parks sahen sie eine Gruppe Kinder von sieben Jahren an, die sich um zwei Erwachsene scharten. Einige der Kinder hatten Plastiktüten in den Händen und schwankten mit einem ausdruckslosen Gesicht. Als sie sich dazu stellten, wurden sie gefragt, wo sie herkommen und wo ihre Eltern sind. Dann wollten die Männer wissen, ob sie Geld oder Klebstoff haben. Tong sagte, sie hätten dreißig Baht. Einer der Männer sagte dann, sie müßten erst überprüft werden, ob sie ‘sauber’ sind, bevor sie in ihre Familie aufgenommen werden können. Sie sollten zu einer Baumgruppe gehen und auf ihn warten, bis die Familienbesprechung beendet ist.
Suwa sagte Tong, daß sie diese Leute nicht mag. Die Kinder hatten zerrissene, schmutzige Kleidung, sie schnüffelten Klebstoff und waren betäubt. Es kam ihr seltsam vor, daß sie nicht zuhören durften und erst überprüft werden mußten. Es mußte also irgendwelche Geheimnisse geben, und sie hatte nicht den Eindruck, als wenn sich die Erwachsenen wirklich um die Kinder kümmerten. Doch Tong meinte, sie sollten abwarten, was die Leute ihnen sagen wollten. Es mag vielleicht eine Viertelstunde gedauert haben, bis die beiden Männer zu ihnen kamen. Sie wollten wissen, wo sie herkamen, wo ihre Eltern waren, was sie bisher gemacht hatten und wovon sie sich ernährt haben. Das erzählten sie ihnen, ohne aber zu sagen, wieviel Geld sie verdient und daß sie gespart hatten.
Die Männer erklärte ihnen, daß sie in ihrer Gruppe wie eine Familie zusammenleben. Sie alle sind unterwegs, um Geld zu machen, das würden sie zusammenlegen und die Männer gaben ihnen dafür etwas zu essen und sorgten für einen Schlafplatz. Tong und Suwa sollten an diesem Tag im Stoßverkehr mit zwei verschiedenen Buslinien fahren und den Fahrgästen Geld oder Portemonnaies aus den Taschen holen. Sie hörten, wie sie das anzustellen haben, daß sie nur das Geld einstecken und Portemonnaies und Brieftaschen sofort wegwerfen sollen, und daß sie sofort weglaufen müssen, wenn man sie erwischt. Um 19 Uhr sollten sie sich dann wieder hier im Park treffen und das Geld abgeben, damit es verteilt wird und sie etwas zu essen bekommen.
Die Männer sagten ihnen, sie sollten jetzt sofort losgehen, damit sie genug Geld beschaffen. Wenn sie gut gearbeitet haben, würden sie am Abend eine Tüte mit Klebstoff zum Schnüffeln bekommen. Tong und Suwa waren sich jedoch einig, daß sie nur ausgenutzt werden sollten. Die Männer schickten die Kinder zum Stehlen, damit sie selbst nicht gefaßt werden konnten und wenn die Kinder gefaßt wurden, kamen sie in ein Heim und niemand würde sich um sie kümmern. Sie gingen zum Siam Square und später zur New Petchburi Road, um dort andere Straßenkinder zu finden und sich bei denen Informationen zu holen, aber hier war es nicht viel besser. Am Siam Square fanden sie eine Gruppe, mit der sie an Verkehrsampeln Autoscheiben waschen oder Blumengirlanden verkaufen sollten. Das Geld mußte am Abend abgegeben werden, damit sie etwas zu essen bekamen. An der New Phetchburi Road fanden sie eine Gruppe, mit der Sie Kaugummi und Plastikblumen verkaufen und Betrunkene bestehlen sollten. Ermüdet und enttäuscht gingen sie in ihre Hütte, wo sie mehrere Tage blieben.
Sie litten keinen Hunger, denn sie hatten viel Geld gespart, aber sie waren Gefangene. Sie konnten nichts weiter tun, als in einer Hütte zu sitzen und Angst zu haben, entdeckt zu werden. Aber sie konnten sich nicht jahrelang verstecken, sie mußten irgendeine Existenzmöglichkeit suchen. Sie hätten Unterkunft und Verpflegung bis zu ihrer Volljährigkeit bezahlen können, aber niemand wollte etwas mit fremden Kindern zu tun haben, das war gegen das Gesetz. Sie hatten mit dem Inhaber des Restaurants gesprochen, dessen Abfälle sie entsorgt hatten, der ihnen immer Plastiktüten mit Essen vor die Tür gehangen hatte. Sie wollten gratis für ihn arbeiten, nur damit sie etwas zu tun und einen Platz hatten, wo sie sich aufhalten durften. Aber er erklärte, daß er ihnen gerne einen Platz geben und auch einen Lohn bezahlen würde, aber er macht sich strafbar, wenn er sie bei sich arbeiten oder auch nur schlafen läßt. Es wäre für ihn ideal, wenn sie bei ihm wohnen und zur Schule gehen und abends im Restaurant helfen. aber sie sind nicht seine Kinder und er kommt als Krimineller für viele Jahre ins Gefängnis, wenn er ihnen hilft. Es tat ihm wirklich leid, daß er ihnen nicht helfen konnte und sagte ihnen, wenn sie Hunger haben, können sie sich jederzeit bei ihm melden, er würde ihnen jederzeit etwas zu essen geben, das wäre nicht kriminell, aber sonst durfte er nichts tun. Deshalb machten sie sich wieder auf die Suche nach Straßenkindern, auf die Suche nach Arbeit.
Sie holten Geld aus ihrem Versteck, sie steckten jeder 10.000 Baht in die Tasche, die sie unter der Unterhose trugen. Geld, daß sie auf der Flucht vor dem Staat und seinen Gesetzen vielleicht brauchten. Dann machten sie sich wieder auf den Weg zu den Vergnügungszentren, wo sie hofften, andere Straßenkinder und vielleicht irgendeine Arbeit zu finden. Soi Cowboy, Nana Plaza und Patpong waren ihre Stationen. Es gab keine Arbeit, nichts zu tun, aber sie trafen zwei Kinder von Klong Toey, dem größten Slum von Bangkok. Die sagten ihnen, dort könnten sie überleben, die Polizei hat dort keinen Überblick und traut sich nur selten hinein. Sie gingen mit den Kindern mit und wurden einigen Leuten vorgestellt. Nach Befragung nach ihrer Herkunft und ihrer Vergangenheit fand sich jemand, der sie öfter beim Müllsammeln gesehen hatte. Deshalb wurden sie akzeptiert. Kinder, die keine Eltern und keine Unterkunft haben, die vom Staat verfolgt werden und ums Überleben kämpfen, sind in Klong Toey normal, sie gehören dazu. Alle Menschen, die nicht mit der normalen Gesellschaft leben können, gehören dazu. Sie sind Teil einer Gesellschaft, die ums bloße Überleben kämpft, Menschen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgegliedert wurden.
Sie konnten sich eine kleine Wellblechhütte mieten, sie mußten aber weglaufen, wenn Polizei kam und sie durften nie sagen, daß sie die Hütte gemietet hatten. Einige Leute versuchten, sie im Drogenhandel oder als Kuriere einzusetzen, man bot ihnen an, sie im Sexgeschäft zu vermitteln, aber sie wollten nicht. Schließlich bekamen sie Arbeit bei einer Frau, die mit einer Fliegenden Küche Suppen verkaufte, wo Suwa mitarbeiten konnte, und bei einem fahrbaren Grill, wo Tong mitgehen konnte. Sie sollten kein Geld, aber etwas zu essen bekommen. Mehr war nicht zu erwarten. Aber sie waren zufrieden, denn sie hatten jetzt wenigstens eine Beschäftigung.
Aber die war nicht von langer Dauer. Tong war noch keine zwei Wochen mit dem fahrbaren Grill unterwegs, als der Inhaber überprüft wurde. Tong konnte weglaufen und der Inhaber des Grills sagte, er kennt den Jungen nicht, er hätte sich nur mit ihm unterhalten. Aber Tong war seine Stelle los und da mehrere Überprüfungen stattgefunden hatten, konnte auch Suwa nicht mehr mit dem Suppenstand mitgehen. Man überprüfte die Personalien, die Lizenzen und die ‘Verkehrssicherheit’ der Fahrzeuge und ließ die Inhaber eine Strafe zahlen, ohne Quittung natürlich. Der Staat hatte wieder einmal geholfen. Damit alles seine Ordnung hat und die Beamten ihr Gehalt aufbessern konnten. Passend dazu standen in den Zeitungen Berichte über die Schaffung einer sozialen Ordnung und sozialer Gerechtigkeit.
Nun war auch diese Möglichkeit zerstört. Tong und Suwa hatten nichts mehr zu tun. Sie hatten ja noch Geld zum Leben, aber es ist entsetzlich langweilig, wochenlang in einer Blechhütte zu sitzen und auf die Volljährigkeit zu warten, weil der Staat sie schützt. Jetzt hatten sie nur noch die Möglichkeit, etwas im Drogenhandel oder im Sexgeschäft zu tun. Tong bekam einen Aushilfsjob beim Betonieren von Fundamenten. Als er am dritten Tag nachhause kam, lag Suwa blutend in der Hütte. Sie war vergewaltigt worden. Suwa verstand, daß das ihr Recht war. Jeder konnte sie vergewaltigen, denn sie konnte weder zur Polizei noch in ein Krankenhaus gehen, wenn sie nicht hinter Gitter wollte, denn der Staat wollte sie ja beschützen.
Tong hatte gut gearbeitet, deshalb bekam er einen weiteren Aushilfsjob beim Bau, freilich erhielt er nur fünfzig Baht am Tag, einen Euro, denn er war ja jugendlich, also illegal. Er arbeitete fast einen Monat. Dann kam eine Razzia. Man suchte illegale ausländische Arbeiter. Sot kannte inzwischen einige der Arbeiter. Als die Razzia begann, ging er sofort weg. Als man ihn anhielt, sagte er, daß er seinem Vater das Essen gebracht hatte und zeigte auf einen der Arbeiter. Weil der das bestätigte und Tong offensichtlich kein ausländischer Arbeiter war, ließ man ihn laufen. Aber wieder hatte er eine Arbeitsstelle verloren und keine Möglichkeit einer Beschäftigung..
Suwa sagte ihm, sie hat Angst um ihr Geld. Sie wollte mit ihm zusammen zum Schuppen fahren, um mehr von dem Geld zu holen. Sie hatte Angst, daß es gestohlen werden könnte, wenn sie nicht mehr dort leben. Außerdem wäre es sicher gut, wenn sie sich bei ihrem Altwarenhändler meldeten und die Schuppenmiete bezahlten. Vielleicht könnten sie wieder Altwaren sammeln. Sie fuhren gemeinsam hin und füllten die Taschen, die sie in der Unterhose trugen, aber sie vereinbarten, nur das Allernotwendigste auszugeben, weil sie ja mit diesem Geld ein neues Leben beginnen wollten, wenn sie erst einmal volljährig waren, und Tok wäre der erste, der das Geld dafür braucht. Sie hatten Fleisch, Obst und Zigaretten gekauft und gingen nun den Altwarenhändler besuchen.
Dort hatten sie auch ihren Hund Nong untergebracht und das Futter bezahlt. Er war vor Freude außer sich, tänzelte schwanzwedelnd auf sie zu, sprang sie an, legte die Pfoten auf ihre Schultern und war gar nicht mehr zu beruhigen. Sie erzählten dem Händler, was sie jetzt tun und fragten, ob sich die Situation beruhigt hat und ob sie nicht wieder für ihn arbeiten könnten, doch er sagte, daß er jetzt viele Probleme und viele Kontrollen erlebt. Außerdem muß er jetzt vom jedem, der bei ihm etwas verkauft, einen Ausweis sehen und Namen und Adressen aufschreiben. Er kann vielleicht einige Sachen dazwischenschmuggeln, aber das reichte nicht mehr zum Leben und sie würden zu leicht in eine Kontrolle geraten. So bezahlten sie zwar den Schuppen und das Futter für den Hund, vorsichtshalber für drei Monate, doch dann verabschiedeten sich und Suwa weinte, weil der Hund sich gar nicht von ihnen trennen wollte, sie ihn aber nicht mitnehmen konnten. Sie fuhren mit dem Bus durch die Stadt und wieder in ihre Wellblechhütte in Klong Toey. Die Lage war hoffnungslos, sie konnten nichts tun, mußten sich verstecken und warten, bis sie achtzehn Jahre alt wurden, damit sie die Straße betreten und Arbeit suchen durften.
Hoffnungslos hingen sie in ihrer Blechhütte, tagelang, wochenlang. Zwischendurch bekam Tong irgendwelche Aushilfsarbeiten, aber das war selten, denn niemand durfte ihn einstellen. Eines Tages sagte Suwa, daß sie in einem kleinen Restaurant als Aushilfe arbeiten kann. Sie gab Tong die Anschrift und bat ihn, kurz einmal hineinzuschauen, weil sie den Leuten nicht traut, die sie eingestellt hatten. Tong ging am Abend vorbei, aber er konnte Suwa nicht finden. Der Eigentümer wußte nichts von Suwa und sagte, daß sie hier nicht arbeitet, daß er keine minderjährigen Aushilfskräfte einstellen darf und auch niemand gesucht hat. Es muß sich um ein anderes Restaurant handeln. Tong fand weder Suwa, noch die Männer, die sie abgeholt hatten. Er konnte nichts weiter machen, als das versteckte Geld aus der Holzhütte zu holen. Er befürchtete, daß man Suwa zwingen könnte, das Versteck preiszugeben.
Es dauerte ein halbes Jahr, bis Suwa wiederkam. Sie war knochendürr, hinkte, hatte ein verbeultes Gesicht und blutete an der Schulter. Die zwei Männer, die sie zu ihrer neuen Arbeit bringen wollten, hatten sie eingesperrt, ihr das Geld abgenommen, sie vergewaltigt und als Prostituierte vermietet. Sie war viel geschlagen worden, weil sie versucht hatte, wegzulaufen und man hatte sie in eine Dachkammer gesperrt, aus der man sie nur geholt hatte, um Kunden zu bedienen. Einer dieser Kunden schenkte ihr ein Taschenmesser, das er zufällig bei sich hatte. Damit konnte sie ein Loch in die Decke schneiden und über das Dach flüchten, wobei sie sich verletzt hat. Sie blieb längere Zeit in der Blechhütte, bis ihre Wunden verheilt waren. Dann ließ sie sich von Männern mitnehmen. Sie erklärte Tong, daß einige Männer zu ihr nett gewesen waren und daß sie sich bei ihnen viel besser gefühlt hatte, als alleine in der Blechhütte. Tong verstand. Er hatte im Slum gelernt, daß Gesetze und Moral nicht zählten, sie waren eine Maßnahme der Reichen, damit die Reichen reicher wurden. Im Slum zählte nur das nackte Überleben. Man paßte sich den Reichen an; wer Geld verdiente, hatte Recht. Da gab es keine Moral, keinen Anstand und keine Rücksicht.
So kam es, daß er als Drogenkurier arbeitete. Die Händler brachten ihre Ware nicht selbst zu den Kunden und Tong hatte sich überlegt, wie er Drogen schnell verschwinden lassen konnte, wenn man ihn schnappen sollte. Er müßte nur vorsichtig sein, hatten die Händler ihm gesagt. Und dann hatte er einen Händler gefunden, der ‘heiße’ Altwaren annahm, Kabel, Telefonleitungen, Baugerüste etc. Solche Sachen zu beschaffen und Drogen an Kunden zu bringen, war jetzt seine Beschäftigung. Es gab nichts anderes, was er tun konnte. Suwa hatte jemand gefunden, der sie an Männer vermittelte. Das war nun ihr Beruf und ihre Gesellschaft. Auch sie konnte nichts anderes tun. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als kriminell zu sein, weil sie ja als Jugendliche vom Gesetz und vom Staat beschützt wurden, was der allerdings nur hinter Gittern durchführt.
So vergingen Jahre, in denen sie darauf warten mußten, ihr Leben leben zu dürfen, oder das, was davon noch übrig war. Eines Tages hörten sie vom Altwarenhändler, daß Pok geschrieben hat. Er war zur Armee eingezogen worden. Tong und Suwa sollten das Geld benutzen, um sich in Sicherheit zu bringen oder eine Existenz aufzubauen. Er würde kein Geld mehr brauchen. Sie machten sich Sorgen um Pok, aber sie konnten nichts unternehmen und Pok hatte nur mitgeteilt, daß er vorläufig noch keine Anschrift hat.
Tong wurde volljährig. Endlich konnte er leben, ohne sich verstecken zu müssen. Er ging zu einer Fahrschule, bestand die Führerscheinprüfung und kaufte einen Lieferwagen. Damit konnte er effektiv Altpapier, Flaschen und andere Sachen sammeln und verkaufen, die er wieder zu seinem Händler brachte, diesmal mit einem gültigen Ausweis und völlig legal. Er wollte mit Suwa arbeiten, aber er konnte sie nicht finden und niemand wußte, wo sie war. Er meinte, das sei nicht schlimm, denn er mußte ohnehin warten, bis sie achtzehn Jahre alt wurde. Auf einer seiner Fahrten fand er einen Jungen, der mit einem kleinen Handkarren Altpapier sammelte. Er sagte, er ist achtzehn Jahre alt und kommt aus Buriram. Er war froh, daß Tong ihn einstellte, daß er bei ihm wohnen und mit ihm zusammen arbeiten konnte. Mit einem Lieferwagen konnten sie gut arbeiten und Geld verdienen.
Als er Suwa nach einigen Monaten traf, sagte sie, daß sie gerade mit einem Mann zusammen lebt und arbeitet, bis seine Frau die Geburt eines Kindes hinter sich gebracht hat und mit dem Säugling aus ihrem Heimatdorf zurückkommt. Dann mußte sie den Mann verlassen und wollte wieder mit Tong zusammenarbeiten. Doch Tong geriet in eine Kontrolle und zeigte bedenkenlos seine Papiere vor. Aber der Junge, der mit ihm arbeitete, hatte keinen Ausweis. Er wurde von der Polizei zur Personenüberprüfung mitgenommen. Und dann kam die Polizei, verhaftete Tong und brachte ihn hinter Gitter. Der Junge kam aus Kambodscha, einige Kilometer hinter Buriram, weshalb er Thai und Khmer sprach, und er war erst sechzehn Jahre alt und keine achtzehn. Tong wurde inhaftiert, weil er einen Jugendlichen beschäftigt hatte, weil er einen illegalen Ausländer ‘Unterschlupf gewährt’ und ihm Arbeit gegeben hatte. Da er nun nachweislich kriminell war, wurde auch eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Dabei wurde das Geld gefunden, das die Geschwister gespart hatten. Es wurde beschlagnahmt und verschwand, weil es ‘illegal beschafft’ worden war. Auch das Auto wurde beschlagnahmt, weil es angeblich zu einer illegalen Tätigkeit verwandt worden war.
Bei einer Durchsuchung des Lieferwagens fand man in einer Sitzspalte ein Stück Haschisch. Das hatte Tong zwar nie gesehen, als Besitzer des Wagens war er aber dafür verantwortlich. Tong kam als Drogenhändler und wegen seiner Vergehen gegen das Einwanderungsgesetz und das Jugendschutzgesetz ins Gefängnis. Für die Richter war er bei so vielen Vergehen ein Schwerverbrecher, der den minderjährigen Kambodschaner vermutlich zum Drogenhandel eingesetzt hat. Man schickte ihn für viele Jahre ins Gefängnis. Tong meinte, das hatte nichts mit Recht zu tun, sondern nur mit dem Gesetz und einem Staat, für den die Bürger keine Menschen sind und nur so weit interessant, wie sie ihm oder den Beamten Geld einbringen.
Als letzte der drei Geschwister wurde Suwa volljährig. Sie konnte jetzt alles tun, was sie wollte. Sie beschaffte sich einen neuen Ausweis und durfte sich jetzt auch bei der Polizei sehen lassen. Sie erkundigte sich nach Tong und hörte, daß er als Drogenhändler im Gefängnis ist. Sie besuchte ihn, aber sie konnte ihm nicht helfen. Sie tat alles, was sie konnte; sie ging nach Pattaya und suchte Arbeit in einer Bar. Um zu überleben. Nicht, um einen Farang zu suchen, mit dem sie leben konnte, denn sie konnte mit keinem Menschen leben. Sie konnte nur mit Mühe etwas Thai lesen, nicht genug, um Englisch lernen zu können. Sie würde nicht in der Lage sein, Englisch zu lernen, wenn man von einigen Wörtern absah, die sie nachplappern lernte. Sie kannte kein Bett, keine Dusche, sie wußte nicht, wie sie sich schön anziehen konnte, sie konnte für einen Farang nicht einmal Frühstück machen, kochen oder auch nur putzen.
Sie konnte nicht verstehen, was die Männer von ihr erwarteten. Sie wußte, daß sie zu nichts zu gebrauchen war, daß sie niemand helfen konnte, mit niemand sprechen und niemand verstehen konnte. Sie wußte nur, daß sie dumm war, nichts gelernt hatte und nichts mehr lernen konnte, und daß es nichts nützte, wenn sie alles tat, was sie konnte, damit ein Mensch mit ihr zufrieden war, denn sie konnte nichts. Sie wußte, daß man ihren Körper gebrauchen würde, solange sie jung war. Wenn man damit fertig war, schickte man sie weg. Sie war sonst zu nichts zu gebrauchen. Und wenn sie älter wurde, würde man sie nicht mehr sehen wollen, dann wollte man sie auch nicht mehr im Bett haben. Aber das war nicht ihre größte Sorge, dann würde sie wieder Altwaren sammeln, das war das Einzige, was sie konnte, was aber zum Überleben reichte.
Ihre größte Sorge war eine ganz andere. Die sagte sie ihrer Puppe, als sie sich zum Schlafen unter die Theke der Bar legte, weil sie keinen anderen Schlafplatz hatte. Unhörbar bewegte sie ihre Lippen, als sie der Puppe sagte: „Bitte, bitte, verlaß’ Du mich nicht auch noch. Ich hab’ Dich die ganzen Jahre behütet und war immer bei Dir. Bitte, bleib’ jetzt bei mir; ich hab’ doch sonst niemand mehr, der mich mag.“
Und die Barmädchen lachten sie aus, stupsten sie mit Füßen an und bespritzten sie mit Wasser, weil ein Mädchen, das nicht schick angezogen ist, mit achtzehn Jahren noch mit so einer vergammelten Puppe schläft und mit ihr auch noch spricht, bestimmt nicht normal ist und sicher nicht in eine Bar paßt.
von Dr.G.M. Gad Labudda