Member
von Dr.G.M. Gad Labudda
Siebenter Teil:
Nun war Muu wieder auf dem Weg nach Bangkok, um ihr eigenes Leben zu suchen, aber die Chancen waren gering. Bis zu dem Tag, an dem sie das erste Mal nach Bangkok gefahren war, hatte sie nur unter Zwängen gestanden, denen sie sich fügen musste. Deshalb hatte sie in Bangkok nur wenige Chancen gehabt. Dennoch hätte sie aus ihrem Leben vielleicht noch etwas machen können, aber dann hatte sie einen Menschen getroffen, der ein Dieb und ein Betrüger war, einen Menschen, der nur sein Vergnügen gesucht hatte und dann verschwunden war. Sie hatte diesen Menschen gebraucht und geglaubt, ihn zu lieben, sie hatte ihm vertraut und dadurch hatte sie ihre Chancen verspielt.
Nun hatte sie ein Kind und musste sich wieder Zwängen fügen, jenen Zwängen, die sich daraus ergaben, dass sie ihr Kind ernähren musste, ein Kind, in dessen Nähe sie noch nicht einmal sein konnte, weil sie arbeiten musste, um es zu ernähren. Und sie musste dazu beitragen, die Schwestern zu ernähren, die nun ihr Kind aufzogen, auch wenn diese nichts für ihre Arbeit verlangten. Wenn sie aber nichts bekamen, konnten sie auf lange Sicht selbst nicht leben und dann konnten sie auch nicht für das Kind sorgen. Selbst wenn Muu jetzt eine Arbeit als Wäscherin, in einem Hotel oder einer Fabrik bekäme, reichte das Geld kaum, um leben zu können, aber niemals, um auch noch Geld für die Versorgung ihres Kindes zu zahlen und so blieb nur eine Arbeit in einer Bar übrig.
Da Muu erst am späten Nachmittag in Bangkok ankam, ging sie gleich zu ihrer Freundin Daeng. Die hatte alles versucht, um zu verhindern, dass Muu in einer Bar arbeiten muss, aber sie hatte nicht viel Erfolg. Eine Firma, die Handel mit Laos und Kambodscha betrieb, war bereit, Muu für die Handelskorrespondenz einzustellen, ihr Gehalt würde aber nur 2.400 Baht betragen. Daeng bot Muu noch einmal an, dass sie bei ihr umsonst wohnen kann, aber schliesslich waren sich beide Frauen darüber einig, dass das Geld nicht reichte. An dem traurigen letzten Abend meinten sie, es wäre für Muu das Beste, ihr Glück in Pattaya zu suchen. Nach dem Aufbau des Standes am nächsten Morgen lagen sie sich beim Abschied mit Tränen in den Armen und dann fuhr Muu nach Pattaya.
Die Busfahrt war voller Grübeleien über die Vergangenheit und Sorgen über die Zukunft. Wieder einmal war sie mit einem Beutel voller Habseligkeiten unterwegs, um ihr eigenes Leben zu suchen - oder einfach nur zu überleben. Die meisten Sachen hatte sie bei Daeng gelassen und nur etwas Wäsche, das Englischbuch vom Hotel und einige andere Bücher mitgenommen. Wie oft würde sie noch mit einem Beutel in fremde Städte fahren müssen, um zu überleben? Und warum war das so? Sie hatte nichts Böses getan, sie hatte versucht, zu lernen, solange man es ihr erlaubte, und sie hatte versucht, mit anderen Menschen gemeinsam zu leben. Das war nichts Böses und das war auch nicht falsch. Aber sie hatte keine Familie, kein Geld und vor allen Dingen hatte sie zu viel Vertrauen gehabt, zuviele Erwartungen an ein glückliches Leben, das sie durch einen anderen Menschen haben wollte. Das war ihr Fehler und dafür musste sie bezahlen, mit ihrer Arbeit, mit ihrem Körper.
Sie hatte Angst. Angst vor den fremden Männern, die alle ,Farang‘ sein sollten, Männer aus Europa und aus Amerika. Aber noch mehr Angst vor dem Alleinsein. Sicher, sie war früher sehr oft allein. Sie war dabei unglücklich gewesen und das hatte sie überstanden. Aber nun war sie lange Zeit mit Monea und ihrer Schwester und dann mit Daeng zusammen gewesen. Und nun war sie wieder allein, sie kannte sich in Pattaya nicht aus, kannte keinen Menschen und sie wusste noch nicht einmal, wo sie Arbeit suchen und die nächsten Tage bleiben sollte. Sie dachte an Daeng und dass sie bei ihrem Einzug in Bangkok viel Glück gehabt hatte.
Als sie die Strasse entlang ging und einen Essensstand sah, der von einer Frau betrieben wurde, setzte sie sich und bestellte einen Teller Reis mit Huhn. Als sie die Frau nach Arbeit fragte, machte die eine weitausladende Handbewegung und meinte nur, Bars gebe es überall, sie soll da einmal fragen. Und als Muu nach Unterkünften fragte, sagte die Frau, wenn sie eine Arbeit hat, dann könnten ihr die Mädchen an der Bar vielleicht sagen, wo es eine Unterkunft in der Nähe der Bar gibt. Muu ging weiter ins Zentrum. Als sie an einer Bar vorbeikam, wo trotz der Mittagszeit mehrere Mädchen waren und etwas assen, ging sie hin, um sich Informationen zu holen. Die Mädchen fragten aber erst einmal, wo sie her kam. Muu wusste erst nicht recht, was sie sagen sollte.
Als sie sagte, sie sei in Buriram geboren, aber dann in Si Saket zur Schule gegangen, meldete sich gleich ein Mädchen, das Lao sprach und sagte, es käme auch aus Si Saket, zusammen mit vier anderen Mädchen, die auch an dieser Bar arbeiteten und alle kämen aus dem Isan. Muu wurde eingeladen, mitzuessen und wurde gefragt, ob sie Kinder hat. Als sie sagte, sie hat eine Tochter in Surin, nickten die Mädchen und sagten, wo sie ihre Kinder hatten. Fragen waren überflüssig. Wenn ein Mädchen nach Pattaya kam und Arbeit suchte, dann war es normal, wenn es in Buriram geboren, in Si Saket zur Schule gegangen war und ein Kind in Surin hat. Muu gehörte also zu ihrem Kreis. Ein Mädchen dagegen, das aus Bangkok kam und keine Kinder hat, wäre eher eine Aussenseiterin.
Muu hörte, dass die Situation sehr schlecht ist und nicht viele Farang, die westlichen Ausländer, an den Bars zu sehen sind. Dann sagte man ihr, sie sollte es am besten in Südpattaya versuchen, da wäre noch ganz guter Betrieb. Hier an dieser Bar hätten gerade drei Neue angefangen und deswegen seien die Chancen hier nicht gut. Man empfahl ihr, von der Central Road die Strandstrasse oder die Second Road bis ins Fussgängerzentrum an der Soi Diamond zu gehen und dort zu fragen. Ein Mädchen sagte: „Wenn Du nichts findest, kommst Du zurück, dann versuchen wir, den Boss zu überreden und sagen ihm, Du wärst eine langjährige Freundin.“ Nachdem Muu noch eine Weile mit den Mädchen verbracht hatte, bedankte sie sich und machte sich auf den Weg.
Da die Bars erst am Abend richtig besetzt waren und die Inhaber allgemein etwas später kamen, nahm Muu sich die Zeit, die Gegend erst einmal richtig anzusehen. Sie ging über die Strandstrasse und durch die belebteren Querstrassen zur Second Road und wieder zurück, bis sie an der Soi Diamond angelangt war. Unterwegs hielt sie noch an einigen Bars, wo Mädchen zusammen sassen und liess sich noch Informationen über einzelne Bars geben. Diese Hinweise waren zwar spärlich, halfen aber doch weiter. Schliesslich wollte sie gezielt zu vier Bars gehen, die sie sich gemerkt hatte, aber sie wurde schon bei der ersten Bar angenommen. Die Bar war verkehrsgünstig gelegen und es sassen auch schon einige Gäste da, während nur wenige Mädchen hinter der Theke standen. Die Bar hatte kürzlich den Besitzer gewechselt und der neue Inhaber suchte dringend eine neue Belegschaft. Muu sollte am nächsten Tag anfangen.
Als sie nach einer Schlafstelle fragte, erklärte ein Mädchen namens Nam, dass bei ihm ein Schlafplatz frei ist, wenn sie sich an der Miete beteiligen kann. Muu war das sehr recht. Sie sagte zu und erklärte, sie würde dann in der Bar sitzen bleiben und warten, bis sie zusammen gehen könnten. Sie wollte jetzt nicht alleine sein. Um vier Uhr morgens ging sie zusammen mit Nam nachhause. Das Zimmer hatte Matten auf dem Fussboden, eine kleine Küche und einen Waschplatz. Das war vorläufig ausreichend. Muu zahlte ihren Mietanteil und sie gingen schlafen.
Als sie am nächsten Tag gemeinsam zur Bar gingen, erklärte Nam, dass Muu mit ihrem Geld sehr sparsam umgehen muss, weil sie nicht damit rechnen kann, in den ersten Tagen schon Kunden zu finden. Dazu müsste sie erst lernen, mit den Kunden umzugehen und sie müsste mit den Kunden sprechen können. Noch wichtiger wäre vielleicht, dass sie lernt, wie sie sich an die Kunden heranmachen muss, damit sie ausgelöst wird, aber das kann sie in der Bar lernen, wenn sie gut aufpasst, wie die anderen Mädchen das machen. Tatsächlich hatte Muu in den ersten zehn Tagen keinen Kunden, aber sie lernte, wie die Getränke heissen und in welchen Gläsern sie gebracht werden, wie die Mädchen sich verhalten, wenn Gäste kamen und was sie machten, um ausgelöst zu werden.
Unterdessen wurde Muu von ihren Kolleginnen eingearbeitet. Sie hörte, dass sie auf keinen Fall sagen darf, dass sie ein Kind hat, dass sie immer nach Ladydrinks fragen muss, Geld für die Toilette, für Früchte, fürs Taxi nachhause und zum Essen verlangen muss. Wenn sie mehreren Farang sagt, dass sie kein Geld zum Essen hat, dann geben ihr manche Farang Geld, damit kann sie an guten Tagen auf einhundert Baht kommen, erklärte ihr ein Mädchen. Und für die Toilette geben ihr die Farang nicht nur die drei Baht, die sie dort bezahlen muss, sondern meist zehn oder sogar zwanzig Baht, wenn man also mehrmals geht, kommt meistens das Geld für das Essen zusammen und sie braucht ja nicht wirklich auf die Toilette zu gehen, sondern nur ein Stückchen von der Bar weg, um dann nach fünf Minuten wiederzukommen.
Als Muu fragte, ob die Farang sich denn nicht betrogen und ausgenommen fühlen und dann vielleicht nicht mehr wiederkommen, sagte ihr die Kollegin, dass die Farang alle dumm sind und es sei leicht, sie auszunehmen. Schliesslich sei Muu ja gekommen, um Geld zu machen und dann müsse sie auch alle Möglichkeiten dazu ausnützen. Muu sah das anders, aber es hatte sicherlich keinen Sinn, das der Kollegin zu erklären. Vielleicht war es auch so, dass man härter und rücksichtsloser wird, wenn man längere Zeit in diesem Beruf arbeitet, dachte sie. Es war ihr völlig klar, dass die Mädchen bei dieser Tätigkeit auch viele schlechte Erfahrungen machten. Mit recht unwohlen Gefühlen dachte sie an die Erfahrungen, die ihr selbst noch bevorstehen.
Während die meisten Mädchen an dieser Bar sich aufreizend kleideten, hatte Muu zwar auch die typisch thailändische Kleidung abgelegt, aber sie hatte sich einige einfache, dem europäischen Geschmack angenäherte Sachen gekauft, die dezent aussahen. Das würde zwar die Nachfrage nach ihr nicht sehr steigern, aber sie glaubte, damit wenigstens nicht zum Hauptziel für Männer zu werden, die nichts weiter suchten, als ein kurzes Vergnügen, ein brauchbares Stück Fleisch zur Nacht. Sie hoffte, dass das Geld vielleicht auch ohne solch unangenehme Bekanntschaften reichte, wenn sie ihre Ausgaben einschränkt und sparsam lebt.
Wahrscheinlich war es neben ihrem Verhalten tatsächlich ihre Kleidung, die vielen Männern signalisierte, dass sie kein Interesse an vielen amourösen Erlebnissen hatte, was aber der Grund für ihren ersten Kunden war, sich für sie zu interessieren. Ernst war wirklich ernst und er hatte gar nicht viel für die Mädchen übrig, die sich gleich auf jeden Mann warfen, der an die Bar kam, deshalb interessierte er sich für Muu. Er war der Überzeugung, dass auch etwas Sympathie und etwas Gemeinsamkeit dazugehört, wenn man gemeinsam ins Bett geht. Er war sich zwar klar darüber, dass die Mädchen das nicht so aussuchen konnten, wie sie wollten, aber dafür hatte er ja diese Möglichkeit. Bisher hatte er mit diesem gedanklichen Hintergrund zwar nicht viel Erfolg gehabt, denn er hatte hier vorwiegend garantiert gefühlsfreie bis apathische Frauen kennengelernt, aber er wollte nicht aufgeben, denn er hatte gar keine Lust, mit einem herumhopsenden und -schreienden Kleinkind ins Bett zu gehen, nur weil es sich durch einen sexuell brauchbaren Körper auszeichnete.
Er war früh am Abend gekommen und versuchte, sich mit Muu etwas zu unterhalten, was zwar nicht ganz einfach war, sich aber doch als möglich erwies. Auf Muu machte er einen zurückhaltenden, aber freundlichen Eindruck. Nachdem sie längere Zeit miteinander gesprochen hatten, war sie zunächst erschrocken, als er sie fragte, ob er sie auslösen kann. Sie hatte ihn für einen netten Menschen gehalten und gedacht, dass nette Menschen so etwas nicht tun. Aber es dauerte nicht lange, bis sie sich darauf besann, warum sie hier war und dass sie Geld verdienen musste und dass Ernst doch noch einen weit besseren Eindruck auf sie machte, als die meisten Männer, die sie hier gesehen hatte.
Achter Teil:
Muu war etwas bedrückt, als Ernst mit ihr loszog, aber zu ihrer Erleichterung ging es nicht gleich ins Hotel, vielmehr ging er mit ihr in ein Restaurant und sagte Muu, dass sie hoffentlich noch etwas essen kann, denn er hätte weder Lust gehabt, alleine in ein Restaurant zu gehen, noch hatte er Lust, alleine zu essen. Muu bestellte sich nur ein einfaches Reisgericht und war mit einem Glas Wasser zufrieden. Ernst erklärte, dass er lieber in einem Restaurant sitzt, als an einer Bar, weil man sich viel besser unterhalten kann. Die Aussicht, sich nun auf Englisch unterhalten zu müssen, schien Muu gar nicht verlockend, aber sie kämpfte sich durch, obwohl Ernst viele Fragen über Thailand stellte.
Er fragte nach der Regierungspolitik als auch über Investitionsmöglichkeiten, über thailändische Kunst und Kultur, über die unterschiedlichen Traditionen in den verschiedenen Landesteilen und über die Lebensgewohnheiten auf dem Lande. Für ihn war es selbstverständlich, dass jeder Mensch darüber zumindest in seinem eigenen Land Bescheid weiss. Muu jedoch war froh, dass sie in Surin und in Bangkok immer die Zeitungen gelesen hatte, merkte aber, dass sie schon nicht mehr ganz auf dem Laufenden war und nahm sich vor, wieder mehr Zeitungen zu lesen, auch weil sie sich mit den Büchern, die sie gerade über Gesellschaftspolitik las, gut verbinden und besser verstehen liessen. Ausserdem bemerkte sie, dass ihr die Übung fehlt und dass sie viel mehr Englisch sprechen sollte.
Muu war nach ihren verzweifelten Anstrengungen doch froh, als Ernst schliesslich über Deutschland erzählte, denn es war doch einfacher, zuzuhören, als selbst zu sprechen. Manchmal, wenn auch nicht immer, fragte sie, wenn sie etwas nicht verstanden hatte und Ernst erklärte es ihr. Aber Ernst sprach kaum über sich selbst, wie er auch wenige Fragen über Muu gestellt hatte. Er erzählte nichts über seine Vergangenheit oder über seine Familie und Muu wusste noch nicht einmal, ob er verheiratet war oder was er beruflich macht. Als ein Mädchen ihn an der Bar einmal danach fragte, hatte er nur etwas spöttisch geantwortet, dass er in Deutschland arbeitet, weil er für den Urlaub in Thailand nicht bezahlt wird. So verbrachten sie noch längere Zeit in dem Restaurant mit der Unterhaltung, wobei Muu es als positiv ansah, dass Ernst nur noch einen Kaffee und keinen Alkohol trank. Aber es war klar, dass diese Unterhaltung zu Ende gehen musste und sie schliesslich mit Ernst in sein Hotel zu gehen hatte.
Als Ernst die Rechnung bezahlt hatte, gingen sie zu Fuss zum Hotel, das nicht weit entfernt war. Dort ging er jedoch erst an den Kühlschrank und fragte Muu, ob sie etwas trinken möchte. Um die Zeit hinauszuzögern, bat sie um ein Glas Limonade, das sie ganz langsam trank. Muu war sehr unsicher und nervös. Sie hatte Ernst schon erzählt, dass sie eine Tochter hat und sie hatte ihm auch erzählt, dass er der erste Ausländer oder ihr erster Kunde ist. Darauf hatte Ernst nichts gesagt, sondern nur etwas gelächelt, aber es war nicht zu erkennen gewesen, weshalb. Ob er ihr vielleicht nicht glaubte? Sie erinnerte sich daran, dass ihre Kolleginnen ihr geraten hatten, nie zu sagen, dass sie ein Kind hat und immer zu sagen, dass sie gerade erst nach Pattaya gekommen ist, dass sie immer sagen soll, sie hätte erst wenige Kunden gehabt, am besten, dass sie noch nie einen Kunden gehabt hat und dass der Farang, der sie mitnahm, der Erste sei. Wenn Ernst nun schon mehrere Mädchen getroffen hatte, die ihm gesagt hatten, dass er der Erste sei, dann würde er ihr sicher nicht glauben. Ernst aber sagte nichts dazu.
Muu wusste nun gar nicht, wie sie sich verhalten sollte, aber das war nicht weiter schlimm, denn daran sah Ernst, dass Muu wirklich nicht viel Erfahrung hatte, was ihn nicht im Geringsten störte. Er liess zwar nicht von seinem Vorhaben ab, denn Muu hatte ja selbst zugestimmt und er wollte nicht aus Mitleid Almosen verteilen, zumal sie ja mit dem nächsten Mann wohl doch ins Bett gehen würde, warum also nicht mit ihm? Aber er hatte Verständnis für ihre Situation und liess ihr Zeit. Und dann war er sehr rücksichtsvoll und zärtlich, bis Muu sich etwas auflockerte. Ernst schlief schnell ein, während es bei Muu noch einige Stunden dauern sollte. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, bis sich Vergangenheit und Zukunft in ihren Gedanken mischten und sie schliesslich schlief.
Am frühen Morgen schon wurde Muu wach. Vielleicht hatte sie Glück gehabt; die Nacht mit dem Farang war nicht so schlimm gewesen, wie sie es aus Erzählungen ihrer Kolleginnen gehört hatte. Sie blieb noch einige Zeit in Gedanken versunken liegen, die sie aber nicht klären konnte und so stand sie leise auf, um Ernst nicht zu wecken, doch als sie gerade seine Wäsche gewaschen hatte, wachte auch Ernst auf und stellte sich unter die Dusche. Beim gemeinsamen Frühstück - ,Continental Breakfast‘ für ihn und Reissuppe für sie - stellte Ernst diesmal keine Fragen über Thailand, sondern wollte etwas über Muus Leben erfahren.
Er wusste nicht recht, ob es wegen der Verständigungsschwierigkeiten war, oder ob Muu nicht gerne über sich oder ihr Leben sprach, wenn sie immer nur sehr kurz und knapp antwortete. Schliesslich erzählte er etwas über andere europäische Länder, die er bereist hatte. Da Ernst einige Hemden für das heisse Klima Thailands brauchte, zogen sie nach dem Frühstück gemeinsam los, um passende Hemden zu suchen. Sie bummelten an der Strandstrasse entlang und gingen auch in das Kaufhaus ,Modern City‘, das Muu inzwischen schon als besonders preiswert kannte, und zu ,Mike’s Shopping Mall‘ an der Second Road.
Der Einkauf zögerte sich etwas hinaus und sie gingen zum Essen in ein Restaurant, bevor sie ins Hotel zurückkehrten. Dort nahm Ernst einige Berichte, die er noch zu lesen hatte und setzte sich an den Pool. Er war erstaunt, dass Muu sich zwei Zeitungen mitnahm und las, bis sie sagte, sie müsse jetzt nachhause gehen und sich umziehen, weil sie dann gleich wieder zur Arbeit an die Bar gehen muss. Ernst fragte, ob er sie wieder zum Essen einladen darf und als Muu sich mit einem Wai bedankte, dem Zusammenlegen der Hände vor dem Kinn des gesenkten Kopfeses, sagte er, dass er am Abend auf jeden Fall zu ihr an die Bar kommen wird, nachdem er die Berichte durchgearbeitet hat.
Ernst blieb noch zwölf Tage und während dieser Zeit blieb Muu bei ihm. Sie unternahmen einige wenige Ausflüge, gingen nur hin und wieder einmal zu einem Einkaufsbummel in die Stadt und verbrachten die meiste Zeit an den Stränden von Pattaya und von Jomthien und mit Büchern oder Zeitungen am Pool des Hotels. Es war für Muu ein hervorragender Geschäftserfolg, der es ihr erlaubte, ihrer Freundin Monea für die Versorgung ihrer Tochter Geld zu schicken. Da Ernst aber die Unterhaltung mit ihr Spass zu machen schien, bedeutete es für Muu, dass sie alle zwölf Tage lang Kopfschmerzen hatte, denn bei ihrem noch geringfügigen Vokabular war es doch sehr anstrengend, den ganzen Tag Englisch zu sprechen.
Ernst hatte aber Verständnis und erklärte ihr alle Worte, die sie nicht kannte. Er half ihr auch durch Rückfragen bei der richtigen Formulierung ihrer Aussagen, wodurch ihre Englischkenntnisse in dieser Zeit gewaltige Fortschritte machten. Was Muu eigentlich irritierte, war, dass Ernst zwar mit ihrer Anwesenheit zufrieden zu sein schien, aber niemals etwas davon sagte, dass er sie mochte, ob er wiederkommen würde oder ob er sie wiedersehen wollte. Er hatte gesagt, wann er wieder nach Europa fliegt und an diesem Datum änderte sich auch nichts.
Am Abreisetag musste Ernst spät nachmittags nach Bangkok fahren, um rechtzeitig auf dem Flughafen zu sein. Als Muu fragte, ob sie ihn zum Flughafen bringen sollte, meinte er, sie solle sich keine Sorgen machen; er hätte volles Vertrauen darin, dass der Taxifahrer den Flughafen findet und ausserdem sei der so gross, dass er ihn gar nicht verfehlen kann. Aber er bezahlte auch für die folgende Nacht und gab Muu noch ein schönes Trinkgeld obendrein. Was Muu aber viel mehr freute, waren zwei Bücher, die er für sie gekauft hatte. Es waren zwei Bücher mit Geschichten über Thailand, die aber in Englisch geschrieben waren und er meinte lächelnd, es würde ihr sicher mehr Spass machen, Englisch zu lesen, wenn es Geschichten über ihre Heimat sind.
Nur vorsichtshalber, sagte Ernst, sollte Muu ihm auch noch ihre Adresse aufschreiben, vielleicht würde er sich einmal melden, ihr einen Gruss schicken oder sie suchen, falls er wieder einmal nach Thailand kommt. Als er nach einer knappen letzten Verabschiedung ins Taxi einstieg, sagte er Moo noch, dass er auf dem Tisch seines Hotelzimmers, das noch bis zum nächsten Tag bezahlt war, ein Päckchen vergessen habe, das er aber im Moment nicht brauchte und bat Muu, es für ihn aufzuheben, bis er vielleicht später wieder einmal nach Pattaya kommt. Dann fuhr das Taxi ab und Ernst war mit einem letzten Winken um die Ecke verschwunden.
Muu ging in das Hoteltzimmer zurück, um nach dem ,vergessenen‘ Päckchen zu suchen. Sie fand ein offenen Kästchen mit einer goldenen Kette. Muu war verwirrt. Sollte die Kette für sie sein? Aber, hatte Ernst nicht gesagt, sie sollte das Päckchen für ihn aufheben, wenn er wieder nach Pattaya kommt? Also kann die Kette nicht für sie sein, entschied Muu, denn sie musste sie ja aufheben und zurückgeben. Sie wird sie zum Aufheben wohl tragen, nicht aber verkaufen dürfen, glaubte sie und vermutete, dass das wohl die Absicht von Ernst gewesen war.
Muu entschloss sich, an diesem Abend nicht in die Bar zu gehen. Die Auslösung und das Hotelzimmer waren bezahlt und es schläft sich im Hotelbett doch besser, als auf ihrer Bastmatte. Sie überlegte sich das Verhältnis, das sie mit Ernst hatte. Er war sehr zurückhaltend, aber immer freundlich gewesen, wenn auch nicht gerade romantisch. Für ihn schien Sexualität eine nebensächliche Selbstverständlichkeit zu sein und nicht der hauptsächliche Sinn einer Begegnung, wie sie es bei Somkiat, dem Vater ihrer Tochter, erlebt hatte, der verschwand, als sie schwanger wurde. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich mit Somkiat eigentlich nie richtig unterhalten hatte. Er hatte nicht viel Wissen, was er durch eine gewisse Selbstherrlichkeit und ,Männlichkeit‘ ersetzte, mit der er auch keinen Widerspruch duldete. Er war nie bereit gewesen, Gedanken aufzunehmen, hatte vielmehr ihre Gedanken und Äusserungen immer beiseite geschoben und das letzte Ziel war dann immer das Bett gewesen.
Sie erinnerte sich, dass Somkiat ihr einmal gesagt hatte, dass er sehr strenge Eltern gehabt hat, die sich aber nicht viel um ihn gekümmert haben. Der Vater war mit Geldverdienen und Vergnügungen beschäftigt und die Mutter hatte es nicht sehr lange bei ihm ausgehalten. Mit zehn Jahren war Somkiat praktisch allein gewesen. Die Mutter hatte drei jüngere Geschwister mitgenommen und er war beim Vater geblieben. Weil der Vater aber kaum einmal zu sehen war, wurde er von einer Nachbarin versorgt, wofür der Vater bezahlte. Die Versorgung bestand aber nur darin, dass die Nachbarin dem Jungen etwas zu essen gab. Somkiat hatte geschworen, nie so zu werden, wie der Vater.
Er trug ganz andere Kleidung, ging nicht zum Tempel und trug zum Protest bis zu den Ohren reichende Haare mit einem Mittelscheitel. Aber genau so wie der Vater suchte er nur Geld und Vergnügen. Muu bezweifelte heute, ob Somkiat wirklich echte Gefühle kannte. Er hatte von seinen Eltern wohl kaum echte Gefühle erhalten. Woher sollte er sie nun auf einmal haben? Er versuchte mit den Vergnügungen nur, vor sich wegzulaufen, sich zu betäuben, und mit dem Geld versuchte er, jemand zu sein. Sie war mit Somkiat nicht gern ins Bett gegangen, hatte es zunächst aus Neugierde, zum grössten Teil aber ihm zuliebe getan. Weil sie seine Zuneigung brauchte, um dann später zu erfahren, dass er keine Zuneigung für sie hatte, sondern als Zweckverhalten eine ihr unbekannte Zuneigung gespielt hatte, um mit ihr ins Bett zu kommen.
Sie war auch mit Ernst nicht gern ins Bett gegangen. Aber das war der Vertrag gewesen. Dafür hatte sie Geld bekommen. War sie nun eine Prostituierte, weil sie mit Ernst im Bett war, um Geld für ihre Tochter zu bekommen, aber sie war keine Prostituierte, weil sie mit Somchai im Bett war, um Zuneigung für sich zu bekommen? Und jene Frauen, die einen Mann heiraten oder heiraten müssen, den sie nicht lieben, nur weil er Geld hat und sie versorgen kann, sind keine Prostituierten? Was ist denn nun eine Prostituierte? Und was ist Liebe? Es waren viele Gedanken, die Muu durch den Kopf gingen und sie fand keine rechten Antworten.
Neunter Teil:
Sie sah, dass das Leben der Gesellschaft sich um Geld und Macht drehte, aber nicht um das Leben. War nun die Gesellschaft verrückt oder war sie verrückt? Überhaupt, was bedeutete es, verrückt zu sein? War es nicht der Zustand, von einem Ort oder einer Situation in eine andere gerückt zu sein? Oder von anderen Leuten zu einem anderen Ort oder in eine andere Situation gerückt worden zu sein? Möglicherweise von Leuten, die dann anschliessend den Vorwurf machen, dass der von ihnen Verrückte verrückt sei? Dann aber ist das ,Verrückt-Sein‘ nichts weiter, als eine inhaltlose Situationsbeschreibung, die keine Werte und keine Ziele kennt, sondern nur als eine sinnlose Beschimpfung benutzt wird, die keine Aussage und keinen Inhalt hat.
Ist man vielleicht nicht verrückt, wenn man normal ist, also tut, was alle tun, tut, was von einem erwartet wird? Wenn man in einem Haus gross wird, wo man nur zu gehorchen hat; in einer Schule und dann in einer Arbeitsstelle nur Befehlen zu gehorchen hat; wenn man sich keine Gedanken über andere Menschen macht; wenn man sich nicht um die Menschen kümmert, die Hilfe brauchen; wenn man unbewegt zusehen kann, wie diese anderen umkommen; wenn man andere Menschen betrügt, um reich zu werden und an Macht zu kommen; wenn man loszieht, um andere umzubringen, Kinder, Frauen, Männer, wofür man Geld bekommt, Auszeichnungen, Orden und Beförderungen, dann ist man wohl normal, denn das ist doch die Norm. Aber ist man denn dann nicht von den Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Lebens entrückt, also trotz aller Nor verrückt, und bedeutet ,normal‘ zu sein, dann nicht gleichzeitig, von den Lebensmöglichkeiten ,verrückt‘ zu sein?
Noch im letzten Jahrhundert haben normale Menschen Hunderte von Millionen normaler Menschen misshandelt, gefoltert, umgebracht, geschlachtet, vergast, im Hagel von Bomben und durch Atombomben verkohlen lassen und man hat bis heute nicht damit aufgehört. Bei dieser Masse von menschlichen Opfern ist das eine Norm, eine Normalität. Die ist aber von den Möglichkeiten menschlichen Lebens weit entfernt. Doch auch für die Lebenden scheint es eine Norm zu sein, nicht miteinander leben zu können - wieviele glückliche Ehepaare oder Familien, wieviele gute Freundschaften gibt es? Wieviele Menschen leben allein? Und hat nicht auch die asiatische Norm, möglichst friedlich nebeneinander her zu leben, kaum etwas mit einem gemeinsamen Leben zu tun? Ist es nicht eine Norm, dass man nicht mit anderen Menschen gemeinsam leben kann, aber ohne andere Menschen auch nicht leben kann? Ist es aber dann nicht verrückt, normal zu sein?
Muu schloss diese Gedanken mit der Gewissheit ab, weder die Normalität, noch die Menschheit ändern zu können. Allerdings sollte es ihr gleichgültig sein, wie andere Menschen sie be- oder verurteilten. Sie würde, gleichgültig, welches Etikett man ihr auch anhängt, nur versuchen können, mit einigen Leuten zusammenzuleben, mit einigen wenigen Menschen, die sie kennt, mit einigen sehr wenigen Menschen, die bereit sind, sie so zu akzeptieren, wie sie ist. Und warum sollte man sie nicht so akzeptieren, wie sie ist? Sie bot Gesellschaft und bemühte sich darum, dass es ihrem Partner gut geht, dass er sich wohlfühlt, genau so, als wenn sie mit ihm verheiratet wäre, nur eben auf eine kürzere Zeit bemessen. Diesem Partner war die Begleitung immerhin so viel wert, dass er dafür gut bezahlte. Moo nahm sich vor, sich mit etwas besserem Englisch vielleicht noch etwas besser um ihre Partner zu kümmern.
An den nächsten Tagen in der Bar hatte sie dafür allerdings nicht sehr viele Möglichkeiten. Es war nicht viel Betrieb und es zeigte auch niemand gesteigertes Interesse an ihr. Sie hatte nur einige unangenehme Erlebnisse, wie sie wohl zum Berufsleben gehören. Ein älterer Gast, der offensichtlich noch nie zuvor in Thailand war, bestellte bei ihr ein ,Dom-Kölsch‘, was sie nicht verstehen konnte, es stellte sich später heraus, dass es ein Bier ist, das sie nicht kannte und das in Thailand unbekannt ist. Er schimpfte sehr laut, dass sie dumm ist, nichts gelernt hat und kein Hirn hat, weil sie kein Deutsch spricht und kein Dom-Kölsch kennt. Er meinte, wenn er hierher kommt und sein Geld hier lässt, dann muss sie Deutsch sprechen. Aber was hatte das mit Dummheit zu tun? Sie konnte Lao, Khmer und Thai lesen und schreiben und sprach mit ihm auf Englisch. Jetzt glaubte er, der kein Englisch verstand, sie als dumm bezeichnen zu können, weil sie kein Deutsch sprach und kein Dom-Kölsch kennt.
Für einen Gast legte er eine erstaunlich arrogante Unverschämtheit an den Tag. Er machte den Eindruck, als wäre er nur nach Thailand gekommen, um einmal ein grosser Mensch zu sein und das auszutoben, worunter er selbst bei sich zuhause zu leiden hatte, nämlich, dass Leute, die mehr Geld oder Macht hatten, als er, ihn als dumm bezeichneten. Hier hatte er mehr Geld und glaubte nun, seinerseits das Recht und den Spass daran haben zu können, diejenigen, die weniger Geld hatten, als dumm zu bezeichnen. Er hatte ein etwas enges Weltbild, in das keine Mitmenschen hineinpassten. Irgendwie tat der Mann Muu zwar leid, aber man kann alles tolerieren, ausser Intoleranz. So beschloss Muu, sich nicht mehr um den Mann zu kümmern, nachdem er ein Singha-Bier bestellt und erhalten hatte. Sie hörte ihn später noch einmal über sie schimpfen, aber das war ihr dann schon gleichgültig und sie hörte gar nicht hin.
Schlimmer noch war ein junger Amerikaner, der Bier trank und mit ihr sprach. Als sie sich nach einer Weile entschuldigte und sagte, dass sie auf die Toilette gehen muss, wurde er wütend und sagte, dass er sich nicht von einer Prostituierten ausnehmen lässt. Sie hatte ihn um nichts gebeten. Wenn er etwas gegen ,Prostituierte‘ hatte, was wollte er hier? Als Muu nach einer etwas verlängerten Zeit von der Toilette zurückkam, setzte sie sich an einen anderen Platz. Nachdem er alleine sass, schimpfte noch etwas vor sich hin, dann trank er sein Bier aus und ging.
Die Woche war im gewohnten Trott verlaufen, mit Gästen, aber ohne einen persönlichen Kunden. Die Gäste waren meist friedlich, einige waren etwas laut und ungehobelt, aber sie waren dennoch freundlich und meinten es offensichtlich nicht böse. Manche Gäste riefen sie: „Eh you!“, ,Eh, Du da!‘ und manche versäumten nicht, nach ihrer Bestellung „Dalli, dalli“, hinzuzufügen, was wohl ,schnell‘ bedeuten sollte. Das war zwar Beides ausgesprochen unhöflich, aber diese Leute schienen sich nichts dabei zu denken. Sie schienen überhaupt wenig zu denken und nur den Druck, unter dem sie lebten und die sie bedrückenden Erlebnisse auszuleben, um sie loszuwerden und sich zu erholen, um sich endlich auch einmal als grosse Menschen empfinden zu können. Es sah oft so aus, als wenn sie Thailänder nicht als gleichwertige Menschen akzeptieren würden, aber Muu führte das auf mangelnde Erziehung, fehlenden Anstand und darauf zurück, dass sie wohl selbst nie recht akzeptiert worden waren und sich innerlich selbst nicht akzeptieren konnten.
Einer dieser Leute nahm sie eines Tages mit. Er war vielleicht etwas über fünfzig Jahre alt, gut durchwachsen, aber noch nicht wirklich fett. Er behandelte sie wie ein kleines Mädchen, ohne es dabei schlecht zu meinen. Er bestellte ihr als Ladydrink ein Bier, das sie nicht mochte, kaufte ihr von einem fliegenden Händler eine Bretzel, die sie auch nicht mochte und schliesslich für 50 Baht einen Armreif, den sie hässlich fand, aber er bestand darauf, dass er schön war und sie ihn tragen muss, so wie sie die Bretzel essen musste, weil er ja genau wusste, dass Bretzeln gut schmecken. Inzwischen sagte er ihr, wie sie ihre Haare schneiden muss und wie sie die Fingernägel lackieren muss, dass sie kurze Röcke und langärmelige, enge Pullover anziehen soll und wie sie an der Bar zu sitzen hat.
Muu stellte sich vor, dass sich manche Eltern, die sich einreden, ihre Kinder zu lieben, sich diesen gegenüber genau so verhalten, wenn sie sie überhaupt nicht verstehen können. Es war gut, dass er sie auch im Hotel wie ein kleines Mädchen behandelte; er beanspruchte sie nicht, sondern schlief alleine. Was ihn aber am nächsten Tage nicht daran hinderte, anderen Gästen zu sagen, dass er am vergangenen Abend dreimal mit ihr zusammen gewesen war, und zwar jedes Mal über eine Stunde. Es war auch gut, dass er sie nach dem Frühstück, bei dem er seine Tischnachbarn noch über seine nächtlichen Heldentaten informierte, schon entliess, weil sie seine Gängelei und die Grossspurigkeit nicht mochte.
Einige Tage später kam Johnny, ein Junge von vielleicht vierundzwanzig Jahren, der modisch, aber dezent gekleidet und sehr lebhaft war, dabei aber nie laut oder unhöflich wurde. Er fragte Muu, was sie trinken möchte, unterhielt sich einige Zeit mit ihr und fragte sie, ob er sie auslösen kann. Johnny sprach viel und erzählte dabei, dass er seinen alten Herrschaften ausgekniffen sei. Er studierte an einer technischen Hochschule und hatte in einem sehr geregelten Elternhaus ein sehr geregeltes Leben genossen. Seine Eltern hatten immer gewusst, was für ihn gut war und ihm sorgsam alle Entscheidungen abgenommen. Selbst die Entscheidung für eine Freudin und die nachfolgende Verlobung. Diese war aber nun in die Brüche gegangen, indem die Verlobte ihm mitteilte, dass sie sehr religiös sei und Johnny noch nicht einmal richtig an Gott glaube. Vier Wochen später folgte ihre Hochzeit mit einem etwas älteren Geschäftsmann, der hierzu mit einem Jaguar vorfuhr und gar nicht den Eindruck machte, als sei er besonders religiös.
Johnny zeigte sich hiervon nicht sonderlich betroffen. Da die Hochzeit aber pünktlich zum Beginn seiner Semesterferien stattfand, hatte er seinen ,alten Herrschaften‘ verständlich machen können, dass er sich nach diesem harten Schicksalsschlag erst einmal in einer fremden Umgebung in innere Einsamkeit zurückziehen müsse, wozu er von diesen volles Verständnis sowie als auch das nötige Urlaubsgeld bekam. Nun befand er sich nicht etwa zur inneren Einsamkeit, sondern vielmehr zu seinem grössten Vergnügen in Pattaya, um sich auszutoben.
Johnny war ein fröhlicher, grosser Junge, der aber das genaue Gegenteil von Muu’s vorhergehender Begegnung war. Statt ihr zu sagen, was sie zu tun hatte, fragte er sie ständig, was er tun sollte, was er trinken und essen soll und was er mit ihr unternehmen kann. Während Muu sich vor wenigen Tagen noch wie ein Kleinkind gefühlt hatte, so sah sie sich jetzt unvermittelt in eine Mutterrolle gedrängt. Das hatte zumindest den Vorteil, dass Johnny das Hotel in nüchternem Zustand erreichte. Dort hatte er zunächst noch viel zu erzählen.
Er sprach viel von seinen Eltern, von seinem Leben und vom Studium, von Computern, der Umwelt und dem Leben in seiner Heimat. Von seinen Eltern sprach er sehr positiv, betonte, dass sie ihm viel helfen und auch immer für ihn da sind, beklagte aber, dass sie manchmal etwas zu viel für ihn da sind und sich alle Mühe geben, ihn so leben zu lassen, wie sie es selbst früher einmal gerne gewollt hätten. Sie sagten ihm alles, was für ihn gut zu sein hat und was ihm keinen Spass zu machen hat. Wenn sie damit fertig waren, liessen sie ihn auch immer grosszügig freiwillig selbst auswählen, das zu tun, was sie ihm zuvor gesagt hatten.
Sie hatten also eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mann, der Muu zuletzt ausgelöst hatte. Interessant war an Johnny’s Erzählungen, dass er seine ehemalige Verlobte und den grossen Weltschmerz, den er hier verarbeiten sollte, mit keinem weiteren Wort mehr erwähnte. Zu vorgerückter Stunde verhielt er sich nach dem Genuss einiger Gläser Limonade und dem Abschluss der Erzählungen als Kavalier; er war nett zu Muu und wurde nicht grob. Und Muu fand es nett, dass er ihr zuvor genug Zeit gelassen hatte, ihn etwas kennenzulernen, so dass sie nicht allzu verkrampft war.
von Dr.G.M. Gad Labudda
Siebenter Teil:
Nun war Muu wieder auf dem Weg nach Bangkok, um ihr eigenes Leben zu suchen, aber die Chancen waren gering. Bis zu dem Tag, an dem sie das erste Mal nach Bangkok gefahren war, hatte sie nur unter Zwängen gestanden, denen sie sich fügen musste. Deshalb hatte sie in Bangkok nur wenige Chancen gehabt. Dennoch hätte sie aus ihrem Leben vielleicht noch etwas machen können, aber dann hatte sie einen Menschen getroffen, der ein Dieb und ein Betrüger war, einen Menschen, der nur sein Vergnügen gesucht hatte und dann verschwunden war. Sie hatte diesen Menschen gebraucht und geglaubt, ihn zu lieben, sie hatte ihm vertraut und dadurch hatte sie ihre Chancen verspielt.
Nun hatte sie ein Kind und musste sich wieder Zwängen fügen, jenen Zwängen, die sich daraus ergaben, dass sie ihr Kind ernähren musste, ein Kind, in dessen Nähe sie noch nicht einmal sein konnte, weil sie arbeiten musste, um es zu ernähren. Und sie musste dazu beitragen, die Schwestern zu ernähren, die nun ihr Kind aufzogen, auch wenn diese nichts für ihre Arbeit verlangten. Wenn sie aber nichts bekamen, konnten sie auf lange Sicht selbst nicht leben und dann konnten sie auch nicht für das Kind sorgen. Selbst wenn Muu jetzt eine Arbeit als Wäscherin, in einem Hotel oder einer Fabrik bekäme, reichte das Geld kaum, um leben zu können, aber niemals, um auch noch Geld für die Versorgung ihres Kindes zu zahlen und so blieb nur eine Arbeit in einer Bar übrig.
Da Muu erst am späten Nachmittag in Bangkok ankam, ging sie gleich zu ihrer Freundin Daeng. Die hatte alles versucht, um zu verhindern, dass Muu in einer Bar arbeiten muss, aber sie hatte nicht viel Erfolg. Eine Firma, die Handel mit Laos und Kambodscha betrieb, war bereit, Muu für die Handelskorrespondenz einzustellen, ihr Gehalt würde aber nur 2.400 Baht betragen. Daeng bot Muu noch einmal an, dass sie bei ihr umsonst wohnen kann, aber schliesslich waren sich beide Frauen darüber einig, dass das Geld nicht reichte. An dem traurigen letzten Abend meinten sie, es wäre für Muu das Beste, ihr Glück in Pattaya zu suchen. Nach dem Aufbau des Standes am nächsten Morgen lagen sie sich beim Abschied mit Tränen in den Armen und dann fuhr Muu nach Pattaya.
Die Busfahrt war voller Grübeleien über die Vergangenheit und Sorgen über die Zukunft. Wieder einmal war sie mit einem Beutel voller Habseligkeiten unterwegs, um ihr eigenes Leben zu suchen - oder einfach nur zu überleben. Die meisten Sachen hatte sie bei Daeng gelassen und nur etwas Wäsche, das Englischbuch vom Hotel und einige andere Bücher mitgenommen. Wie oft würde sie noch mit einem Beutel in fremde Städte fahren müssen, um zu überleben? Und warum war das so? Sie hatte nichts Böses getan, sie hatte versucht, zu lernen, solange man es ihr erlaubte, und sie hatte versucht, mit anderen Menschen gemeinsam zu leben. Das war nichts Böses und das war auch nicht falsch. Aber sie hatte keine Familie, kein Geld und vor allen Dingen hatte sie zu viel Vertrauen gehabt, zuviele Erwartungen an ein glückliches Leben, das sie durch einen anderen Menschen haben wollte. Das war ihr Fehler und dafür musste sie bezahlen, mit ihrer Arbeit, mit ihrem Körper.
Sie hatte Angst. Angst vor den fremden Männern, die alle ,Farang‘ sein sollten, Männer aus Europa und aus Amerika. Aber noch mehr Angst vor dem Alleinsein. Sicher, sie war früher sehr oft allein. Sie war dabei unglücklich gewesen und das hatte sie überstanden. Aber nun war sie lange Zeit mit Monea und ihrer Schwester und dann mit Daeng zusammen gewesen. Und nun war sie wieder allein, sie kannte sich in Pattaya nicht aus, kannte keinen Menschen und sie wusste noch nicht einmal, wo sie Arbeit suchen und die nächsten Tage bleiben sollte. Sie dachte an Daeng und dass sie bei ihrem Einzug in Bangkok viel Glück gehabt hatte.
Als sie die Strasse entlang ging und einen Essensstand sah, der von einer Frau betrieben wurde, setzte sie sich und bestellte einen Teller Reis mit Huhn. Als sie die Frau nach Arbeit fragte, machte die eine weitausladende Handbewegung und meinte nur, Bars gebe es überall, sie soll da einmal fragen. Und als Muu nach Unterkünften fragte, sagte die Frau, wenn sie eine Arbeit hat, dann könnten ihr die Mädchen an der Bar vielleicht sagen, wo es eine Unterkunft in der Nähe der Bar gibt. Muu ging weiter ins Zentrum. Als sie an einer Bar vorbeikam, wo trotz der Mittagszeit mehrere Mädchen waren und etwas assen, ging sie hin, um sich Informationen zu holen. Die Mädchen fragten aber erst einmal, wo sie her kam. Muu wusste erst nicht recht, was sie sagen sollte.
Als sie sagte, sie sei in Buriram geboren, aber dann in Si Saket zur Schule gegangen, meldete sich gleich ein Mädchen, das Lao sprach und sagte, es käme auch aus Si Saket, zusammen mit vier anderen Mädchen, die auch an dieser Bar arbeiteten und alle kämen aus dem Isan. Muu wurde eingeladen, mitzuessen und wurde gefragt, ob sie Kinder hat. Als sie sagte, sie hat eine Tochter in Surin, nickten die Mädchen und sagten, wo sie ihre Kinder hatten. Fragen waren überflüssig. Wenn ein Mädchen nach Pattaya kam und Arbeit suchte, dann war es normal, wenn es in Buriram geboren, in Si Saket zur Schule gegangen war und ein Kind in Surin hat. Muu gehörte also zu ihrem Kreis. Ein Mädchen dagegen, das aus Bangkok kam und keine Kinder hat, wäre eher eine Aussenseiterin.
Muu hörte, dass die Situation sehr schlecht ist und nicht viele Farang, die westlichen Ausländer, an den Bars zu sehen sind. Dann sagte man ihr, sie sollte es am besten in Südpattaya versuchen, da wäre noch ganz guter Betrieb. Hier an dieser Bar hätten gerade drei Neue angefangen und deswegen seien die Chancen hier nicht gut. Man empfahl ihr, von der Central Road die Strandstrasse oder die Second Road bis ins Fussgängerzentrum an der Soi Diamond zu gehen und dort zu fragen. Ein Mädchen sagte: „Wenn Du nichts findest, kommst Du zurück, dann versuchen wir, den Boss zu überreden und sagen ihm, Du wärst eine langjährige Freundin.“ Nachdem Muu noch eine Weile mit den Mädchen verbracht hatte, bedankte sie sich und machte sich auf den Weg.
Da die Bars erst am Abend richtig besetzt waren und die Inhaber allgemein etwas später kamen, nahm Muu sich die Zeit, die Gegend erst einmal richtig anzusehen. Sie ging über die Strandstrasse und durch die belebteren Querstrassen zur Second Road und wieder zurück, bis sie an der Soi Diamond angelangt war. Unterwegs hielt sie noch an einigen Bars, wo Mädchen zusammen sassen und liess sich noch Informationen über einzelne Bars geben. Diese Hinweise waren zwar spärlich, halfen aber doch weiter. Schliesslich wollte sie gezielt zu vier Bars gehen, die sie sich gemerkt hatte, aber sie wurde schon bei der ersten Bar angenommen. Die Bar war verkehrsgünstig gelegen und es sassen auch schon einige Gäste da, während nur wenige Mädchen hinter der Theke standen. Die Bar hatte kürzlich den Besitzer gewechselt und der neue Inhaber suchte dringend eine neue Belegschaft. Muu sollte am nächsten Tag anfangen.
Als sie nach einer Schlafstelle fragte, erklärte ein Mädchen namens Nam, dass bei ihm ein Schlafplatz frei ist, wenn sie sich an der Miete beteiligen kann. Muu war das sehr recht. Sie sagte zu und erklärte, sie würde dann in der Bar sitzen bleiben und warten, bis sie zusammen gehen könnten. Sie wollte jetzt nicht alleine sein. Um vier Uhr morgens ging sie zusammen mit Nam nachhause. Das Zimmer hatte Matten auf dem Fussboden, eine kleine Küche und einen Waschplatz. Das war vorläufig ausreichend. Muu zahlte ihren Mietanteil und sie gingen schlafen.
Als sie am nächsten Tag gemeinsam zur Bar gingen, erklärte Nam, dass Muu mit ihrem Geld sehr sparsam umgehen muss, weil sie nicht damit rechnen kann, in den ersten Tagen schon Kunden zu finden. Dazu müsste sie erst lernen, mit den Kunden umzugehen und sie müsste mit den Kunden sprechen können. Noch wichtiger wäre vielleicht, dass sie lernt, wie sie sich an die Kunden heranmachen muss, damit sie ausgelöst wird, aber das kann sie in der Bar lernen, wenn sie gut aufpasst, wie die anderen Mädchen das machen. Tatsächlich hatte Muu in den ersten zehn Tagen keinen Kunden, aber sie lernte, wie die Getränke heissen und in welchen Gläsern sie gebracht werden, wie die Mädchen sich verhalten, wenn Gäste kamen und was sie machten, um ausgelöst zu werden.
Unterdessen wurde Muu von ihren Kolleginnen eingearbeitet. Sie hörte, dass sie auf keinen Fall sagen darf, dass sie ein Kind hat, dass sie immer nach Ladydrinks fragen muss, Geld für die Toilette, für Früchte, fürs Taxi nachhause und zum Essen verlangen muss. Wenn sie mehreren Farang sagt, dass sie kein Geld zum Essen hat, dann geben ihr manche Farang Geld, damit kann sie an guten Tagen auf einhundert Baht kommen, erklärte ihr ein Mädchen. Und für die Toilette geben ihr die Farang nicht nur die drei Baht, die sie dort bezahlen muss, sondern meist zehn oder sogar zwanzig Baht, wenn man also mehrmals geht, kommt meistens das Geld für das Essen zusammen und sie braucht ja nicht wirklich auf die Toilette zu gehen, sondern nur ein Stückchen von der Bar weg, um dann nach fünf Minuten wiederzukommen.
Als Muu fragte, ob die Farang sich denn nicht betrogen und ausgenommen fühlen und dann vielleicht nicht mehr wiederkommen, sagte ihr die Kollegin, dass die Farang alle dumm sind und es sei leicht, sie auszunehmen. Schliesslich sei Muu ja gekommen, um Geld zu machen und dann müsse sie auch alle Möglichkeiten dazu ausnützen. Muu sah das anders, aber es hatte sicherlich keinen Sinn, das der Kollegin zu erklären. Vielleicht war es auch so, dass man härter und rücksichtsloser wird, wenn man längere Zeit in diesem Beruf arbeitet, dachte sie. Es war ihr völlig klar, dass die Mädchen bei dieser Tätigkeit auch viele schlechte Erfahrungen machten. Mit recht unwohlen Gefühlen dachte sie an die Erfahrungen, die ihr selbst noch bevorstehen.
Während die meisten Mädchen an dieser Bar sich aufreizend kleideten, hatte Muu zwar auch die typisch thailändische Kleidung abgelegt, aber sie hatte sich einige einfache, dem europäischen Geschmack angenäherte Sachen gekauft, die dezent aussahen. Das würde zwar die Nachfrage nach ihr nicht sehr steigern, aber sie glaubte, damit wenigstens nicht zum Hauptziel für Männer zu werden, die nichts weiter suchten, als ein kurzes Vergnügen, ein brauchbares Stück Fleisch zur Nacht. Sie hoffte, dass das Geld vielleicht auch ohne solch unangenehme Bekanntschaften reichte, wenn sie ihre Ausgaben einschränkt und sparsam lebt.
Wahrscheinlich war es neben ihrem Verhalten tatsächlich ihre Kleidung, die vielen Männern signalisierte, dass sie kein Interesse an vielen amourösen Erlebnissen hatte, was aber der Grund für ihren ersten Kunden war, sich für sie zu interessieren. Ernst war wirklich ernst und er hatte gar nicht viel für die Mädchen übrig, die sich gleich auf jeden Mann warfen, der an die Bar kam, deshalb interessierte er sich für Muu. Er war der Überzeugung, dass auch etwas Sympathie und etwas Gemeinsamkeit dazugehört, wenn man gemeinsam ins Bett geht. Er war sich zwar klar darüber, dass die Mädchen das nicht so aussuchen konnten, wie sie wollten, aber dafür hatte er ja diese Möglichkeit. Bisher hatte er mit diesem gedanklichen Hintergrund zwar nicht viel Erfolg gehabt, denn er hatte hier vorwiegend garantiert gefühlsfreie bis apathische Frauen kennengelernt, aber er wollte nicht aufgeben, denn er hatte gar keine Lust, mit einem herumhopsenden und -schreienden Kleinkind ins Bett zu gehen, nur weil es sich durch einen sexuell brauchbaren Körper auszeichnete.
Er war früh am Abend gekommen und versuchte, sich mit Muu etwas zu unterhalten, was zwar nicht ganz einfach war, sich aber doch als möglich erwies. Auf Muu machte er einen zurückhaltenden, aber freundlichen Eindruck. Nachdem sie längere Zeit miteinander gesprochen hatten, war sie zunächst erschrocken, als er sie fragte, ob er sie auslösen kann. Sie hatte ihn für einen netten Menschen gehalten und gedacht, dass nette Menschen so etwas nicht tun. Aber es dauerte nicht lange, bis sie sich darauf besann, warum sie hier war und dass sie Geld verdienen musste und dass Ernst doch noch einen weit besseren Eindruck auf sie machte, als die meisten Männer, die sie hier gesehen hatte.
Achter Teil:
Muu war etwas bedrückt, als Ernst mit ihr loszog, aber zu ihrer Erleichterung ging es nicht gleich ins Hotel, vielmehr ging er mit ihr in ein Restaurant und sagte Muu, dass sie hoffentlich noch etwas essen kann, denn er hätte weder Lust gehabt, alleine in ein Restaurant zu gehen, noch hatte er Lust, alleine zu essen. Muu bestellte sich nur ein einfaches Reisgericht und war mit einem Glas Wasser zufrieden. Ernst erklärte, dass er lieber in einem Restaurant sitzt, als an einer Bar, weil man sich viel besser unterhalten kann. Die Aussicht, sich nun auf Englisch unterhalten zu müssen, schien Muu gar nicht verlockend, aber sie kämpfte sich durch, obwohl Ernst viele Fragen über Thailand stellte.
Er fragte nach der Regierungspolitik als auch über Investitionsmöglichkeiten, über thailändische Kunst und Kultur, über die unterschiedlichen Traditionen in den verschiedenen Landesteilen und über die Lebensgewohnheiten auf dem Lande. Für ihn war es selbstverständlich, dass jeder Mensch darüber zumindest in seinem eigenen Land Bescheid weiss. Muu jedoch war froh, dass sie in Surin und in Bangkok immer die Zeitungen gelesen hatte, merkte aber, dass sie schon nicht mehr ganz auf dem Laufenden war und nahm sich vor, wieder mehr Zeitungen zu lesen, auch weil sie sich mit den Büchern, die sie gerade über Gesellschaftspolitik las, gut verbinden und besser verstehen liessen. Ausserdem bemerkte sie, dass ihr die Übung fehlt und dass sie viel mehr Englisch sprechen sollte.
Muu war nach ihren verzweifelten Anstrengungen doch froh, als Ernst schliesslich über Deutschland erzählte, denn es war doch einfacher, zuzuhören, als selbst zu sprechen. Manchmal, wenn auch nicht immer, fragte sie, wenn sie etwas nicht verstanden hatte und Ernst erklärte es ihr. Aber Ernst sprach kaum über sich selbst, wie er auch wenige Fragen über Muu gestellt hatte. Er erzählte nichts über seine Vergangenheit oder über seine Familie und Muu wusste noch nicht einmal, ob er verheiratet war oder was er beruflich macht. Als ein Mädchen ihn an der Bar einmal danach fragte, hatte er nur etwas spöttisch geantwortet, dass er in Deutschland arbeitet, weil er für den Urlaub in Thailand nicht bezahlt wird. So verbrachten sie noch längere Zeit in dem Restaurant mit der Unterhaltung, wobei Muu es als positiv ansah, dass Ernst nur noch einen Kaffee und keinen Alkohol trank. Aber es war klar, dass diese Unterhaltung zu Ende gehen musste und sie schliesslich mit Ernst in sein Hotel zu gehen hatte.
Als Ernst die Rechnung bezahlt hatte, gingen sie zu Fuss zum Hotel, das nicht weit entfernt war. Dort ging er jedoch erst an den Kühlschrank und fragte Muu, ob sie etwas trinken möchte. Um die Zeit hinauszuzögern, bat sie um ein Glas Limonade, das sie ganz langsam trank. Muu war sehr unsicher und nervös. Sie hatte Ernst schon erzählt, dass sie eine Tochter hat und sie hatte ihm auch erzählt, dass er der erste Ausländer oder ihr erster Kunde ist. Darauf hatte Ernst nichts gesagt, sondern nur etwas gelächelt, aber es war nicht zu erkennen gewesen, weshalb. Ob er ihr vielleicht nicht glaubte? Sie erinnerte sich daran, dass ihre Kolleginnen ihr geraten hatten, nie zu sagen, dass sie ein Kind hat und immer zu sagen, dass sie gerade erst nach Pattaya gekommen ist, dass sie immer sagen soll, sie hätte erst wenige Kunden gehabt, am besten, dass sie noch nie einen Kunden gehabt hat und dass der Farang, der sie mitnahm, der Erste sei. Wenn Ernst nun schon mehrere Mädchen getroffen hatte, die ihm gesagt hatten, dass er der Erste sei, dann würde er ihr sicher nicht glauben. Ernst aber sagte nichts dazu.
Muu wusste nun gar nicht, wie sie sich verhalten sollte, aber das war nicht weiter schlimm, denn daran sah Ernst, dass Muu wirklich nicht viel Erfahrung hatte, was ihn nicht im Geringsten störte. Er liess zwar nicht von seinem Vorhaben ab, denn Muu hatte ja selbst zugestimmt und er wollte nicht aus Mitleid Almosen verteilen, zumal sie ja mit dem nächsten Mann wohl doch ins Bett gehen würde, warum also nicht mit ihm? Aber er hatte Verständnis für ihre Situation und liess ihr Zeit. Und dann war er sehr rücksichtsvoll und zärtlich, bis Muu sich etwas auflockerte. Ernst schlief schnell ein, während es bei Muu noch einige Stunden dauern sollte. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, bis sich Vergangenheit und Zukunft in ihren Gedanken mischten und sie schliesslich schlief.
Am frühen Morgen schon wurde Muu wach. Vielleicht hatte sie Glück gehabt; die Nacht mit dem Farang war nicht so schlimm gewesen, wie sie es aus Erzählungen ihrer Kolleginnen gehört hatte. Sie blieb noch einige Zeit in Gedanken versunken liegen, die sie aber nicht klären konnte und so stand sie leise auf, um Ernst nicht zu wecken, doch als sie gerade seine Wäsche gewaschen hatte, wachte auch Ernst auf und stellte sich unter die Dusche. Beim gemeinsamen Frühstück - ,Continental Breakfast‘ für ihn und Reissuppe für sie - stellte Ernst diesmal keine Fragen über Thailand, sondern wollte etwas über Muus Leben erfahren.
Er wusste nicht recht, ob es wegen der Verständigungsschwierigkeiten war, oder ob Muu nicht gerne über sich oder ihr Leben sprach, wenn sie immer nur sehr kurz und knapp antwortete. Schliesslich erzählte er etwas über andere europäische Länder, die er bereist hatte. Da Ernst einige Hemden für das heisse Klima Thailands brauchte, zogen sie nach dem Frühstück gemeinsam los, um passende Hemden zu suchen. Sie bummelten an der Strandstrasse entlang und gingen auch in das Kaufhaus ,Modern City‘, das Muu inzwischen schon als besonders preiswert kannte, und zu ,Mike’s Shopping Mall‘ an der Second Road.
Der Einkauf zögerte sich etwas hinaus und sie gingen zum Essen in ein Restaurant, bevor sie ins Hotel zurückkehrten. Dort nahm Ernst einige Berichte, die er noch zu lesen hatte und setzte sich an den Pool. Er war erstaunt, dass Muu sich zwei Zeitungen mitnahm und las, bis sie sagte, sie müsse jetzt nachhause gehen und sich umziehen, weil sie dann gleich wieder zur Arbeit an die Bar gehen muss. Ernst fragte, ob er sie wieder zum Essen einladen darf und als Muu sich mit einem Wai bedankte, dem Zusammenlegen der Hände vor dem Kinn des gesenkten Kopfeses, sagte er, dass er am Abend auf jeden Fall zu ihr an die Bar kommen wird, nachdem er die Berichte durchgearbeitet hat.
Ernst blieb noch zwölf Tage und während dieser Zeit blieb Muu bei ihm. Sie unternahmen einige wenige Ausflüge, gingen nur hin und wieder einmal zu einem Einkaufsbummel in die Stadt und verbrachten die meiste Zeit an den Stränden von Pattaya und von Jomthien und mit Büchern oder Zeitungen am Pool des Hotels. Es war für Muu ein hervorragender Geschäftserfolg, der es ihr erlaubte, ihrer Freundin Monea für die Versorgung ihrer Tochter Geld zu schicken. Da Ernst aber die Unterhaltung mit ihr Spass zu machen schien, bedeutete es für Muu, dass sie alle zwölf Tage lang Kopfschmerzen hatte, denn bei ihrem noch geringfügigen Vokabular war es doch sehr anstrengend, den ganzen Tag Englisch zu sprechen.
Ernst hatte aber Verständnis und erklärte ihr alle Worte, die sie nicht kannte. Er half ihr auch durch Rückfragen bei der richtigen Formulierung ihrer Aussagen, wodurch ihre Englischkenntnisse in dieser Zeit gewaltige Fortschritte machten. Was Muu eigentlich irritierte, war, dass Ernst zwar mit ihrer Anwesenheit zufrieden zu sein schien, aber niemals etwas davon sagte, dass er sie mochte, ob er wiederkommen würde oder ob er sie wiedersehen wollte. Er hatte gesagt, wann er wieder nach Europa fliegt und an diesem Datum änderte sich auch nichts.
Am Abreisetag musste Ernst spät nachmittags nach Bangkok fahren, um rechtzeitig auf dem Flughafen zu sein. Als Muu fragte, ob sie ihn zum Flughafen bringen sollte, meinte er, sie solle sich keine Sorgen machen; er hätte volles Vertrauen darin, dass der Taxifahrer den Flughafen findet und ausserdem sei der so gross, dass er ihn gar nicht verfehlen kann. Aber er bezahlte auch für die folgende Nacht und gab Muu noch ein schönes Trinkgeld obendrein. Was Muu aber viel mehr freute, waren zwei Bücher, die er für sie gekauft hatte. Es waren zwei Bücher mit Geschichten über Thailand, die aber in Englisch geschrieben waren und er meinte lächelnd, es würde ihr sicher mehr Spass machen, Englisch zu lesen, wenn es Geschichten über ihre Heimat sind.
Nur vorsichtshalber, sagte Ernst, sollte Muu ihm auch noch ihre Adresse aufschreiben, vielleicht würde er sich einmal melden, ihr einen Gruss schicken oder sie suchen, falls er wieder einmal nach Thailand kommt. Als er nach einer knappen letzten Verabschiedung ins Taxi einstieg, sagte er Moo noch, dass er auf dem Tisch seines Hotelzimmers, das noch bis zum nächsten Tag bezahlt war, ein Päckchen vergessen habe, das er aber im Moment nicht brauchte und bat Muu, es für ihn aufzuheben, bis er vielleicht später wieder einmal nach Pattaya kommt. Dann fuhr das Taxi ab und Ernst war mit einem letzten Winken um die Ecke verschwunden.
Muu ging in das Hoteltzimmer zurück, um nach dem ,vergessenen‘ Päckchen zu suchen. Sie fand ein offenen Kästchen mit einer goldenen Kette. Muu war verwirrt. Sollte die Kette für sie sein? Aber, hatte Ernst nicht gesagt, sie sollte das Päckchen für ihn aufheben, wenn er wieder nach Pattaya kommt? Also kann die Kette nicht für sie sein, entschied Muu, denn sie musste sie ja aufheben und zurückgeben. Sie wird sie zum Aufheben wohl tragen, nicht aber verkaufen dürfen, glaubte sie und vermutete, dass das wohl die Absicht von Ernst gewesen war.
Muu entschloss sich, an diesem Abend nicht in die Bar zu gehen. Die Auslösung und das Hotelzimmer waren bezahlt und es schläft sich im Hotelbett doch besser, als auf ihrer Bastmatte. Sie überlegte sich das Verhältnis, das sie mit Ernst hatte. Er war sehr zurückhaltend, aber immer freundlich gewesen, wenn auch nicht gerade romantisch. Für ihn schien Sexualität eine nebensächliche Selbstverständlichkeit zu sein und nicht der hauptsächliche Sinn einer Begegnung, wie sie es bei Somkiat, dem Vater ihrer Tochter, erlebt hatte, der verschwand, als sie schwanger wurde. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich mit Somkiat eigentlich nie richtig unterhalten hatte. Er hatte nicht viel Wissen, was er durch eine gewisse Selbstherrlichkeit und ,Männlichkeit‘ ersetzte, mit der er auch keinen Widerspruch duldete. Er war nie bereit gewesen, Gedanken aufzunehmen, hatte vielmehr ihre Gedanken und Äusserungen immer beiseite geschoben und das letzte Ziel war dann immer das Bett gewesen.
Sie erinnerte sich, dass Somkiat ihr einmal gesagt hatte, dass er sehr strenge Eltern gehabt hat, die sich aber nicht viel um ihn gekümmert haben. Der Vater war mit Geldverdienen und Vergnügungen beschäftigt und die Mutter hatte es nicht sehr lange bei ihm ausgehalten. Mit zehn Jahren war Somkiat praktisch allein gewesen. Die Mutter hatte drei jüngere Geschwister mitgenommen und er war beim Vater geblieben. Weil der Vater aber kaum einmal zu sehen war, wurde er von einer Nachbarin versorgt, wofür der Vater bezahlte. Die Versorgung bestand aber nur darin, dass die Nachbarin dem Jungen etwas zu essen gab. Somkiat hatte geschworen, nie so zu werden, wie der Vater.
Er trug ganz andere Kleidung, ging nicht zum Tempel und trug zum Protest bis zu den Ohren reichende Haare mit einem Mittelscheitel. Aber genau so wie der Vater suchte er nur Geld und Vergnügen. Muu bezweifelte heute, ob Somkiat wirklich echte Gefühle kannte. Er hatte von seinen Eltern wohl kaum echte Gefühle erhalten. Woher sollte er sie nun auf einmal haben? Er versuchte mit den Vergnügungen nur, vor sich wegzulaufen, sich zu betäuben, und mit dem Geld versuchte er, jemand zu sein. Sie war mit Somkiat nicht gern ins Bett gegangen, hatte es zunächst aus Neugierde, zum grössten Teil aber ihm zuliebe getan. Weil sie seine Zuneigung brauchte, um dann später zu erfahren, dass er keine Zuneigung für sie hatte, sondern als Zweckverhalten eine ihr unbekannte Zuneigung gespielt hatte, um mit ihr ins Bett zu kommen.
Sie war auch mit Ernst nicht gern ins Bett gegangen. Aber das war der Vertrag gewesen. Dafür hatte sie Geld bekommen. War sie nun eine Prostituierte, weil sie mit Ernst im Bett war, um Geld für ihre Tochter zu bekommen, aber sie war keine Prostituierte, weil sie mit Somchai im Bett war, um Zuneigung für sich zu bekommen? Und jene Frauen, die einen Mann heiraten oder heiraten müssen, den sie nicht lieben, nur weil er Geld hat und sie versorgen kann, sind keine Prostituierten? Was ist denn nun eine Prostituierte? Und was ist Liebe? Es waren viele Gedanken, die Muu durch den Kopf gingen und sie fand keine rechten Antworten.
Neunter Teil:
Sie sah, dass das Leben der Gesellschaft sich um Geld und Macht drehte, aber nicht um das Leben. War nun die Gesellschaft verrückt oder war sie verrückt? Überhaupt, was bedeutete es, verrückt zu sein? War es nicht der Zustand, von einem Ort oder einer Situation in eine andere gerückt zu sein? Oder von anderen Leuten zu einem anderen Ort oder in eine andere Situation gerückt worden zu sein? Möglicherweise von Leuten, die dann anschliessend den Vorwurf machen, dass der von ihnen Verrückte verrückt sei? Dann aber ist das ,Verrückt-Sein‘ nichts weiter, als eine inhaltlose Situationsbeschreibung, die keine Werte und keine Ziele kennt, sondern nur als eine sinnlose Beschimpfung benutzt wird, die keine Aussage und keinen Inhalt hat.
Ist man vielleicht nicht verrückt, wenn man normal ist, also tut, was alle tun, tut, was von einem erwartet wird? Wenn man in einem Haus gross wird, wo man nur zu gehorchen hat; in einer Schule und dann in einer Arbeitsstelle nur Befehlen zu gehorchen hat; wenn man sich keine Gedanken über andere Menschen macht; wenn man sich nicht um die Menschen kümmert, die Hilfe brauchen; wenn man unbewegt zusehen kann, wie diese anderen umkommen; wenn man andere Menschen betrügt, um reich zu werden und an Macht zu kommen; wenn man loszieht, um andere umzubringen, Kinder, Frauen, Männer, wofür man Geld bekommt, Auszeichnungen, Orden und Beförderungen, dann ist man wohl normal, denn das ist doch die Norm. Aber ist man denn dann nicht von den Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Lebens entrückt, also trotz aller Nor verrückt, und bedeutet ,normal‘ zu sein, dann nicht gleichzeitig, von den Lebensmöglichkeiten ,verrückt‘ zu sein?
Noch im letzten Jahrhundert haben normale Menschen Hunderte von Millionen normaler Menschen misshandelt, gefoltert, umgebracht, geschlachtet, vergast, im Hagel von Bomben und durch Atombomben verkohlen lassen und man hat bis heute nicht damit aufgehört. Bei dieser Masse von menschlichen Opfern ist das eine Norm, eine Normalität. Die ist aber von den Möglichkeiten menschlichen Lebens weit entfernt. Doch auch für die Lebenden scheint es eine Norm zu sein, nicht miteinander leben zu können - wieviele glückliche Ehepaare oder Familien, wieviele gute Freundschaften gibt es? Wieviele Menschen leben allein? Und hat nicht auch die asiatische Norm, möglichst friedlich nebeneinander her zu leben, kaum etwas mit einem gemeinsamen Leben zu tun? Ist es nicht eine Norm, dass man nicht mit anderen Menschen gemeinsam leben kann, aber ohne andere Menschen auch nicht leben kann? Ist es aber dann nicht verrückt, normal zu sein?
Muu schloss diese Gedanken mit der Gewissheit ab, weder die Normalität, noch die Menschheit ändern zu können. Allerdings sollte es ihr gleichgültig sein, wie andere Menschen sie be- oder verurteilten. Sie würde, gleichgültig, welches Etikett man ihr auch anhängt, nur versuchen können, mit einigen Leuten zusammenzuleben, mit einigen wenigen Menschen, die sie kennt, mit einigen sehr wenigen Menschen, die bereit sind, sie so zu akzeptieren, wie sie ist. Und warum sollte man sie nicht so akzeptieren, wie sie ist? Sie bot Gesellschaft und bemühte sich darum, dass es ihrem Partner gut geht, dass er sich wohlfühlt, genau so, als wenn sie mit ihm verheiratet wäre, nur eben auf eine kürzere Zeit bemessen. Diesem Partner war die Begleitung immerhin so viel wert, dass er dafür gut bezahlte. Moo nahm sich vor, sich mit etwas besserem Englisch vielleicht noch etwas besser um ihre Partner zu kümmern.
An den nächsten Tagen in der Bar hatte sie dafür allerdings nicht sehr viele Möglichkeiten. Es war nicht viel Betrieb und es zeigte auch niemand gesteigertes Interesse an ihr. Sie hatte nur einige unangenehme Erlebnisse, wie sie wohl zum Berufsleben gehören. Ein älterer Gast, der offensichtlich noch nie zuvor in Thailand war, bestellte bei ihr ein ,Dom-Kölsch‘, was sie nicht verstehen konnte, es stellte sich später heraus, dass es ein Bier ist, das sie nicht kannte und das in Thailand unbekannt ist. Er schimpfte sehr laut, dass sie dumm ist, nichts gelernt hat und kein Hirn hat, weil sie kein Deutsch spricht und kein Dom-Kölsch kennt. Er meinte, wenn er hierher kommt und sein Geld hier lässt, dann muss sie Deutsch sprechen. Aber was hatte das mit Dummheit zu tun? Sie konnte Lao, Khmer und Thai lesen und schreiben und sprach mit ihm auf Englisch. Jetzt glaubte er, der kein Englisch verstand, sie als dumm bezeichnen zu können, weil sie kein Deutsch sprach und kein Dom-Kölsch kennt.
Für einen Gast legte er eine erstaunlich arrogante Unverschämtheit an den Tag. Er machte den Eindruck, als wäre er nur nach Thailand gekommen, um einmal ein grosser Mensch zu sein und das auszutoben, worunter er selbst bei sich zuhause zu leiden hatte, nämlich, dass Leute, die mehr Geld oder Macht hatten, als er, ihn als dumm bezeichneten. Hier hatte er mehr Geld und glaubte nun, seinerseits das Recht und den Spass daran haben zu können, diejenigen, die weniger Geld hatten, als dumm zu bezeichnen. Er hatte ein etwas enges Weltbild, in das keine Mitmenschen hineinpassten. Irgendwie tat der Mann Muu zwar leid, aber man kann alles tolerieren, ausser Intoleranz. So beschloss Muu, sich nicht mehr um den Mann zu kümmern, nachdem er ein Singha-Bier bestellt und erhalten hatte. Sie hörte ihn später noch einmal über sie schimpfen, aber das war ihr dann schon gleichgültig und sie hörte gar nicht hin.
Schlimmer noch war ein junger Amerikaner, der Bier trank und mit ihr sprach. Als sie sich nach einer Weile entschuldigte und sagte, dass sie auf die Toilette gehen muss, wurde er wütend und sagte, dass er sich nicht von einer Prostituierten ausnehmen lässt. Sie hatte ihn um nichts gebeten. Wenn er etwas gegen ,Prostituierte‘ hatte, was wollte er hier? Als Muu nach einer etwas verlängerten Zeit von der Toilette zurückkam, setzte sie sich an einen anderen Platz. Nachdem er alleine sass, schimpfte noch etwas vor sich hin, dann trank er sein Bier aus und ging.
Die Woche war im gewohnten Trott verlaufen, mit Gästen, aber ohne einen persönlichen Kunden. Die Gäste waren meist friedlich, einige waren etwas laut und ungehobelt, aber sie waren dennoch freundlich und meinten es offensichtlich nicht böse. Manche Gäste riefen sie: „Eh you!“, ,Eh, Du da!‘ und manche versäumten nicht, nach ihrer Bestellung „Dalli, dalli“, hinzuzufügen, was wohl ,schnell‘ bedeuten sollte. Das war zwar Beides ausgesprochen unhöflich, aber diese Leute schienen sich nichts dabei zu denken. Sie schienen überhaupt wenig zu denken und nur den Druck, unter dem sie lebten und die sie bedrückenden Erlebnisse auszuleben, um sie loszuwerden und sich zu erholen, um sich endlich auch einmal als grosse Menschen empfinden zu können. Es sah oft so aus, als wenn sie Thailänder nicht als gleichwertige Menschen akzeptieren würden, aber Muu führte das auf mangelnde Erziehung, fehlenden Anstand und darauf zurück, dass sie wohl selbst nie recht akzeptiert worden waren und sich innerlich selbst nicht akzeptieren konnten.
Einer dieser Leute nahm sie eines Tages mit. Er war vielleicht etwas über fünfzig Jahre alt, gut durchwachsen, aber noch nicht wirklich fett. Er behandelte sie wie ein kleines Mädchen, ohne es dabei schlecht zu meinen. Er bestellte ihr als Ladydrink ein Bier, das sie nicht mochte, kaufte ihr von einem fliegenden Händler eine Bretzel, die sie auch nicht mochte und schliesslich für 50 Baht einen Armreif, den sie hässlich fand, aber er bestand darauf, dass er schön war und sie ihn tragen muss, so wie sie die Bretzel essen musste, weil er ja genau wusste, dass Bretzeln gut schmecken. Inzwischen sagte er ihr, wie sie ihre Haare schneiden muss und wie sie die Fingernägel lackieren muss, dass sie kurze Röcke und langärmelige, enge Pullover anziehen soll und wie sie an der Bar zu sitzen hat.
Muu stellte sich vor, dass sich manche Eltern, die sich einreden, ihre Kinder zu lieben, sich diesen gegenüber genau so verhalten, wenn sie sie überhaupt nicht verstehen können. Es war gut, dass er sie auch im Hotel wie ein kleines Mädchen behandelte; er beanspruchte sie nicht, sondern schlief alleine. Was ihn aber am nächsten Tage nicht daran hinderte, anderen Gästen zu sagen, dass er am vergangenen Abend dreimal mit ihr zusammen gewesen war, und zwar jedes Mal über eine Stunde. Es war auch gut, dass er sie nach dem Frühstück, bei dem er seine Tischnachbarn noch über seine nächtlichen Heldentaten informierte, schon entliess, weil sie seine Gängelei und die Grossspurigkeit nicht mochte.
Einige Tage später kam Johnny, ein Junge von vielleicht vierundzwanzig Jahren, der modisch, aber dezent gekleidet und sehr lebhaft war, dabei aber nie laut oder unhöflich wurde. Er fragte Muu, was sie trinken möchte, unterhielt sich einige Zeit mit ihr und fragte sie, ob er sie auslösen kann. Johnny sprach viel und erzählte dabei, dass er seinen alten Herrschaften ausgekniffen sei. Er studierte an einer technischen Hochschule und hatte in einem sehr geregelten Elternhaus ein sehr geregeltes Leben genossen. Seine Eltern hatten immer gewusst, was für ihn gut war und ihm sorgsam alle Entscheidungen abgenommen. Selbst die Entscheidung für eine Freudin und die nachfolgende Verlobung. Diese war aber nun in die Brüche gegangen, indem die Verlobte ihm mitteilte, dass sie sehr religiös sei und Johnny noch nicht einmal richtig an Gott glaube. Vier Wochen später folgte ihre Hochzeit mit einem etwas älteren Geschäftsmann, der hierzu mit einem Jaguar vorfuhr und gar nicht den Eindruck machte, als sei er besonders religiös.
Johnny zeigte sich hiervon nicht sonderlich betroffen. Da die Hochzeit aber pünktlich zum Beginn seiner Semesterferien stattfand, hatte er seinen ,alten Herrschaften‘ verständlich machen können, dass er sich nach diesem harten Schicksalsschlag erst einmal in einer fremden Umgebung in innere Einsamkeit zurückziehen müsse, wozu er von diesen volles Verständnis sowie als auch das nötige Urlaubsgeld bekam. Nun befand er sich nicht etwa zur inneren Einsamkeit, sondern vielmehr zu seinem grössten Vergnügen in Pattaya, um sich auszutoben.
Johnny war ein fröhlicher, grosser Junge, der aber das genaue Gegenteil von Muu’s vorhergehender Begegnung war. Statt ihr zu sagen, was sie zu tun hatte, fragte er sie ständig, was er tun sollte, was er trinken und essen soll und was er mit ihr unternehmen kann. Während Muu sich vor wenigen Tagen noch wie ein Kleinkind gefühlt hatte, so sah sie sich jetzt unvermittelt in eine Mutterrolle gedrängt. Das hatte zumindest den Vorteil, dass Johnny das Hotel in nüchternem Zustand erreichte. Dort hatte er zunächst noch viel zu erzählen.
Er sprach viel von seinen Eltern, von seinem Leben und vom Studium, von Computern, der Umwelt und dem Leben in seiner Heimat. Von seinen Eltern sprach er sehr positiv, betonte, dass sie ihm viel helfen und auch immer für ihn da sind, beklagte aber, dass sie manchmal etwas zu viel für ihn da sind und sich alle Mühe geben, ihn so leben zu lassen, wie sie es selbst früher einmal gerne gewollt hätten. Sie sagten ihm alles, was für ihn gut zu sein hat und was ihm keinen Spass zu machen hat. Wenn sie damit fertig waren, liessen sie ihn auch immer grosszügig freiwillig selbst auswählen, das zu tun, was sie ihm zuvor gesagt hatten.
Sie hatten also eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mann, der Muu zuletzt ausgelöst hatte. Interessant war an Johnny’s Erzählungen, dass er seine ehemalige Verlobte und den grossen Weltschmerz, den er hier verarbeiten sollte, mit keinem weiteren Wort mehr erwähnte. Zu vorgerückter Stunde verhielt er sich nach dem Genuss einiger Gläser Limonade und dem Abschluss der Erzählungen als Kavalier; er war nett zu Muu und wurde nicht grob. Und Muu fand es nett, dass er ihr zuvor genug Zeit gelassen hatte, ihn etwas kennenzulernen, so dass sie nicht allzu verkrampft war.
von Dr.G.M. Gad Labudda