Thailändisch lernen

Die ,Nutten‘ von Pattaya

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von Dr.G.M. Gad Labudda


Siebenter Teil:

Nun war Muu wieder auf dem Weg nach Bangkok, um ihr eigenes Leben zu suchen, aber die Chancen waren gering. Bis zu dem Tag, an dem sie das erste Mal nach Bangkok gefahren war, hatte sie nur unter Zwängen gestanden, denen sie sich fügen musste. Deshalb hatte sie in Bangkok nur wenige Chancen gehabt. Dennoch hätte sie aus ihrem Leben vielleicht noch etwas machen können, aber dann hatte sie einen Menschen getroffen, der ein Dieb und ein Betrüger war, einen Menschen, der nur sein Vergnügen gesucht hatte und dann verschwunden war. Sie hatte diesen Menschen gebraucht und geglaubt, ihn zu lieben, sie hatte ihm vertraut und dadurch hatte sie ihre Chancen verspielt.

Nun hatte sie ein Kind und musste sich wieder Zwängen fügen, jenen Zwängen, die sich daraus ergaben, dass sie ihr Kind ernähren musste, ein Kind, in dessen Nähe sie noch nicht einmal sein konnte, weil sie arbeiten musste, um es zu ernähren. Und sie musste dazu beitragen, die Schwestern zu ernähren, die nun ihr Kind aufzogen, auch wenn diese nichts für ihre Arbeit verlangten. Wenn sie aber nichts bekamen, konnten sie auf lange Sicht selbst nicht leben und dann konnten sie auch nicht für das Kind sorgen. Selbst wenn Muu jetzt eine Arbeit als Wäscherin, in einem Hotel oder einer Fabrik bekäme, reichte das Geld kaum, um leben zu können, aber niemals, um auch noch Geld für die Versorgung ihres Kindes zu zahlen und so blieb nur eine Arbeit in einer Bar übrig.

Da Muu erst am späten Nachmittag in Bangkok ankam, ging sie gleich zu ihrer Freundin Daeng. Die hatte alles versucht, um zu verhindern, dass Muu in einer Bar arbeiten muss, aber sie hatte nicht viel Erfolg. Eine Firma, die Handel mit Laos und Kambodscha betrieb, war bereit, Muu für die Handelskorrespondenz einzustellen, ihr Gehalt würde aber nur 2.400 Baht betragen. Daeng bot Muu noch einmal an, dass sie bei ihr umsonst wohnen kann, aber schliesslich waren sich beide Frauen darüber einig, dass das Geld nicht reichte. An dem traurigen letzten Abend meinten sie, es wäre für Muu das Beste, ihr Glück in Pattaya zu suchen. Nach dem Aufbau des Standes am nächsten Morgen lagen sie sich beim Abschied mit Tränen in den Armen und dann fuhr Muu nach Pattaya.

Die Busfahrt war voller Grübeleien über die Vergangenheit und Sorgen über die Zukunft. Wieder einmal war sie mit einem Beutel voller Habseligkeiten unterwegs, um ihr eigenes Leben zu suchen - oder einfach nur zu überleben. Die meisten Sachen hatte sie bei Daeng gelassen und nur etwas Wäsche, das Englischbuch vom Hotel und einige andere Bücher mitgenommen. Wie oft würde sie noch mit einem Beutel in fremde Städte fahren müssen, um zu überleben? Und warum war das so? Sie hatte nichts Böses getan, sie hatte versucht, zu lernen, solange man es ihr erlaubte, und sie hatte versucht, mit anderen Menschen gemeinsam zu leben. Das war nichts Böses und das war auch nicht falsch. Aber sie hatte keine Familie, kein Geld und vor allen Dingen hatte sie zu viel Vertrauen gehabt, zuviele Erwartungen an ein glückliches Leben, das sie durch einen anderen Menschen haben wollte. Das war ihr Fehler und dafür musste sie bezahlen, mit ihrer Arbeit, mit ihrem Körper.

Sie hatte Angst. Angst vor den fremden Männern, die alle ,Farang‘ sein sollten, Männer aus Europa und aus Amerika. Aber noch mehr Angst vor dem Alleinsein. Sicher, sie war früher sehr oft allein. Sie war dabei unglücklich gewesen und das hatte sie überstanden. Aber nun war sie lange Zeit mit Monea und ihrer Schwester und dann mit Daeng zusammen gewesen. Und nun war sie wieder allein, sie kannte sich in Pattaya nicht aus, kannte keinen Menschen und sie wusste noch nicht einmal, wo sie Arbeit suchen und die nächsten Tage bleiben sollte. Sie dachte an Daeng und dass sie bei ihrem Einzug in Bangkok viel Glück gehabt hatte.

Als sie die Strasse entlang ging und einen Essensstand sah, der von einer Frau betrieben wurde, setzte sie sich und bestellte einen Teller Reis mit Huhn. Als sie die Frau nach Arbeit fragte, machte die eine weitausladende Handbewegung und meinte nur, Bars gebe es überall, sie soll da einmal fragen. Und als Muu nach Unterkünften fragte, sagte die Frau, wenn sie eine Arbeit hat, dann könnten ihr die Mädchen an der Bar vielleicht sagen, wo es eine Unterkunft in der Nähe der Bar gibt. Muu ging weiter ins Zentrum. Als sie an einer Bar vorbeikam, wo trotz der Mittagszeit mehrere Mädchen waren und etwas assen, ging sie hin, um sich Informationen zu holen. Die Mädchen fragten aber erst einmal, wo sie her kam. Muu wusste erst nicht recht, was sie sagen sollte.

Als sie sagte, sie sei in Buriram geboren, aber dann in Si Saket zur Schule gegangen, meldete sich gleich ein Mädchen, das Lao sprach und sagte, es käme auch aus Si Saket, zusammen mit vier anderen Mädchen, die auch an dieser Bar arbeiteten und alle kämen aus dem Isan. Muu wurde eingeladen, mitzuessen und wurde gefragt, ob sie Kinder hat. Als sie sagte, sie hat eine Tochter in Surin, nickten die Mädchen und sagten, wo sie ihre Kinder hatten. Fragen waren überflüssig. Wenn ein Mädchen nach Pattaya kam und Arbeit suchte, dann war es normal, wenn es in Buriram geboren, in Si Saket zur Schule gegangen war und ein Kind in Surin hat. Muu gehörte also zu ihrem Kreis. Ein Mädchen dagegen, das aus Bangkok kam und keine Kinder hat, wäre eher eine Aussenseiterin.

Muu hörte, dass die Situation sehr schlecht ist und nicht viele Farang, die westlichen Ausländer, an den Bars zu sehen sind. Dann sagte man ihr, sie sollte es am besten in Südpattaya versuchen, da wäre noch ganz guter Betrieb. Hier an dieser Bar hätten gerade drei Neue angefangen und deswegen seien die Chancen hier nicht gut. Man empfahl ihr, von der Central Road die Strandstrasse oder die Second Road bis ins Fussgängerzentrum an der Soi Diamond zu gehen und dort zu fragen. Ein Mädchen sagte: „Wenn Du nichts findest, kommst Du zurück, dann versuchen wir, den Boss zu überreden und sagen ihm, Du wärst eine langjährige Freundin.“ Nachdem Muu noch eine Weile mit den Mädchen verbracht hatte, bedankte sie sich und machte sich auf den Weg.

Da die Bars erst am Abend richtig besetzt waren und die Inhaber allgemein etwas später kamen, nahm Muu sich die Zeit, die Gegend erst einmal richtig anzusehen. Sie ging über die Strandstrasse und durch die belebteren Querstrassen zur Second Road und wieder zurück, bis sie an der Soi Diamond angelangt war. Unterwegs hielt sie noch an einigen Bars, wo Mädchen zusammen sassen und liess sich noch Informationen über einzelne Bars geben. Diese Hinweise waren zwar spärlich, halfen aber doch weiter. Schliesslich wollte sie gezielt zu vier Bars gehen, die sie sich gemerkt hatte, aber sie wurde schon bei der ersten Bar angenommen. Die Bar war verkehrsgünstig gelegen und es sassen auch schon einige Gäste da, während nur wenige Mädchen hinter der Theke standen. Die Bar hatte kürzlich den Besitzer gewechselt und der neue Inhaber suchte dringend eine neue Belegschaft. Muu sollte am nächsten Tag anfangen.

Als sie nach einer Schlafstelle fragte, erklärte ein Mädchen namens Nam, dass bei ihm ein Schlafplatz frei ist, wenn sie sich an der Miete beteiligen kann. Muu war das sehr recht. Sie sagte zu und erklärte, sie würde dann in der Bar sitzen bleiben und warten, bis sie zusammen gehen könnten. Sie wollte jetzt nicht alleine sein. Um vier Uhr morgens ging sie zusammen mit Nam nachhause. Das Zimmer hatte Matten auf dem Fussboden, eine kleine Küche und einen Waschplatz. Das war vorläufig ausreichend. Muu zahlte ihren Mietanteil und sie gingen schlafen.

Als sie am nächsten Tag gemeinsam zur Bar gingen, erklärte Nam, dass Muu mit ihrem Geld sehr sparsam umgehen muss, weil sie nicht damit rechnen kann, in den ersten Tagen schon Kunden zu finden. Dazu müsste sie erst lernen, mit den Kunden umzugehen und sie müsste mit den Kunden sprechen können. Noch wichtiger wäre vielleicht, dass sie lernt, wie sie sich an die Kunden heranmachen muss, damit sie ausgelöst wird, aber das kann sie in der Bar lernen, wenn sie gut aufpasst, wie die anderen Mädchen das machen. Tatsächlich hatte Muu in den ersten zehn Tagen keinen Kunden, aber sie lernte, wie die Getränke heissen und in welchen Gläsern sie gebracht werden, wie die Mädchen sich verhalten, wenn Gäste kamen und was sie machten, um ausgelöst zu werden.

Unterdessen wurde Muu von ihren Kolleginnen eingearbeitet. Sie hörte, dass sie auf keinen Fall sagen darf, dass sie ein Kind hat, dass sie immer nach Ladydrinks fragen muss, Geld für die Toilette, für Früchte, fürs Taxi nachhause und zum Essen verlangen muss. Wenn sie mehreren Farang sagt, dass sie kein Geld zum Essen hat, dann geben ihr manche Farang Geld, damit kann sie an guten Tagen auf einhundert Baht kommen, erklärte ihr ein Mädchen. Und für die Toilette geben ihr die Farang nicht nur die drei Baht, die sie dort bezahlen muss, sondern meist zehn oder sogar zwanzig Baht, wenn man also mehrmals geht, kommt meistens das Geld für das Essen zusammen und sie braucht ja nicht wirklich auf die Toilette zu gehen, sondern nur ein Stückchen von der Bar weg, um dann nach fünf Minuten wiederzukommen.

Als Muu fragte, ob die Farang sich denn nicht betrogen und ausgenommen fühlen und dann vielleicht nicht mehr wiederkommen, sagte ihr die Kollegin, dass die Farang alle dumm sind und es sei leicht, sie auszunehmen. Schliesslich sei Muu ja gekommen, um Geld zu machen und dann müsse sie auch alle Möglichkeiten dazu ausnützen. Muu sah das anders, aber es hatte sicherlich keinen Sinn, das der Kollegin zu erklären. Vielleicht war es auch so, dass man härter und rücksichtsloser wird, wenn man längere Zeit in diesem Beruf arbeitet, dachte sie. Es war ihr völlig klar, dass die Mädchen bei dieser Tätigkeit auch viele schlechte Erfahrungen machten. Mit recht unwohlen Gefühlen dachte sie an die Erfahrungen, die ihr selbst noch bevorstehen.

Während die meisten Mädchen an dieser Bar sich aufreizend kleideten, hatte Muu zwar auch die typisch thailändische Kleidung abgelegt, aber sie hatte sich einige einfache, dem europäischen Geschmack angenäherte Sachen gekauft, die dezent aussahen. Das würde zwar die Nachfrage nach ihr nicht sehr steigern, aber sie glaubte, damit wenigstens nicht zum Hauptziel für Männer zu werden, die nichts weiter suchten, als ein kurzes Vergnügen, ein brauchbares Stück Fleisch zur Nacht. Sie hoffte, dass das Geld vielleicht auch ohne solch unangenehme Bekanntschaften reichte, wenn sie ihre Ausgaben einschränkt und sparsam lebt.

Wahrscheinlich war es neben ihrem Verhalten tatsächlich ihre Kleidung, die vielen Männern signalisierte, dass sie kein Interesse an vielen amourösen Erlebnissen hatte, was aber der Grund für ihren ersten Kunden war, sich für sie zu interessieren. Ernst war wirklich ernst und er hatte gar nicht viel für die Mädchen übrig, die sich gleich auf jeden Mann warfen, der an die Bar kam, deshalb interessierte er sich für Muu. Er war der Überzeugung, dass auch etwas Sympathie und etwas Gemeinsamkeit dazugehört, wenn man gemeinsam ins Bett geht. Er war sich zwar klar darüber, dass die Mädchen das nicht so aussuchen konnten, wie sie wollten, aber dafür hatte er ja diese Möglichkeit. Bisher hatte er mit diesem gedanklichen Hintergrund zwar nicht viel Erfolg gehabt, denn er hatte hier vorwiegend garantiert gefühlsfreie bis apathische Frauen kennengelernt, aber er wollte nicht aufgeben, denn er hatte gar keine Lust, mit einem herumhopsenden und -schreienden Kleinkind ins Bett zu gehen, nur weil es sich durch einen sexuell brauchbaren Körper auszeichnete.

Er war früh am Abend gekommen und versuchte, sich mit Muu etwas zu unterhalten, was zwar nicht ganz einfach war, sich aber doch als möglich erwies. Auf Muu machte er einen zurückhaltenden, aber freundlichen Eindruck. Nachdem sie längere Zeit miteinander gesprochen hatten, war sie zunächst erschrocken, als er sie fragte, ob er sie auslösen kann. Sie hatte ihn für einen netten Menschen gehalten und gedacht, dass nette Menschen so etwas nicht tun. Aber es dauerte nicht lange, bis sie sich darauf besann, warum sie hier war und dass sie Geld verdienen musste und dass Ernst doch noch einen weit besseren Eindruck auf sie machte, als die meisten Männer, die sie hier gesehen hatte.




Achter Teil:

Muu war etwas bedrückt, als Ernst mit ihr loszog, aber zu ihrer Erleichterung ging es nicht gleich ins Hotel, vielmehr ging er mit ihr in ein Restaurant und sagte Muu, dass sie hoffentlich noch etwas essen kann, denn er hätte weder Lust gehabt, alleine in ein Restaurant zu gehen, noch hatte er Lust, alleine zu essen. Muu bestellte sich nur ein einfaches Reisgericht und war mit einem Glas Wasser zufrieden. Ernst erklärte, dass er lieber in einem Restaurant sitzt, als an einer Bar, weil man sich viel besser unterhalten kann. Die Aussicht, sich nun auf Englisch unterhalten zu müssen, schien Muu gar nicht verlockend, aber sie kämpfte sich durch, obwohl Ernst viele Fragen über Thailand stellte.

Er fragte nach der Regierungspolitik als auch über Investitionsmöglichkeiten, über thailändische Kunst und Kultur, über die unterschiedlichen Traditionen in den verschiedenen Landesteilen und über die Lebensgewohnheiten auf dem Lande. Für ihn war es selbstverständlich, dass jeder Mensch darüber zumindest in seinem eigenen Land Bescheid weiss. Muu jedoch war froh, dass sie in Surin und in Bangkok immer die Zeitungen gelesen hatte, merkte aber, dass sie schon nicht mehr ganz auf dem Laufenden war und nahm sich vor, wieder mehr Zeitungen zu lesen, auch weil sie sich mit den Büchern, die sie gerade über Gesellschaftspolitik las, gut verbinden und besser verstehen liessen. Ausserdem bemerkte sie, dass ihr die Übung fehlt und dass sie viel mehr Englisch sprechen sollte.

Muu war nach ihren verzweifelten Anstrengungen doch froh, als Ernst schliesslich über Deutschland erzählte, denn es war doch einfacher, zuzuhören, als selbst zu sprechen. Manchmal, wenn auch nicht immer, fragte sie, wenn sie etwas nicht verstanden hatte und Ernst erklärte es ihr. Aber Ernst sprach kaum über sich selbst, wie er auch wenige Fragen über Muu gestellt hatte. Er erzählte nichts über seine Vergangenheit oder über seine Familie und Muu wusste noch nicht einmal, ob er verheiratet war oder was er beruflich macht. Als ein Mädchen ihn an der Bar einmal danach fragte, hatte er nur etwas spöttisch geantwortet, dass er in Deutschland arbeitet, weil er für den Urlaub in Thailand nicht bezahlt wird. So verbrachten sie noch längere Zeit in dem Restaurant mit der Unterhaltung, wobei Muu es als positiv ansah, dass Ernst nur noch einen Kaffee und keinen Alkohol trank. Aber es war klar, dass diese Unterhaltung zu Ende gehen musste und sie schliesslich mit Ernst in sein Hotel zu gehen hatte.

Als Ernst die Rechnung bezahlt hatte, gingen sie zu Fuss zum Hotel, das nicht weit entfernt war. Dort ging er jedoch erst an den Kühlschrank und fragte Muu, ob sie etwas trinken möchte. Um die Zeit hinauszuzögern, bat sie um ein Glas Limonade, das sie ganz langsam trank. Muu war sehr unsicher und nervös. Sie hatte Ernst schon erzählt, dass sie eine Tochter hat und sie hatte ihm auch erzählt, dass er der erste Ausländer oder ihr erster Kunde ist. Darauf hatte Ernst nichts gesagt, sondern nur etwas gelächelt, aber es war nicht zu erkennen gewesen, weshalb. Ob er ihr vielleicht nicht glaubte? Sie erinnerte sich daran, dass ihre Kolleginnen ihr geraten hatten, nie zu sagen, dass sie ein Kind hat und immer zu sagen, dass sie gerade erst nach Pattaya gekommen ist, dass sie immer sagen soll, sie hätte erst wenige Kunden gehabt, am besten, dass sie noch nie einen Kunden gehabt hat und dass der Farang, der sie mitnahm, der Erste sei. Wenn Ernst nun schon mehrere Mädchen getroffen hatte, die ihm gesagt hatten, dass er der Erste sei, dann würde er ihr sicher nicht glauben. Ernst aber sagte nichts dazu.

Muu wusste nun gar nicht, wie sie sich verhalten sollte, aber das war nicht weiter schlimm, denn daran sah Ernst, dass Muu wirklich nicht viel Erfahrung hatte, was ihn nicht im Geringsten störte. Er liess zwar nicht von seinem Vorhaben ab, denn Muu hatte ja selbst zugestimmt und er wollte nicht aus Mitleid Almosen verteilen, zumal sie ja mit dem nächsten Mann wohl doch ins Bett gehen würde, warum also nicht mit ihm? Aber er hatte Verständnis für ihre Situation und liess ihr Zeit. Und dann war er sehr rücksichtsvoll und zärtlich, bis Muu sich etwas auflockerte. Ernst schlief schnell ein, während es bei Muu noch einige Stunden dauern sollte. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, bis sich Vergangenheit und Zukunft in ihren Gedanken mischten und sie schliesslich schlief.

Am frühen Morgen schon wurde Muu wach. Vielleicht hatte sie Glück gehabt; die Nacht mit dem Farang war nicht so schlimm gewesen, wie sie es aus Erzählungen ihrer Kolleginnen gehört hatte. Sie blieb noch einige Zeit in Gedanken versunken liegen, die sie aber nicht klären konnte und so stand sie leise auf, um Ernst nicht zu wecken, doch als sie gerade seine Wäsche gewaschen hatte, wachte auch Ernst auf und stellte sich unter die Dusche. Beim gemeinsamen Frühstück - ,Continental Breakfast‘ für ihn und Reissuppe für sie - stellte Ernst diesmal keine Fragen über Thailand, sondern wollte etwas über Muus Leben erfahren.

Er wusste nicht recht, ob es wegen der Verständigungsschwierigkeiten war, oder ob Muu nicht gerne über sich oder ihr Leben sprach, wenn sie immer nur sehr kurz und knapp antwortete. Schliesslich erzählte er etwas über andere europäische Länder, die er bereist hatte. Da Ernst einige Hemden für das heisse Klima Thailands brauchte, zogen sie nach dem Frühstück gemeinsam los, um passende Hemden zu suchen. Sie bummelten an der Strandstrasse entlang und gingen auch in das Kaufhaus ,Modern City‘, das Muu inzwischen schon als besonders preiswert kannte, und zu ,Mike’s Shopping Mall‘ an der Second Road.

Der Einkauf zögerte sich etwas hinaus und sie gingen zum Essen in ein Restaurant, bevor sie ins Hotel zurückkehrten. Dort nahm Ernst einige Berichte, die er noch zu lesen hatte und setzte sich an den Pool. Er war erstaunt, dass Muu sich zwei Zeitungen mitnahm und las, bis sie sagte, sie müsse jetzt nachhause gehen und sich umziehen, weil sie dann gleich wieder zur Arbeit an die Bar gehen muss. Ernst fragte, ob er sie wieder zum Essen einladen darf und als Muu sich mit einem Wai bedankte, dem Zusammenlegen der Hände vor dem Kinn des gesenkten Kopfeses, sagte er, dass er am Abend auf jeden Fall zu ihr an die Bar kommen wird, nachdem er die Berichte durchgearbeitet hat.

Ernst blieb noch zwölf Tage und während dieser Zeit blieb Muu bei ihm. Sie unternahmen einige wenige Ausflüge, gingen nur hin und wieder einmal zu einem Einkaufsbummel in die Stadt und verbrachten die meiste Zeit an den Stränden von Pattaya und von Jomthien und mit Büchern oder Zeitungen am Pool des Hotels. Es war für Muu ein hervorragender Geschäftserfolg, der es ihr erlaubte, ihrer Freundin Monea für die Versorgung ihrer Tochter Geld zu schicken. Da Ernst aber die Unterhaltung mit ihr Spass zu machen schien, bedeutete es für Muu, dass sie alle zwölf Tage lang Kopfschmerzen hatte, denn bei ihrem noch geringfügigen Vokabular war es doch sehr anstrengend, den ganzen Tag Englisch zu sprechen.

Ernst hatte aber Verständnis und erklärte ihr alle Worte, die sie nicht kannte. Er half ihr auch durch Rückfragen bei der richtigen Formulierung ihrer Aussagen, wodurch ihre Englischkenntnisse in dieser Zeit gewaltige Fortschritte machten. Was Muu eigentlich irritierte, war, dass Ernst zwar mit ihrer Anwesenheit zufrieden zu sein schien, aber niemals etwas davon sagte, dass er sie mochte, ob er wiederkommen würde oder ob er sie wiedersehen wollte. Er hatte gesagt, wann er wieder nach Europa fliegt und an diesem Datum änderte sich auch nichts.

Am Abreisetag musste Ernst spät nachmittags nach Bangkok fahren, um rechtzeitig auf dem Flughafen zu sein. Als Muu fragte, ob sie ihn zum Flughafen bringen sollte, meinte er, sie solle sich keine Sorgen machen; er hätte volles Vertrauen darin, dass der Taxifahrer den Flughafen findet und ausserdem sei der so gross, dass er ihn gar nicht verfehlen kann. Aber er bezahlte auch für die folgende Nacht und gab Muu noch ein schönes Trinkgeld obendrein. Was Muu aber viel mehr freute, waren zwei Bücher, die er für sie gekauft hatte. Es waren zwei Bücher mit Geschichten über Thailand, die aber in Englisch geschrieben waren und er meinte lächelnd, es würde ihr sicher mehr Spass machen, Englisch zu lesen, wenn es Geschichten über ihre Heimat sind.

Nur vorsichtshalber, sagte Ernst, sollte Muu ihm auch noch ihre Adresse aufschreiben, vielleicht würde er sich einmal melden, ihr einen Gruss schicken oder sie suchen, falls er wieder einmal nach Thailand kommt. Als er nach einer knappen letzten Verabschiedung ins Taxi einstieg, sagte er Moo noch, dass er auf dem Tisch seines Hotelzimmers, das noch bis zum nächsten Tag bezahlt war, ein Päckchen vergessen habe, das er aber im Moment nicht brauchte und bat Muu, es für ihn aufzuheben, bis er vielleicht später wieder einmal nach Pattaya kommt. Dann fuhr das Taxi ab und Ernst war mit einem letzten Winken um die Ecke verschwunden.

Muu ging in das Hoteltzimmer zurück, um nach dem ,vergessenen‘ Päckchen zu suchen. Sie fand ein offenen Kästchen mit einer goldenen Kette. Muu war verwirrt. Sollte die Kette für sie sein? Aber, hatte Ernst nicht gesagt, sie sollte das Päckchen für ihn aufheben, wenn er wieder nach Pattaya kommt? Also kann die Kette nicht für sie sein, entschied Muu, denn sie musste sie ja aufheben und zurückgeben. Sie wird sie zum Aufheben wohl tragen, nicht aber verkaufen dürfen, glaubte sie und vermutete, dass das wohl die Absicht von Ernst gewesen war.

Muu entschloss sich, an diesem Abend nicht in die Bar zu gehen. Die Auslösung und das Hotelzimmer waren bezahlt und es schläft sich im Hotelbett doch besser, als auf ihrer Bastmatte. Sie überlegte sich das Verhältnis, das sie mit Ernst hatte. Er war sehr zurückhaltend, aber immer freundlich gewesen, wenn auch nicht gerade romantisch. Für ihn schien Sexualität eine nebensächliche Selbstverständlichkeit zu sein und nicht der hauptsächliche Sinn einer Begegnung, wie sie es bei Somkiat, dem Vater ihrer Tochter, erlebt hatte, der verschwand, als sie schwanger wurde. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich mit Somkiat eigentlich nie richtig unterhalten hatte. Er hatte nicht viel Wissen, was er durch eine gewisse Selbstherrlichkeit und ,Männlichkeit‘ ersetzte, mit der er auch keinen Widerspruch duldete. Er war nie bereit gewesen, Gedanken aufzunehmen, hatte vielmehr ihre Gedanken und Äusserungen immer beiseite geschoben und das letzte Ziel war dann immer das Bett gewesen.

Sie erinnerte sich, dass Somkiat ihr einmal gesagt hatte, dass er sehr strenge Eltern gehabt hat, die sich aber nicht viel um ihn gekümmert haben. Der Vater war mit Geldverdienen und Vergnügungen beschäftigt und die Mutter hatte es nicht sehr lange bei ihm ausgehalten. Mit zehn Jahren war Somkiat praktisch allein gewesen. Die Mutter hatte drei jüngere Geschwister mitgenommen und er war beim Vater geblieben. Weil der Vater aber kaum einmal zu sehen war, wurde er von einer Nachbarin versorgt, wofür der Vater bezahlte. Die Versorgung bestand aber nur darin, dass die Nachbarin dem Jungen etwas zu essen gab. Somkiat hatte geschworen, nie so zu werden, wie der Vater.

Er trug ganz andere Kleidung, ging nicht zum Tempel und trug zum Protest bis zu den Ohren reichende Haare mit einem Mittelscheitel. Aber genau so wie der Vater suchte er nur Geld und Vergnügen. Muu bezweifelte heute, ob Somkiat wirklich echte Gefühle kannte. Er hatte von seinen Eltern wohl kaum echte Gefühle erhalten. Woher sollte er sie nun auf einmal haben? Er versuchte mit den Vergnügungen nur, vor sich wegzulaufen, sich zu betäuben, und mit dem Geld versuchte er, jemand zu sein. Sie war mit Somkiat nicht gern ins Bett gegangen, hatte es zunächst aus Neugierde, zum grössten Teil aber ihm zuliebe getan. Weil sie seine Zuneigung brauchte, um dann später zu erfahren, dass er keine Zuneigung für sie hatte, sondern als Zweckverhalten eine ihr unbekannte Zuneigung gespielt hatte, um mit ihr ins Bett zu kommen.

Sie war auch mit Ernst nicht gern ins Bett gegangen. Aber das war der Vertrag gewesen. Dafür hatte sie Geld bekommen. War sie nun eine Prostituierte, weil sie mit Ernst im Bett war, um Geld für ihre Tochter zu bekommen, aber sie war keine Prostituierte, weil sie mit Somchai im Bett war, um Zuneigung für sich zu bekommen? Und jene Frauen, die einen Mann heiraten oder heiraten müssen, den sie nicht lieben, nur weil er Geld hat und sie versorgen kann, sind keine Prostituierten? Was ist denn nun eine Prostituierte? Und was ist Liebe? Es waren viele Gedanken, die Muu durch den Kopf gingen und sie fand keine rechten Antworten.





Neunter Teil:

Sie sah, dass das Leben der Gesellschaft sich um Geld und Macht drehte, aber nicht um das Leben. War nun die Gesellschaft verrückt oder war sie verrückt? Überhaupt, was bedeutete es, verrückt zu sein? War es nicht der Zustand, von einem Ort oder einer Situation in eine andere gerückt zu sein? Oder von anderen Leuten zu einem anderen Ort oder in eine andere Situation gerückt worden zu sein? Möglicherweise von Leuten, die dann anschliessend den Vorwurf machen, dass der von ihnen Verrückte verrückt sei? Dann aber ist das ,Verrückt-Sein‘ nichts weiter, als eine inhaltlose Situationsbeschreibung, die keine Werte und keine Ziele kennt, sondern nur als eine sinnlose Beschimpfung benutzt wird, die keine Aussage und keinen Inhalt hat.

Ist man vielleicht nicht verrückt, wenn man normal ist, also tut, was alle tun, tut, was von einem erwartet wird? Wenn man in einem Haus gross wird, wo man nur zu gehorchen hat; in einer Schule und dann in einer Arbeitsstelle nur Befehlen zu gehorchen hat; wenn man sich keine Gedanken über andere Menschen macht; wenn man sich nicht um die Menschen kümmert, die Hilfe brauchen; wenn man unbewegt zusehen kann, wie diese anderen umkommen; wenn man andere Menschen betrügt, um reich zu werden und an Macht zu kommen; wenn man loszieht, um andere umzubringen, Kinder, Frauen, Männer, wofür man Geld bekommt, Auszeichnungen, Orden und Beförderungen, dann ist man wohl normal, denn das ist doch die Norm. Aber ist man denn dann nicht von den Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Lebens entrückt, also trotz aller Nor verrückt, und bedeutet ,normal‘ zu sein, dann nicht gleichzeitig, von den Lebensmöglichkeiten ,verrückt‘ zu sein?

Noch im letzten Jahrhundert haben normale Menschen Hunderte von Millionen normaler Menschen misshandelt, gefoltert, umgebracht, geschlachtet, vergast, im Hagel von Bomben und durch Atombomben verkohlen lassen und man hat bis heute nicht damit aufgehört. Bei dieser Masse von menschlichen Opfern ist das eine Norm, eine Normalität. Die ist aber von den Möglichkeiten menschlichen Lebens weit entfernt. Doch auch für die Lebenden scheint es eine Norm zu sein, nicht miteinander leben zu können - wieviele glückliche Ehepaare oder Familien, wieviele gute Freundschaften gibt es? Wieviele Menschen leben allein? Und hat nicht auch die asiatische Norm, möglichst friedlich nebeneinander her zu leben, kaum etwas mit einem gemeinsamen Leben zu tun? Ist es nicht eine Norm, dass man nicht mit anderen Menschen gemeinsam leben kann, aber ohne andere Menschen auch nicht leben kann? Ist es aber dann nicht verrückt, normal zu sein?

Muu schloss diese Gedanken mit der Gewissheit ab, weder die Normalität, noch die Menschheit ändern zu können. Allerdings sollte es ihr gleichgültig sein, wie andere Menschen sie be- oder verurteilten. Sie würde, gleichgültig, welches Etikett man ihr auch anhängt, nur versuchen können, mit einigen Leuten zusammenzuleben, mit einigen wenigen Menschen, die sie kennt, mit einigen sehr wenigen Menschen, die bereit sind, sie so zu akzeptieren, wie sie ist. Und warum sollte man sie nicht so akzeptieren, wie sie ist? Sie bot Gesellschaft und bemühte sich darum, dass es ihrem Partner gut geht, dass er sich wohlfühlt, genau so, als wenn sie mit ihm verheiratet wäre, nur eben auf eine kürzere Zeit bemessen. Diesem Partner war die Begleitung immerhin so viel wert, dass er dafür gut bezahlte. Moo nahm sich vor, sich mit etwas besserem Englisch vielleicht noch etwas besser um ihre Partner zu kümmern.

An den nächsten Tagen in der Bar hatte sie dafür allerdings nicht sehr viele Möglichkeiten. Es war nicht viel Betrieb und es zeigte auch niemand gesteigertes Interesse an ihr. Sie hatte nur einige unangenehme Erlebnisse, wie sie wohl zum Berufsleben gehören. Ein älterer Gast, der offensichtlich noch nie zuvor in Thailand war, bestellte bei ihr ein ,Dom-Kölsch‘, was sie nicht verstehen konnte, es stellte sich später heraus, dass es ein Bier ist, das sie nicht kannte und das in Thailand unbekannt ist. Er schimpfte sehr laut, dass sie dumm ist, nichts gelernt hat und kein Hirn hat, weil sie kein Deutsch spricht und kein Dom-Kölsch kennt. Er meinte, wenn er hierher kommt und sein Geld hier lässt, dann muss sie Deutsch sprechen. Aber was hatte das mit Dummheit zu tun? Sie konnte Lao, Khmer und Thai lesen und schreiben und sprach mit ihm auf Englisch. Jetzt glaubte er, der kein Englisch verstand, sie als dumm bezeichnen zu können, weil sie kein Deutsch sprach und kein Dom-Kölsch kennt.

Für einen Gast legte er eine erstaunlich arrogante Unverschämtheit an den Tag. Er machte den Eindruck, als wäre er nur nach Thailand gekommen, um einmal ein grosser Mensch zu sein und das auszutoben, worunter er selbst bei sich zuhause zu leiden hatte, nämlich, dass Leute, die mehr Geld oder Macht hatten, als er, ihn als dumm bezeichneten. Hier hatte er mehr Geld und glaubte nun, seinerseits das Recht und den Spass daran haben zu können, diejenigen, die weniger Geld hatten, als dumm zu bezeichnen. Er hatte ein etwas enges Weltbild, in das keine Mitmenschen hineinpassten. Irgendwie tat der Mann Muu zwar leid, aber man kann alles tolerieren, ausser Intoleranz. So beschloss Muu, sich nicht mehr um den Mann zu kümmern, nachdem er ein Singha-Bier bestellt und erhalten hatte. Sie hörte ihn später noch einmal über sie schimpfen, aber das war ihr dann schon gleichgültig und sie hörte gar nicht hin.

Schlimmer noch war ein junger Amerikaner, der Bier trank und mit ihr sprach. Als sie sich nach einer Weile entschuldigte und sagte, dass sie auf die Toilette gehen muss, wurde er wütend und sagte, dass er sich nicht von einer Prostituierten ausnehmen lässt. Sie hatte ihn um nichts gebeten. Wenn er etwas gegen ,Prostituierte‘ hatte, was wollte er hier? Als Muu nach einer etwas verlängerten Zeit von der Toilette zurückkam, setzte sie sich an einen anderen Platz. Nachdem er alleine sass, schimpfte noch etwas vor sich hin, dann trank er sein Bier aus und ging.

Die Woche war im gewohnten Trott verlaufen, mit Gästen, aber ohne einen persönlichen Kunden. Die Gäste waren meist friedlich, einige waren etwas laut und ungehobelt, aber sie waren dennoch freundlich und meinten es offensichtlich nicht böse. Manche Gäste riefen sie: „Eh you!“, ,Eh, Du da!‘ und manche versäumten nicht, nach ihrer Bestellung „Dalli, dalli“, hinzuzufügen, was wohl ,schnell‘ bedeuten sollte. Das war zwar Beides ausgesprochen unhöflich, aber diese Leute schienen sich nichts dabei zu denken. Sie schienen überhaupt wenig zu denken und nur den Druck, unter dem sie lebten und die sie bedrückenden Erlebnisse auszuleben, um sie loszuwerden und sich zu erholen, um sich endlich auch einmal als grosse Menschen empfinden zu können. Es sah oft so aus, als wenn sie Thailänder nicht als gleichwertige Menschen akzeptieren würden, aber Muu führte das auf mangelnde Erziehung, fehlenden Anstand und darauf zurück, dass sie wohl selbst nie recht akzeptiert worden waren und sich innerlich selbst nicht akzeptieren konnten.

Einer dieser Leute nahm sie eines Tages mit. Er war vielleicht etwas über fünfzig Jahre alt, gut durchwachsen, aber noch nicht wirklich fett. Er behandelte sie wie ein kleines Mädchen, ohne es dabei schlecht zu meinen. Er bestellte ihr als Ladydrink ein Bier, das sie nicht mochte, kaufte ihr von einem fliegenden Händler eine Bretzel, die sie auch nicht mochte und schliesslich für 50 Baht einen Armreif, den sie hässlich fand, aber er bestand darauf, dass er schön war und sie ihn tragen muss, so wie sie die Bretzel essen musste, weil er ja genau wusste, dass Bretzeln gut schmecken. Inzwischen sagte er ihr, wie sie ihre Haare schneiden muss und wie sie die Fingernägel lackieren muss, dass sie kurze Röcke und langärmelige, enge Pullover anziehen soll und wie sie an der Bar zu sitzen hat.

Muu stellte sich vor, dass sich manche Eltern, die sich einreden, ihre Kinder zu lieben, sich diesen gegenüber genau so verhalten, wenn sie sie überhaupt nicht verstehen können. Es war gut, dass er sie auch im Hotel wie ein kleines Mädchen behandelte; er beanspruchte sie nicht, sondern schlief alleine. Was ihn aber am nächsten Tage nicht daran hinderte, anderen Gästen zu sagen, dass er am vergangenen Abend dreimal mit ihr zusammen gewesen war, und zwar jedes Mal über eine Stunde. Es war auch gut, dass er sie nach dem Frühstück, bei dem er seine Tischnachbarn noch über seine nächtlichen Heldentaten informierte, schon entliess, weil sie seine Gängelei und die Grossspurigkeit nicht mochte.

Einige Tage später kam Johnny, ein Junge von vielleicht vierundzwanzig Jahren, der modisch, aber dezent gekleidet und sehr lebhaft war, dabei aber nie laut oder unhöflich wurde. Er fragte Muu, was sie trinken möchte, unterhielt sich einige Zeit mit ihr und fragte sie, ob er sie auslösen kann. Johnny sprach viel und erzählte dabei, dass er seinen alten Herrschaften ausgekniffen sei. Er studierte an einer technischen Hochschule und hatte in einem sehr geregelten Elternhaus ein sehr geregeltes Leben genossen. Seine Eltern hatten immer gewusst, was für ihn gut war und ihm sorgsam alle Entscheidungen abgenommen. Selbst die Entscheidung für eine Freudin und die nachfolgende Verlobung. Diese war aber nun in die Brüche gegangen, indem die Verlobte ihm mitteilte, dass sie sehr religiös sei und Johnny noch nicht einmal richtig an Gott glaube. Vier Wochen später folgte ihre Hochzeit mit einem etwas älteren Geschäftsmann, der hierzu mit einem Jaguar vorfuhr und gar nicht den Eindruck machte, als sei er besonders religiös.

Johnny zeigte sich hiervon nicht sonderlich betroffen. Da die Hochzeit aber pünktlich zum Beginn seiner Semesterferien stattfand, hatte er seinen ,alten Herrschaften‘ verständlich machen können, dass er sich nach diesem harten Schicksalsschlag erst einmal in einer fremden Umgebung in innere Einsamkeit zurückziehen müsse, wozu er von diesen volles Verständnis sowie als auch das nötige Urlaubsgeld bekam. Nun befand er sich nicht etwa zur inneren Einsamkeit, sondern vielmehr zu seinem grössten Vergnügen in Pattaya, um sich auszutoben.

Johnny war ein fröhlicher, grosser Junge, der aber das genaue Gegenteil von Muu’s vorhergehender Begegnung war. Statt ihr zu sagen, was sie zu tun hatte, fragte er sie ständig, was er tun sollte, was er trinken und essen soll und was er mit ihr unternehmen kann. Während Muu sich vor wenigen Tagen noch wie ein Kleinkind gefühlt hatte, so sah sie sich jetzt unvermittelt in eine Mutterrolle gedrängt. Das hatte zumindest den Vorteil, dass Johnny das Hotel in nüchternem Zustand erreichte. Dort hatte er zunächst noch viel zu erzählen.

Er sprach viel von seinen Eltern, von seinem Leben und vom Studium, von Computern, der Umwelt und dem Leben in seiner Heimat. Von seinen Eltern sprach er sehr positiv, betonte, dass sie ihm viel helfen und auch immer für ihn da sind, beklagte aber, dass sie manchmal etwas zu viel für ihn da sind und sich alle Mühe geben, ihn so leben zu lassen, wie sie es selbst früher einmal gerne gewollt hätten. Sie sagten ihm alles, was für ihn gut zu sein hat und was ihm keinen Spass zu machen hat. Wenn sie damit fertig waren, liessen sie ihn auch immer grosszügig freiwillig selbst auswählen, das zu tun, was sie ihm zuvor gesagt hatten.

Sie hatten also eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mann, der Muu zuletzt ausgelöst hatte. Interessant war an Johnny’s Erzählungen, dass er seine ehemalige Verlobte und den grossen Weltschmerz, den er hier verarbeiten sollte, mit keinem weiteren Wort mehr erwähnte. Zu vorgerückter Stunde verhielt er sich nach dem Genuss einiger Gläser Limonade und dem Abschluss der Erzählungen als Kavalier; er war nett zu Muu und wurde nicht grob. Und Muu fand es nett, dass er ihr zuvor genug Zeit gelassen hatte, ihn etwas kennenzulernen, so dass sie nicht allzu verkrampft war.






von Dr.G.M. Gad Labudda
 
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von Dr.G.M. Gad Labudda


Zehnter Teil:

Am nächsten Morgen waren beide früh auf und gingen in den Frühstücksraum. Johnny bestellte das ,Continental Breakfast‘ und Muu ihre Reissuppe. Die Bedienung war etwas irritiert und kam nach zwei Minuten wieder, um die Teller richtig zu plazieren. Das kam aber nur daher, dass Johnny auf die Reissuppe geschaut hatte und sich spontan entschloss, Reissuppe zu essen und seinen Teller wegschob. Er meinte, wenn die Leute hier morgens Reissuppe essen, dann hätte das sicherlich auch einen Grund. Der könnte etwas mit dem Klima zu tun haben, das ja hier viel heisser sei und deswegen wollte er einmal die Reissuppe probieren und schob seinen Teller weg. Darauf schob Muu ihm die Reissuppe hin, denn sie wollte nicht, dass er noch einmal bestellen musste und nahm sich sein Frühstück mit der Bemerkung, dann würde sie dieses einmal probieren.

Nach dem Frühstück fragte er Muu, was sie jetzt am besten unternehmen könnten. Muu meinte, dass es vielleicht gut wäre, etwas von Thailand zu sehen, wenn er schon hier in Urlaub war. So kam es, dass Johnny ein grosses Motorrad mietete und sie gemeinsam in die benachbarte Provinz Chachoengsao fuhren. Anfangs hatte Muu Angst gehabt, dass der junge Johnny mit so einem Motorrad nun durch die Gegend rasen würde, doch auch hier verhielt sich Johnny als echter Kavalier und fuhr nie schneller als 50 Stundenkilometer.

Aber Johnny zeigte andere Eigentümlichkeiten. Er hielt nicht etwa dort, wo die für Touristen empfohlenen Attraktionen waren, sondern dort, wo Leute auf dem Feld arbeiteten, dort, wo vielleicht ein oder zwei Kinder vor einer verfallenen Hütte sassen, wo man Plantagen, eine schöne Landschaft sah oder wo ein schiefer Bau mit drei oder vier wackeligen Stühlen zu einem Restaurant erklärt worden war, statt in die extra für Touristen aufgesetzten Lokale zu gehen, die sich weithin sichtbar oftmals als ,Restuaran‘ anpriesen und nicht nur durch spezielle Speisen, sondern auch durch spezielle Preise hervorstachen.

Muu hatte viel zu erklären und manchmal hielt Johnny auch, um Leute etwas zu fragen, was bedeutete, dass Muu übersetzen musste. Dennoch war es auch für Muu eine angenehme Reise, weil sie diese Gegend selbst noch nicht gesehen hatte und Johnny die Fahrt zu einem gemütlichen Ausflug gestaltete, bei dem er beliebige Pausen einlegte, statt es eilig zu haben. Muu bedauerte, dass sie sich vor der Fahrt nicht gründlich informiert hatte, doch Johnny meinte, das wäre überhaupt kein Problem, das könne sie nachholen, weil er die Gegend und den Ausflug so schön findet, dass er ihn gerne zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt.

Von nun an standen Ausflüge auf dem Tagesprogramm, während die Abende in einem Restaurant, in der Bar und im Hotel verbracht wurden. Es war erst am vierten Tag, als Johnny genug über sich, seine Familie und seine Heimat gesprochen hatte, dass ihm einfiel, er könne Muu auch einmal über ihr Leben fragen. Sie war erst etwas wortkarg, doch als Johnny über die Landwirtschaft, die Menschen und die Arbeit fragte, über die Schule und Schulkameradinnen, wurde Muu etwas gesprächiger und es wurde ein langer, gemeinsamer Abend.

Muu konnte nicht gerade behaupten, dass sie Johnny liebt, aber er war ein grosser, lustiger Junge, der mit einer gewissen Nonchalance darüber hinwegging, dass sie sich nur mit Mühe verständigen konnten und dass er Muu dafür bezahlte. Er benahm sich so, als würden sie sich schon lange kennen und hätten sich nun gerade zufällig auf einem Ausflug getroffen. Bei näherem Überlegen dachte Muu, dass sie sich im Verlaufe einer längeren Zeit schon an solch einen Menschen gewöhnen könnte, gleichzeitig aber wusste sie, dass Johnny hier nur seinen Urlaub verbringen wollte, Gemeinsamkeit suchte, aber nicht im entferntesten daran dachte, mit ihr auf die Dauer zusammen zu leben.

Was sie am meisten an Johnny störte, waren seine Fragen, wenn er wissen wollte, was er essen oder trinken soll, was sie unternehmen können, wo sie gemeinsam hinfahren, oder wo sie essen gehen sollten. War es ihr früher unangenehm gewesen, dass man ihr nur alles befohlen hatte, was sie zu tun hat, so war es ihr jetzt genauso unangenehm, einem anderen Menschen zu sagen, was er tun soll, auch wenn er sie darum bat. Sie kam zum Schluss, dass dieses unangenehme Gefühl wohl deshalb entstand, weil sie zu wenig Gemeinsamkeit mit anderen Menschen erlebt hatte und weil sie dabei wohl doch nicht so selbständig geworden war, wie sie geglaubt hatte. Ausserdem fürchtete sie sich davor, falsche Vorschläge oder Entscheidungen vorzulegen, um dann die Vorwürfe einstecken zu müssen. Es war ein grosser Unterschied, ob sie eine Entscheidung nur für sich oder auch für einen anderen Menschen treffen musste.

Das eigentlich Schöne an Johnny aber war, dass er sie nie beurteilte. Er war wie ein kleines Kind, das etwas verstehen wollte und deshalb viele Fragen stellte, aber nie, um dann zu urteilen, ob nun ein Mensch gut oder böse war. Nie machte er ihr irgendwelche Vorwürfe und er behandelte sie genauso, wie den Hotelchef, einen Polizisten, eine Verkäuferin oder einen anderen Ausländer. Nach dem thailändischen Gesellschaftssystem, das sehr vertikal eingestellt ist, und nach dem man sich erst einmal ein Bild vom Status, der Macht, dem Besitz, der Funktion und den Beziehungen eines Menschen machen muss, um ihn richtig grüssen und angemessen mit ihm sprechen zu können, wäre das völlig unmöglich.

Als sie ihn einmal darauf ansprach, meinte er verblüfft: „Warum soll ich mit den Leuten unterschiedlich reden? Ich bin nicht besser als die und die sind nicht besser als ich. Wir sind alle nur anders, haben etwas anderes gelernt, tun etwas anderes. Aber allein deswegen ist doch kein Mensch besser, als ein anderer. In einer Gesellschaft ist für alle Platz und es werden alle gebraucht, die mit dieser Gesellschaft leben, ganz egal, was sie tun oder wo sie arbeiten. Die Mitglieder einer Gesellschaft ergänzen sich mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Wesenszügen und dazu sind alle unterschiedlichen Leute gleich wichtig.“ Nein, das entsprach gar nicht dem thailändischen Denken. Hier konnte man sehr deutlich merken, dass Johnny ein richtiger Farang war. Aber sie fand auch keinen Grund, zu behaupten, dass er etwas Falsches dachte, nur etwas Ungewöhnliches.

Johnny blieb knapp drei Wochen und nannte ihr seinen Abflugstermin eine Woche vor dem Abflug. Sie war froh, dass er noch eine Woche blieb, aber abgesehen von dem guten Verdienst, der dann entfallen würde, tat es ihr nicht besonders leid, wenn er nachhause fuhr. Die Zeit mit ihm hatte einige angenehme Seiten und auch einige unangenehme. Es war offensichtlich immer schwer, mit einem Fremden zu leben, der andere Sitten hatte und sich hier nicht auskannte. Johnny war immer nett und grosszügig gewesen, aber es war doch schwer, sich ständig auf ihn einzustellen und noch schwerer, ihm die thailändische Gesellschaft und die Traditionen verständlich zu machen.

Fast schien es so, als wenn er verschiedene Sachen gar nicht verstehen wollte. Sie freute sich vielmehr darauf, wieder ganz einfach mit den Kolleginnen sprechen zu können, denen man nicht alles erklären musste, weil viele Sachen selbstverständlich und allgemein bekannt waren. Wenn man Johnny sagte, dass ein Tisch vier Beine hat, war sicher, dass er fragte, warum das so sein muss und warum ein Tisch nicht auch an einer Kette von der Zimmerdecke hängen kann, ohne Beine zu haben. Oft hatte er vielleicht Recht, aber es war immer sehr anstrengend, mit ihm zu sprechen, sich seine Fragen zu überlegen und ihm darauf eine Antwort geben zu können.

Die letzten zwei Tage verbrachten sie am Strand, weil Johnny meinte, er könne sich jetzt keinen Motorradunfall mehr erlauben und ausserdem wolle er sich noch zwei Tage ausruhen, bevor er nachhause fährt. Am letzten Tag gingen sie in ein besonders gutes Fischrestaurant, das ,Nang Nual‘, um den Abschied zu feiern. Im Hotel tauschten sie die Adressen aus und Johnny sagte, sie sollte sich einmal melden, wenn sie viel Zeit hat. Am nächsten Tag gab es nur noch eine kurze Verabschiedung, bei der Johnny ihr nach thailändischer Sitte in einem Umschlag noch das ,Wechselgeld‘ gab, das er nicht mehr brauchen würde. Nach einer letzten Umarmung ging Muu etwas nachdenklich wieder zu ihren Kolleginnen in der Bar. Johnny war so ganz anders gewesen, als die Thailänder, die sie kannte. Er war aber auch ganz anders, als die üblichen Farang gewesen.

Muu erlebte ihre Rückkehr in die Bar mit gemischten Gefühlen. Ausgerechnet heute machte der Inhaber Ärger und es gab Streit zwischen den Mädchen wegen einigen Kleinigkeiten und so merkte Muu erst, was sie an Johnny hatte, nachdem er weg war. Mit ihm hatte es nie Streit gegeben. Er hatte immer versucht, die Gründe für irgendwelche Unstimmigkeiten zu finden und dann liessen sie sich regeln. Nachdem der Streit nur darum ging, wer einen neuen Gast begrüssen durfte, fragte Muu genau so, wie Johnny es getan hätte, ob das Begrüssen von Gästen für irgendjemand schädlich sei, was ihr aber keine grossen Sympathien einbrachte. Doch sie erkannte dabei, dass jeder Mensch, den man zu verstehen versucht, gleichzeitig auch einen Einfluss auf die eigene Person hat.

Es folgten einige Tage in dem üblichen Trott, aber Muu begann, diesen Trott anders zu erleben. Dadurch, dass sie viele Bücher gelesen hatte, besonders Philosophie, Psychologie und Soziologie, und dadurch, dass sie einige Wochen mit Ernst und dann mit Johnny verbracht hatte, glaubte sie, zwischen die Kulturen geraten zu sein. Es fiel ihr immer schwerer, ihre Kolleginnen zu verstehen und es fiel ihr auch immer schwerer, die ausländischen Gäste zu verstehen. Vor allen Dingen konnte sie sich selbst auch nicht mehr verstehen. Das bemerkte sie, als sie so wie früher einige Lieder mitsang, die aus dem Lautsprecher kamen, wie ,Ich liebe Dich, kann ohne Dich nicht leben‘, ,Ich komm’ zu Dir heut’ Nacht‘, ,Warum nur willst Du mich nicht lieben‘ etc. Mitten in einem Lied hörte sie auf und verschluckte sich fast. Welch ein Blödsinn.

Das hatte doch gar nichts mit ihr zu tun; sie wollte heute Nacht niemand besuchen und sie wollte nicht wissen, warum irgend jemand sie nicht liebt. Es wäre besser, wenn jemand vielleicht einmal sagt, was denn Liebe ist, anstatt lange darüber zu singen und nichts zu sagen. Sie bemerkte, dass die Lieder inhaltslos waren, unklare, verwaschene Hoffnungen ansprachen und nur nachgeplappert wurden, als sängen die Leute dauernd: ,Trink Coca Cola‘ oder ,Bah, bah, bah‘. Da waren die ,Lieder vom Leben‘ von Ed Carabao besser, die man zwar nicht begeistert mitsingen wollte, sich aber dafür anhören und überlegen konnte.

Muu überlegte, warum diese einfachen Lieder über die Liebe, die nichts aussagten und in unendlichen Wiederholungen bestanden, bei der Bevölkerung besser ankamen. Sicherlich einmal, weil sie einfacher waren und man sich den spärlichen Text besser merken konnte, weil man dabei nicht nachzudenken brauchte und nicht an das kümmerliche, problembelastete Leben erinnert wurde. Und dann gab es noch einen Grund; sie musste lachen, als sie daran dachte, dass eine thailändische Gesellschaftskritikerin gesagt hatte: „Die Amerikaner glauben ihren Gewerkschaften; die Europäer glauben ihren Regierungen und die Thailänder glauben dem Fernsehen.“ Doch, das war so, sie glaubten den Fernsehsendungen mit Regierungserklärungen der ständigen Fortschritte, Geistergeschichten, Seifenopern, Schmalzliedern und sogar der Propaganda.

Sie begann auch, zu verstehen, warum man die Mädchen, die in einer Bar arbeiten, ,Hühner‘ nannte. Sie kicherten, hüpften ziellos umher, schwätzten von Geistern und Lottozahlen, gackerten sinnlos herum, als weigerten sie sich, daran zu denken, dass man sie nur grossgezogen hatte, um ausgenommen und geschlachtet zu werden. Man hatte sie wie richtige Hühner behandelt; man hatte ihnen zwar das nötigste Futter gegeben, sich ansonsten aber nicht um sie gekümmert und innerhalb eines begrenzten Geheges frei herumlaufen lassen, während sie den grössten Teil des Tages dazu dressiert wurden, still auf der Stange zu sitzen. Nun benahmen sie sich, wie richtige Hühner.



Elfter Teil:

Der Gedanke, dass sie durch das Lesen der Bücher zwar ihre Situation besser verstand, aber deswegen absolut nicht glücklicher war, wurde durch das Erscheinen mehrerer Gäste und derer Forderungen unterbrochen. Fünf junge Burschen zwischen zwanzig und dreissig Jahren waren gekommen und hatten es sehr eilig, ihr Bier zu trinken, bevor sie betrunken werden könnten. Es war noch keine Stunde vergangen, als sie mit den Lautsprechern inbrünstig um die Wette sangen: „Schalalalala, schalala in the morning...“ Bildung und Geschmack waren offensichtlich kein spezifisch thailändisches Problem.

Solche Gruppen waren zwar insofern gute Kunden, als dass sie viel tranken, aber sie würden keine Frau mitnehmen. Sie würden sich erst betrinken und dann würden sie sich trennen. Vielleicht würden einige von ihnen in eines der ,Shorttime‘-Lokale gehen, während die anderen sich wahrscheinlich weiter betrinken. Es war aber nicht ausgeschlossen, dass ein oder zwei von ihnen später noch einmal zurückkamen, um eine Frau mitzunehmen. Es störte Muu wenig, dass sie bei diesen Leuten nicht in die nähere Auswahl kam; die suchten meist nur für eine Nacht jene Mädchen, die einen besonders hübschen Körper haben, am meisten Fleisch zeigen und sich besonders aufreizend verhalten. Aber an der heissen Liebe für eine Nacht hatte Muu kein Interesse.

Dennoch ergab es sich, dass der nächste Kunde sie nur für eine Nacht mitnahm. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt, etwas dicklich, schnaufte und nuschelte beim Sprechen, war gerade erst angekommen und wollte einen Monat bleiben. Wenn er sprach, musste Muu sich immer vorbeugen, um ihn zu verstehen. Das war für ihn der geeignete Moment, ihr in den Ausschnitt zu schauen und ein Anreiz, immer wieder etwas zu nuscheln. Als er nuschelnd das Hotelzimmer öffnete, sah Muu zuerst diverse pornografische Hefte auf dem Bett, was nicht gerade einen vertrauenerweckenden Eindruck machte. Als sie sich ausgezogen hatte, verlangte er analen Sex. Muu lehnte ab, ging auch nicht auf seine Argumente ein, zog sich wieder an und ging unter seinem laut genuschelten Geschimpfe.

Zwischendurch hatte sie einen Kaufmann, der nur drei Tage in Pattaya war. Er versuchte in der Bar, ihren Preis herunterzuhandeln und wollte nur zweihundert Baht bezahlen. Das ist für die Mädchen nicht nur uninteressant; sie machen sich auch Ärger mit ihren Kolleginnen, weil sie so die allgemein akzeptierten Preise zwischen fünfhundert Baht und neunhundert Baht ruinieren und die Mädchen nachher billiger arbeiten müssen. Er willigte schliesslich ein, als Muu ihm das erklärte. Er sprach ansonsten nicht viel mit Muu und verhielt sich distanziert. Im Bett verhielt er sich weitgehend normal, wenn auch vielleicht etwas aggressiv. Dann schickte er Muu nach Bezahlung nachhause, aber an den folgenden zwei Tagen holte er sie wieder von der Bar ab. Nun ja, es war zwar unangenehme Arbeit, aber schliesslich musste sie Geld verdienen.

Zwischendurch hatte sie einen dicklichen Kunden, der sehr viel und sehr schnell redete, ihre Kleidergrössen wissen wollte und sie dann mitnahm. Als sie ins Hotel kamen, packte er Ledersachen aus, eine schwarze Gesichtsmaske, ein Lederkleid mit Nieten und eine Peitsche, dann sagte er Muu, sie soll die Sachen anziehen und ihn auspeitschen. Muu kannte sich aber, wie fast alle Frauen in Thailand, nicht mit Perversitäten aus und wollte ihm einen Vortrag halten, dass man Menschen nicht schlagen darf und sie ihn doch nicht auspeitschen könnte. Er verstand, dass Muu für diesen Job nicht geeignet war, gab ihr zweihundert Baht und schickte sie weg. Muu erzählte den Mädchen in der Bar von diesem seltsamen Kunden, die kicherten alle; so etwas war ihnen auch noch nicht begegnet.

Der nächste Kunde war ein etwas mürrischer älterer Arbeiter, der wohl nicht das erste Mal in Thailand war. Er rief Muu zur Bedienung, bestellte ein Kloster-Bier und unterhielt sich mit ihr. Er war sehr schwer zu verstehen, weil er nur wenige Brocken Englisch sprach und fehlende Worte in Deutsch sagte. Er erklärte, das Bier sei zu kalt und das Glas war zu hoch. Muu sei dumm, sagte er ihr, was man daran merkt, dass sie kein Deutsch spricht. Ausserdem weiss sie noch nicht einmal, dass eine Frau lange, rote Fingernägel haben muss und Schuhe mit hohen Absätzen, während ihre Absätze nur halbhoch waren. Die Mädchen, die einen tiefen Ausschnitt hatten, deren unbedeckten Bauch man sehen konnte oder die einen Minirock trugen, erklärte er für unanständig. Für anständig hielt er es dagegen, der Kassiererin zweihundert Baht zu geben, auf Muu zu zeigen und zu erklären, dass er sie mitnimmt. Nachdem er noch einige Flaschen zu kaltes oder zu warmes Bier aus zu grossen oder zu kleinen Gläsern getrunken hatte, zog er mit Muu ins Hotel.

Unterwegs erklärte er ihr, die Thai seien alle Idioten, was man am Strassenverkehr sehen könnte; sie wären nicht in der Lage, ein Fahrzeug zu fahren, weil sie sich nicht an die Verkehrsregeln halten und nicht wirklich links fahren, sondern immer in der Mitte. Er ging mit Muu zu Fuss zum Hotel, weil die Taxifahrer alle Betrüger sind. Dabei zeigte er auf die Bürgersteige, auf denen man nicht gut gehen konnte: „Da siehst Du, wie doof Ihr seid.“ Im Hotel sagte er Muu erst, wie sie sich richtig auszuziehen habe, dann sagte er, wie sie sich richtig hinzulegen habe, weil er das so für selbstverständlich hielt, später drehte er sich um und schlief.

Er wachte genau so grantig auf, wie er eingeschlafen war. Muu war schon länger auf und hatte seine Sachen gewaschen. Hatten sich die anderen Männer darüber gefreut, so war es für Paul ein Anlass zum Ärger. Wäsche hängt man nicht im Badezimmer zum Trocknen auf, sondern an einer Leine im Hof, erklärte er. Noch mehr aber ärgerte ihn, dass Muu seine Schuhe nicht geputzt hatte. Nein, er hatte kein Schuhputzzeug. Aber schliesslich weiss Muu ja, dass sie mit Männern ins Hotel geht, dann muss sie selbstverständlich das Schuhputzzeug mitbringen, oder ob sie etwa glaubt, dass er extra von Deutschland Schuhputzmittel mitbringt, nur weil sie dazu zu faul sei, wollte er wissen.

Beim Frühstück durfte sie keine Reissuppe essen. „You no eat this Thai shit“, befahl er und erklärte, dass sie nur so dumm ist, weil sie nichts Vernünftiges isst. Er wusste auch genau, was man essen muss, um weise zu werden. Bratkartoffeln mit Speck, so wie er. Denn Weisheit erkennt man am Geld und da er mehr Geld hat, als Muu, ist er auch klüger, als sie, und wenn sie nicht so dumm wäre, dann wäre sie auch nicht auf ihn angewiesen. Dieser Hinweis liess Muu indes nicht in Ruhe. Doch, Paul hatte Recht; sie war auf sein Geld angewiesen, bis zu einem gewissen Grad. Sie hielt es zwölf Tage bei ihm aus, ass zwölf Tage lang europäisches Essen, liess sich als dumm beschimpfen und legte sich nachts so hin, wie er es haben wollte, weil es sich seiner Meinung nach so gehörte.

Sie überlegte sich, dass er sehr viele Ähnlichkeit mit ihren früheren Pflegeeltern und mit verschiedenen Regierungen hat. Sie dominieren, weil sie sich dumm, unbedeutend und hilflos fühlen, sie dominieren, weil sie Geld und Macht haben, die sie rücksichtslos gebrauchen, um sich nicht mehr so dumm, unbedeutend und hilflos zu fühlen, denn wer anderen befehlen kann, erlebt ja seine wahre Grösse. Dass man nur mit Menschen leben kann, wenn man sie akzeptiert, ist diesen Menschen unbekannt, wahrscheinlich, weil sie selbst nie akzeptiert worden sind, weil man auch ihnen nur befohlen hat, so dass sie gelernt haben, stärker, reicher, mächtiger zu werden, um dann selbst befehlen zu können.

Paul war für Muu im Grunde ein bemitleidenswerter Mensch. Wenn er mit nichts zufrieden war und immer alles besser wissen musste, so lag das sicher daran, dass man nie mit ihm zufrieden gewesen war, daran, dass er nie glücklich gewesen war, niemals eine Gemeinsamkeit mit anderen Menschen erlebt hat und innerlich todeinsam war. Er konnte sich jetzt nur noch erleben, indem er meckerte oder befahl; er erlebte sich nur noch durch die Aufmerksamkeit, die er erregen konnte, gleich, ob diese positiv oder negativ war. Nur durch die Aufmerksamkeit bemerkte er, dass er noch vorhanden war und auch, wenn man auf ihn schimpfte, so empfand er dies als positiv; es zeigte ihm, dass man ihn sah und bemerkte. Ein Phänomen, dem man mit einer genaueren, eingrenzenden Beschreibung das Krankheitsbild der Hysterie widmet und bei vergrössertem Realitätsverlust mit schlimmeren Krankheitsbildern belegt.

Doch die Krankheitsbilder nützen nur etwas, um den Zustand eines Menschen zu erkennen. Eine Hilfe ist äusserst schwierig und in den meisten Fällen sind es diese Leute selbst, die eine Hilfe unmöglich machen. Sie haben sich in eine eigene Welt eingemauert, die sie nicht verlassen und in die sie niemand hineinlassen. Nein, sie haben nicht die Schuld daran, dass sie so sind; sie wurden so von einer verständnis- und gefühllosen Umgebung geformt. Aber sie sind es sich und anderen Menschen schuldig, etwas daran zu ändern, wenn sie nicht mit anderen Menschen zurechtkommen. Diese Schuld, die nicht eine Bewertung, sondern eine Verpflichtung sich selbst und der Umwelt gegenüber darstellt, haben sie.

Es waren zwölf Tage, die Muu ihn ertragen hatte. Das Geld, das sie Monea für die Versorgung ihrer Tochter schicken musste, hatte sie schon für einen Monat im Voraus überwiesen und sie hatte Pauls Geld nicht mehr so unbedingt nötig. Dennoch war sie einige Tage länger geblieben. Muu hatte versucht, etwas nett und freundlich zu Paul zu sein, seine Stimmung zu verändern, aber es war sinnlos, Paul war aus Prinzip unzufrieden und musste sich über alles beschweren. Es war nicht einmal ein besonderes Ereignis vorgefallen, als Muu ging. Sie konnte einfach die arrogante, grossspurige Nörgelei nicht mehr ertragen. Paul hatte sich zum Mittag ein Eisbein bestellt und für Muu ein Omelett, ohne Reis natürlich, den durfte sie auch nicht bestellen. Als sie das hier üblicherweise benutzte Besteck nahm, nämlich Löffel und Gabel, nahm Paul ihr den Teller weg und sagte ihr, sie sei zu dumm zum Essen. Omelette wird mit Messer und Gabel gegessen. Muu war es leid, stand auf und ging.

Muu erklärte die Situation an der Bar. Als Paul kam und schimpfte, er hätte Muu nicht erlaubt, zu gehen und verlangte, dass sie ihm jetzt ein Bier bringt, bekam er es von der Chefin. Als er das nicht wollte, nun auch die Chefin beschimpfte und lautstark darauf bestand, dass Muu das Bier bringen musste und dann mit ihm mitgeht, erklärte ihm die Chefin, dass man hier nur Leute akzeptiert, die sich gesellschaftsfähig benehmen und schickte Paul weg. Nachdem Paul gegangen war, brauchte Muu erst einige Tage, um sich zu erholen. Sein pessimistisches Weltbild, seine ewige Nörgelei und seine Überheblichkeit, dass Mass aller Dinge zu sein, hatten ihre Stimmung erheblich beeinträchtigt und sie merkte, wie sie bereits begann, genau so wie Paul die Welt nur noch negativ in Dunkelgrau und Schwarz zu sehen. Die Unterhaltung mit den Mädchen, die einfache Freude an einem besonders grossen Spiesschen mit Hühnerleber, zwanzig Baht Tip oder ein netter Scherz eines Kunden tat ihr jetzt gut.

Eine unerwartete Unterstützung erhielt sie durch einen Brief von Johnny. Er schrieb, dass er sich noch an die gemeinsam verbrachte Urlaubszeit erinnert und in Thailand viel vom dem friedlichen und freundlichen Verhalten der Thai auf dem Lande gelernt hat. Er klagte aber auch, dass es ihm zunächst schwer gefallen sei, sich wieder an die Pünktlichkeit und die schwerfällige Genauigkeit in Europa zu gewöhnen, nachdem er in Thailand gesehen hatte, wie man alles mit viel Geduld viel leichter nimmt. Ein Lob hatte er noch für die Mädchen an den Bars, die immer nett gewesen waren, obwohl sie wahrscheinlich nicht immer nette Kunden hatten. Und ganz besonders lobte er Muu für die nette Freundschaft, die sie ihm im Urlaub entgegengebracht hatte, weshalb er noch lange an diese Zeit zurückdenken würde. Dann hatte er dem Brief 1.000 Baht beigelegt und geschrieben, damit könnte sie vielleicht zusammen mit einigen Freundinnen eine kleine Party veranstalten.





Zwölfter Teil:

Sie freute sich sehr über diesen Brief und dachte daran, dass Johnny ganz anders gewesen war, als Paul und entschied, dass man eigentlich gar nicht über ,die Farang‘ sprechen konnte, wenn sie alle so ganz anders waren. Wie recht sie hatte, erlebte sie erneut in den nächsten Tagen, an denen nur hin und wieder Kunden kamen, die ein Mädchen für nur eine Nacht mitnahmen. Ärgerlich und traurig zugleich war sie, als ein dicker Farang mit seiner thailändischen Frau und einem etwa achtjährigen Kind an die Bar kam und dem Kind sagte, dass seine Mutter dumm sei, so dumm, wie alle Thai. Als die Frau ihn um zwanzig Baht gebeten hatte, um etwas zu essen zu kaufen, sagte er ihr schroff, dass dumme Leute nichts zu essen brauchen, dann gab er dem Kind zwanzig Baht, erklärte, das Kind könne sich dafür etwas zu essen kaufen, aber es dürfe das Geld nicht der Mutter geben, die sich das nicht verdient hat.

Muu bemerkte, dass ein anderer Farang, der daneben sass, sich auch darüber zu ärgern schien. Er gab ihr sechzig Baht und sagte, sie sähe so aus, als wenn sie noch nicht zu Abend gegessen hätte. Als sie fragend auf die sechzig Baht schaute, erklärte er lächelnd, dass es ihr bestimmt angenehmer sei, in Gesellschaft zu essen. Muu verstand, holte Spiesschen und Fleischkugeln für sechzig Baht und bot ihren Kolleginnen und der Frau des dicken Farang an, davon mitzuessen, während sie alles auf zwei Teller direkt vor die Frau des Dicken stellte, die denn auch dankbar lächelte und ass. Nein, die Farang waren nicht alle gleich. Aber wie schlimm musste es sein, mit so einem Farang zu leben, wie dem Dicken, mit einem Menschen, mit dem man sich überhaupt nicht verstehen konnte und der seine Frau auch nie akzeptieren würde. Und wie schlimm musste es für ein Kind sein, so erzogen zu werden, dass es lernt, seine Mutter sei dumm und es dürfe ihr nichts geben. Es war ganz klar, dass das Kind dadurch zwischen den Eltern hin- und hergerissen wird und schwere psychische Schäden davontragen muss.

In einem Psychologiebuch hatte sie gelesen, dass das die Ursache für Paranoia sein soll, ein Krankheitsbild mit Angstzuständen und Wahnvorstellungen von Geistern und fremden Wesen, die Macht über die eigene Person haben und Befehle erteilen, was er zu tun hat. Das eigentliche Problem bestand darin, dass man die Farang überhaupt nicht einschätzen konnte. Wenn ein Thailänder kam, dann konnte man an seiner Sprache und an dem, was er sagte, wenigstens eine ungefähre Ahnung von seinem Charakter bekommen, aber die Sprache der Ausländer kannte man nicht gut genug. Und ihr Verhalten war nicht ausreichend für eine Einschätzung, denn oft kamen Arbeiter, die sich ungehobelt, ruppig und laut verhielten, aber letztlich doch nette Menschen waren. Solch einen Menschen lernte Muu zwei Wochen später kennen.

Als sie an der Theke stand und eine Zeitung las, klatschte ihr jemand auf den Po. Als sie sich umdrehte, schaute sie in das breite Lachen von Kurt, der ihr versicherte, dass er auf der Stelle tot umfällt, wenn sie ihm nicht bitte, bitte, ein Bier gibt. Er hatte zwar kein gutes Benehmen, bemerkte Muu, aber er schien trotzdem ein netter Mensch zu sein. Als er einen tiefen Schluck genommen hatte, fragte er Muu auch gleich, ob sie nichts trinken wollte. Dann erklärte er, er sei zwei Stunden durch ganz Pattaya gelaufen, um den Ort etwas kennenzulernen und deswegen sei er sehr durstig und hätte unbedingt dringend das Bier gebraucht.
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Kurt war knapp über fünfzig Jahre alt, hatte graue Schläfen und eine abgerundete Persönlichkeit, wie sein Hemd deutlich zeigte. Er hatte drei Wochen Urlaub, dann musste er wieder Autos machen, sagte er. Doch, verheiratet sei er auch und ausserdem hat er zwei Kinder, erklärte er gemütlich, dann fragte er Muu, welches Essen ihr am besten schmeckt und Muu sagte, ohne gross zu überlegen: ,Tom yam gung‘. Darauf fragte Kurt: „Und magst Du jeden Tag Tom yam gung essen?“ Als Muu den Kopf schüttelte, sagte Kurt: „Siehst Du, ich auch nicht. Meine Frau ist ,tom yam gung‘; sie ist die beste. Aber manchmal wird mir ,Tom yam gung‘ zu viel, und dann mag ich zwischendurch einmal etwas Anderes.“

Als er seine dritte Flasche Bier getrunken hatte, war es noch sehr früh am Abend und so wunderte sich Muu etwas, als er sie fragte, ob sie mitkommt. Er bezahlte die Rechnung und die Auslösesumme und sie zogen gemeinsam los. Als Muu fragte, wo sein Hotel ist, zeigte er in eine andere Richtung und erklärte, sie würden erst einmal gemütlich essen gehen. Im Restaurant liess er sich von Muu etwas aus der thailändischen Speisekarte übersetzen, was sie tat, so gut es ging. Er blieb bei süss-saurem Schweinefleisch mit Reis, Ananas und Gemüse hängen. Als Muu ihn fragte, warum er nicht ein europäisches Essen mit Kartoffeln nimmt, meinte Kurt grinsend: „Ich mag nicht jeden Tag ,tom yam gung‘ und ich mag nicht jeden Tag Kartoffeln. Wenn ich schon einmal in Thailand bin, dann will ich auch etwas Thailändisches kennenlernen“, wobei er Muu scherzhaft in den Ausschnitt schaute.

Beim Essen erzählte er von der Arbeit und dem Leben in Deutschland. Die Arbeit war in Deutschland anstrengend und man konnte gutes Geld verdienen. Aber das Leben war teuer und eintönig in einem Land, das kalt und regnerisch ist, wo man sich nicht vors Haus oder ins Freie setzen kann, um sich mit Freunden zu unterhalten. Das einzige Vergnügen war ein kurzer Barbesuch nach Feierabend, das Fussballspiel und vielleicht noch ein Ausflug am Wochenende. Nach einer ausführlicheren Erklärung schloss er mit dem Hinweis: „Das Leben ist ungerecht; in Europa kann man gut Geld verdienen, aber man kann nicht gut leben. In Thailand kann man gut leben, aber man kann kein Geld verdienen.“

Als sie später ins Hotel gingen, kam Muu eingewickelt in ein grosses Handtuch zurück, aber Kurt schaute gar nicht hin, als er anschliessend unter die Dusche ging. Als er zurückkam, hatte er eine Unterhose an, schaute auf die steif unter dem Handtuch liegende Muu, grinste und sagte zu ihrer grössten Verblüffung: „Du hast noch Angst vor mir. Du kennst mich noch nicht. Darüber reden wir denn morgen; jetzt schlaf’ erst ‘mal“, legte sich ins Bett und schlief, ohne sie berührt zu haben.

Sie standen relativ früh auf. Beim Frühstück ass Kurt Schinkenbrot, Rührei mit Speck und vergass auch nicht, zum Nachtisch eine Flasche Bier zu bestellen. Missbilligend auf den Teller mit Reissuppe schauend, der vor Muu stand, bemerkte er: „Sowas essen wir in Deutschland auch. Aber nur, wenn wir sehr krank sind.“ Während des Frühstücks unterhielten sie sich über das Leben in der Familie und mit den Nachbarn. Anschliessend fragte er Muu, ob sie ihm beim Einkauf hilft und fügte erklärend dazu: „Eine Frau, eine Tochter, ein Sohn mit zwei Kindern - und alle warten darauf, dass ich etwas mitbringe.“

Sie zogen in Südpattaya durch ,Modern City‘, ,Mike’s Shopping Mall‘, gingen zum ,Big C‘ und verschiedenen einzelnen Geschäften, wo sie die unterschiedlichsten Sachen kauften. Als Kurt Muu nach einer Bluse für seine Tochter fragte, suchte sie etwas besonders Hübsches aus. Kurt schaute sich das Stück an, sah kurz auf den Preis und sagte grinsend: „Die nehmen wir, aber die musst Du selbst tragen. Und jetzt suchen wir etwas für meine Tochter, aber das muss drei Nummern grösser sein. Meine Tochter ist zwar so alt wie Du, aber sie ist doch etwas kräftiger geraten.“ Der Einkaufsbummel dauerte länger, so brachten sie die Sachen ins Hotel und gingen gleich essen. Kurt wollte wieder etwas Thailändisches probieren und erklärte, das tut seiner Neugierde so gut, wie seinem Bauch, weil thailändische Nahrung fettarm ist.

Den Nachmittag verbrachten sie am Strand, was Kurt auf den glücklichen Umstand zurückführte, dass man dort auch erfrischendes Bier bekommt. Als Muu darauf hinwies, dass vielleicht nicht nur thailändisches Essen besser sei für seine Figur, sondern auch thailändische Getränke, statt Bier, sah er sie strafend an und sagte: „Du fängst an, genau so zu reden, wie ,Tom yam gung‘; wenn Du so weitermachst, wirst Du bald fristlos entlassen“, und nahm einen tiefen Schluck. Muu wusste, dass dies nur ein Scherz war, aber sie wusste auch, dass jeder Scherz einen ernsthaften Hintergrund hat und dass es besser war, nicht mehr viel über Kurt’s Bierkonsum zu sprechen, weil es ihn wohl doch störte.

Bald kam jemand mit Zeitungen vorbei und Muu kaufte eine. Als Kurt ihr das Geld anbot, lachte sie und sagte ihm, die kann er ja nicht lesen. Darauf meinte er, vielleicht würde es sich auch gar nicht lohnen, eine Zeitung zu kaufen und sagte Muu, sie sollte ihm einfach nur sagen, was besonders Wichtiges in der Zeitung steht. Später fragte sie ihn, ob er sich denn für die Politik in Thailand interessiert und er meinte, nur am Rande; er hatte nur wissen wollen, was für sie in der Zeitung am wichtigsten sei. Nun lachte Muu und meinte, dann muss sie die Zeitung noch einmal lesen, denn sie hätte nur das übersetzt, was für ihn wichtig sein könnte. Kurt meinte darauf, dass das sehr gut und eine Voraussetzung wäre, sich gut zu verstehen, denn die meisten Menschen sehen alles nur aus ihrer eigenen Sicht und wären nicht in der Lage, andere Menschen zu sehen und deshalb könnten sie sie auch nicht verstehen. Aber nun wollte er versuchen, sie zu verstehen, also sollte sie doch bitte noch einmal in die Zeitung schauen, um ihm zu sagen, was sie für wichtig hielt. Er bestand darauf, obwohl Muu sagte, dass ihn das bestimmt langweilt und dass sie viele Worte nicht übersetzen kann.

Als sie später essen gingen, versuchte Kurt noch einmal etwas Thailändisches zu essen, diesmal hatte er aber etwas sehr Scharfes erwischt und meinte tränenden Auges, er würde nie wieder thailändische Rasierklingen bestellen und verstünde jetzt, warum die Thai so wenig essen und schlank sind. Dann bat er die Bedienung, ihm zwei grosse Flaschen Bier zu bringen und ein Steak. Den Abend verbrachten sie dann in der Bar und im Hotel, wo Muu sich duschte und im Handtuch aufs Bett legte. Doch Kurt ging unter die Dusche und setzte sich dann in einer Unterhose zu ihr auf die Bettkante und erzählte, dass seine Tochter ziemlich gross ist und dass sie mit vierzehn Jahren so ähnlich ausgesehen habe, wie Muu jetzt. Er erklärte, dass er Muu viel mehr wie eine Tochter erlebt und nicht so sehr als eine Frau, mit der er ins Bett gehen wollte. Dann drückte er ihr die Hand und legte sich schlafen.

Muu war irritiert. Wieso sollte sie keine Frau sein, mit der man ins Bett gehen kann? War sie wirklich noch so kindlich? Dann fand sie es zwar gar nicht schlimm, dass der über dreissig Jahre ältere Kurt nicht mit ihr schlafen wollte, obwohl sie durchaus bereit gewesen war, für den netten Kurt da zu sein. Gleichzeitig aber befürchtete sie, dass er sich eine andere Frau holt, mit der er ins Bett gehen konnte. Aber dem war nicht so. Er bezahlte sie weiterhin und berührte höchstens einmal ihren Arm oder ihre Schulter. Als sie ihn einmal darauf ansprach, ob ihm denn der Sex nicht fehlt, meinte er, der Sex wäre eigentlich gar nicht so wichtig, viel wichtiger wäre, mit einem netten Menschen zusammen zu sein und sich gut zu verstehen. Und dann ergänzte er grinsend, dass er ja ausserdem zuhause auch noch ,tom yam gung‘ im Kühlschrank habe.

Die nächsten Tage verbrachten sie mit nur wenigen Ausflügen und Spaziergängen zum Einkaufen, meistens am Pool oder am Strand, wenn sie nicht gerade in einem Restaurant oder in der Bar waren, an der Muu sonst arbeitete. Am Strand oder am Pool des Hotels hatte Muu viel Zeit zum Lesen und Kurt liess es sich nicht nehmen, sie regelmässig das Wichtigste aus einer thailändischen Zeitung übersetzen zu lassen, nun aber das, was für einen ausländischen Touristen wichtig oder interessant sein könnte, weil er meinte, wenn er schon hier ist, dann könnte er zumindest versuchen, etwas über das Land zu lernen und zu erfahren, was er wissen sollte, falls er noch einmal noch Thailand kommen würde.




von Dr.G.M. Gad Labudda
 
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von Dr.G.M. Gad Labudda



Dreizehnter Teil:

Kurt blieb fast drei Wochen. Am Tag vor seiner Abfahrt sagte er Muu, heute würden sie losziehen, um noch etwas Schönes für Muu einzukaufen; sie könnte sich etwas auswählen. „Aber nur bis zu zweitausend Baht“, schränkte er die befürchtete Kaufwut von Muu ein. Er war gespannt, ob Muu ihn zu einem Bekleidungsgeschäft oder direkt zu einem Goldladen bringen würde und war ziemlich verblüfft, als Muu ihn direkt zu einem Bücherladen führte. Das hatte er von Mädchen aus einer Bar noch nicht gehört.

Als er sah, dass Muu keine Comic-Hefte nahm, sondern die Bücher sorgfältig auswählte und nach einigen Titeln fragte, erklärte er: „Für Bücher kann ich auch das Doppelte ausgeben; was Du gelesen hast, kann Dir keiner wegnehmen, aber Kleider und Gold halten nicht lange.“ Doch Muu kam nicht einmal auf zweitausend Baht, als sie meinte, das würde jetzt reichen, denn sie müsste die Bücher erst einmal lesen. Am nächsten Tag fuhr Kurt nach einer Umarmung ab.

Kurt war für Muu wirklich wie ein Vater gewesen und sie wurde sich erst jetzt bewusst, wie sehr ihr früher ein Vater gefehlt hatte, einfach ein Mensch, der Verständnis hatte und sich mit ihr beschäftigte. Aber sie war sich klar darüber, dass es keinen Vater mehr geben würde und sie dachte nur kurz über ihren Vater nach, den sie mit vier Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Sie würde ihn nicht suchen. Wenn er in fünfzehn Jahren kein Interesse gezeigt hatte oder nicht in der Lage gewesen war, seine Kinder zu sehen, dann hatte es keinen Sinn, ihn jetzt zu suchen.

Inzwischen holte das alltägliche Barleben sie wieder ein und die Männer, die in ihr eine Tochter sahen, dürften eine extreme Ausnahmeerschei-nung unter den nach Pattaya fliegenden Touristen sein. Das stellte auch prompt einer der nächsten Gäste unter Beweis. Er war wohl auch etwas über fünfzig Jahre alt, aber er packte erst einmal Muu’s Brüste, um zu überprüfen, ob sie für die Nacht das für ihn geeignete Material ist. Muu wehrte ab und sagte, dass sie schon ausgelöst ist und später abgeholt wird. Sie hatte keine Lust, mit einem solchen Menschen mitzugehen. Sie wusste, dass es sehr ärgerlich und unangenehm sein würde, er würde sie nur als ein Stück Fleisch, als eine Dienerin behandeln und sie hatte genug verdient, um nicht mit jedem Mann mitgehen zu müssen. Sie wusste, dass jede solcher Begegnungen Eindrücke hinterlässt und man musste darauf achten, dass es keine grossen Narben gab.

In dem kleinen Lebensmittelladen in der Nähe ihrer Unterkunft hatte sie einen jungen Mann kennengelernt. Sie hatten sich einige Male getroffen und kurz unterhalten, bevor er begann, ihr den Hof zu machen. Als er erfuhr, dass sie in einer Bar arbeitet, bot er ihr einhundert Baht, um mit ihr ins Bett zu gehen. Damit war klar, was er von ihr hielt und worauf es ihm angekommen war, wie sie es auch schon vermutet hatte. Aber es schmerzte dennoch. Es war ihr klar, dass sie kaum einen thailändischen Mann finden kann, der sie heiratet, nachdem sie in einer Bar tätig war und schon ein Kind hatte. Bei den Ausländern war das anders; die machten sich offensichtlich nichts daraus. Aber es war sehr schwer, Ausländer zu verstehen und noch schwerer, einen Ausländer zu finden, mit dem man vielleicht gemeinsame Interessen hatte, sich gegenseitig verstehen und auch gemeinsam leben konnte.

Die Aussichten auf ein gemeinsames Leben waren also äusserst schlecht. Es sah so aus, als wenn die einzig mögliche Gemeinsamkeit, die ihr offen war, in der Gemeinschaft mit ihren Kolleginnen bestand. Diese Gemeinsamkeit war nicht nur inbezug auf die Personen sehr fragwürdig, die sie sich ja nicht aussuchen konnte, sondern auch inbezug auf die Dauer. Wie lange konnte man als Mädchen in einer Bar arbeiten?

Muu wurde sich darüber klar, dass sie einen gravierenden Fehler machte. Ihr Leben verlief wie Wasser, das sich auch immer den bequemsten Weg sucht, dabei aber immer weiter abwärts gerät. Sie hatte nur ihre Situation gesehen und sich gefragt, wie sie jetzt am einfachsten leben kann und dabei am meisten Geld verdient. Sie hatte getan, was andere getan oder ihr geraten hatten, sie war stets mit dem Strom geschwommen - und immer weiter abwärts. Ihr fiel ein Wort von Ho Tschi Minh ein, dem vietnamesischen Widerstandsführer, der aus einer Fischerfamilie kam: „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.“

Und nun sass sie hier wie ein halbtoter Fisch auf dem Trockenen und überlegte sich, wie sie dabei am besten leben kann. Dabei hatte sie noch nicht einmal den Mut gefunden, sich zu fragen, was sie denn wirklich will oder wie ihr Leben aussehen müsste, um zufrieden leben zu können. Es war nur der einfachste Weg, zu sagen: ,Mir bleibt ja nichts anderes übrig‘. Aber damit war ein eigenes Leben unmöglich. Nun überlegte sie sich das erste Mal, was sie will und was sie unternehmen muss, um wenn schon nicht glücklich, so doch wenigstens zufrieden leben zu können.

Als sie sich die Antworten gab, die auch alle anderen Leute gaben: ,Mit einem guten Partner in einer guten Familie gesund und in Wohlstand leben‘, musste sie selbst lachen. Das waren die Wunschträume, die am meisten als Ausrede dafür benutzt wurden, dass man ja nichts tun kann. Es war dann alles nur Glückssache; sie brauchte nur auf den guten Partner und den Wohlstand zu warten, dann würde sie auch glücklich sein. Und was taten die Leute dafür, dass sie so leben konnten? Nichts. Sie warteten auf einen glücklichen Zufall.

Es gab mehrere Sachen, die Muu gern tun würde, mehrere Berufe, die sie gern ausüben würde. Doch alles schien unmöglich, weil ihr die Bildung fehlte oder doch zumindest einige Erfahrung und ein offizielles Abschlusszeugnis. Die einzige Ausnahme war das Schreiben. Sie würde gerne schreiben, glaubte aber, dafür nicht genügend Kenntnisse zu haben. Nicht etwa, weil sie nicht gut genug schreiben konnte, sondern weil sie nicht gut genug erklären konnte, was sie sagen wollte. Sie selbst hatte nur eine ungefähre Ahnung und mehr Fragen an das Leben, als Antworten. Was immer sie machen wollte, sie musste also mehr lernen, um zu tun, was sie wollte, oder einen Beruf zu ergreifen, der ihr passte.

Andere Mädchen hatten es da leichter, wenn sie einen Beruf wie Kosmetikerin oder Friseuse ergreifen, sich mit einem Nudelshop oder einem kleinen Restaurant selbständig machen wollten. Sie können das Geld für einen Kursus oder die Grundausstattung zusammensparen. Aber Muu würde mit diesen Berufen nicht zufrieden sein, sie war auch keine gute Verkäuferin und würde sicher keine guten Geschäfte machen. Muu spürte aber Erfolge in dem, was sie früher immer getan hatte: Lesen, schreiben, lernen, auch wenn sie das noch nie gewinnbringend anbringen konnte. Aber immerhin hatte sie sich dabei wohlgefühlt, erlebte Fortschritte und sie war damit auch in ihrer Umgebung anerkannt worden.

Um etwas zu tun, was sie wollte und was ihr auch Spass machen würde, musste sie die höhere Schule nachholen und studieren. Ein Ziel, das ihr fast zu hoch gesteckt und kaum erreichbar schien. Andererseits würde ihr alles, was sie lernte, zugute kommen, auch wenn sie das letztliche Ziel der Prüfungen nicht erreichen sollte. Vielleicht könnte sie auch dann eine bessere Arbeit bekommen, wenn sie keinen kompletten Universitätsabschluss hatte. Auf jeden Fall musste sie es wenigstens versuchen. Sie würde auf jeden Fall mehr Wissen erwerben und das Lernen bereitete ihr mehr Freude als das Herumstehen an der Bar.

Muu meldete sich an der Mahawitayalay Thammathirat Sukhothai an, einer offenen Fernuniversität, die am Wochenende auch verschiedene Kurse in Chonburi und Sriracha anbot, die man besuchen musste und wo man auch die einzelnen Prüfungen ablegen konnte. Hier konnte sie die Hochschulreife nachholen und nach erreichtem Abschluss studieren. Nachdem sie die erforderlichen Formulare angefordert und mit den geringfügigen Gebühren für das Lehrmaterial mit Büchern und Cassetten eingeschickt hatte, dauerte es nur zehn Tage, bis das Lehrmaterial kam und ihr mitgeteilt wurde, zu welchen Kursen sie nach Chonburi oder nach Sriracha musste. Muu sah die Bücher an, begann voller Eifer zu lernen und kam prompt das erste Mal zu spät zur Arbeit an die Bar.

Sie erlebte die Bar heute ganz anders, als zuvor. War sie sonst froh gewesen, dort zu sein und ihre Zeit zu verbringen, so störte es sie heute, dass sie nur sinnlos herumsass und ihre Zeit vergeudete. Sie musste lernen und jetzt sass sie stundenlang herum, ohne etwas tun zu können. Während man Muu noch die Freude über die Zulassung und das erhaltene Lehrmaterial anmerken konnte, machte sich auch eine gewisse Nervosität bemerkbar. Muu schien lebendiger, als sonst, was dazu führte, dass sie mehr Aufmerksamkeit und Interesse erregte. Kunden suchten mit ihr Kontakt und sie wurde bald ausgelöst.

Ein Mann in mittlerem Alter nahm sie mit ins Hotel. Für ihn war Sex offensichtlich eine rein geschäftliche Angelegenheit. Er sprach nicht viel und suchte keinen persönlichen Kontakt, bis sie ins Hotel kamen. Er war weder freundlich noch unfreundlich und verhielt sich eher so, als würde er gerade eine Schachtel Zigaretten kaufen. Im Hotel ging er mit Muu ins Bett, als würde er desinteressiert eine Zeitung lesen und sich dabei am Bauch kratzen. Als Muu später aus der Dusche kam, sagte er, es wäre ein netter Abend gewesen, gab ihr fünfhundert Baht und bemerkte, er würde jetzt noch ein Buch von Bill Gates lesen, das für ihn wichtig sei.

Muu konnte also nachhause gehen, worüber sie ganz froh war, denn nun brauchte sie nicht zurück in die Bar und hatte Zeit für ihre Bücher. Der Mann kam auch an den nächsten drei Tagen, um mit Muu einen ,netten Abend‘ zu geniessen, so dass Muu viel Zeit für den Anfang ihres Studiums hatte. Danach kam eine ruhigere Zeit und es waren nicht viele Gäste an der Bar. Muu hatte sich zwei Bücher mitgenommen, die sie an der Bar las, wenn Ruhe herrschte und wenn grade keine Gäste da waren.

Eines Tages erhielt Muu einen Brief von Ernst, dem ersten Ausländer, mit dem sie mitgegangen war. Er teilte ihr nur kurz mit, dass er in drei Wochen für einen Monat nach Pattaya kommt und sich freuen würde, wenn sie für ihn Zeit hat. Muu beantwortete den Brief sofort. Ernst war immer ruhig und zurückhaltend, dabei aber doch freundlich gewesen und gehörte zu ihren angenehmsten Kunden. Zudem hatte er auch gut bezahlt und war immer grosszügig gewesen.

Doch zu ihrem Leidwesen hatte Muu zuvor noch einen anderen Kunden, einen kleinen, dicken Macho, der sie mit sich mitschleifte, wie ein kleiner Junge eine Spielzeugente auf Rädern hinter sich herzieht. Er setzte sich am frühen Abend zu Muu an die Bar, liess sich von ihr ein Bier einschenken und bot ihr sofort einen ,Ladydrink‘ an. Er erzählte, er war schon öfter in Pattaya gewesen, aber diesmal war er erst eine Woche nach Phuket gefahren. Es hatte ihm aber nicht gefallen, deswegen sei er wieder nach Pattaya gekommen, wo er sich besser auskannte. Nun wollte er hier noch vierzehn Tage bleiben.





Vierzehnter Teil:

Nach einigen Runden mit Würfel- und anderen Gesellschaftsspielen sowie einigen weiteren Bierflaschen löste er Muu aus und sagte, sie soll mitkommen. Wenn Muu nun aber dachte, dass er mit ihr ins Hotel geht, so war das ein Irrtum. Sie gingen nur ein kurzes Stück zu Fuss, bis er sich an eine andere Bar setzte und ein Bier bestellte. Dass Muu neben ihm sass, schien er nicht einmal zu bemerken. Erst nach zwei Flaschen Bier bedeutete er ihr, sie würden jetzt gehen. Das taten sie auch, und zwar in die nächste Bar. Da Muu keine Lust hatte, die ganze Zeit wie eine Puppe neben ihm zu sitzen, während er sich mit den Mädchen an der Bar beschäftigte, bedeutete sie ihm, dass sie sich an einen Tisch vor der Bar setzt. Nach zwei weiteren Flaschen Bier gingen sie in die nächste Bar und in die nächste, bis sie endlich gegen zwei Uhr morgens ins Hotel gingen.

Der Dicke konnte zwar gerade noch gehen, aber diese Fähigkeit war bereits starken Schwankungen unterworfen. Er hatte anschliessend auch noch Interesse am Sex, aber diese Fähigkeit war bereits nicht mehr ansprechbar und der Dicke fiel aufs Bett und schlief. Muu überlegte, ob sie einfach gehen sollte und auf ihr Geld verzichten. Dann fiel ihr ein, dass sie eigentlich problemlos nachhause gehen konnte, wenn sie nur so gegen neun Uhr wieder ins Hotel kam. Das klappte auch ganz gut und Muu nahm sich von zuhause ein Buch mit. Der Dicke wachte erst kurz vor elf Uhr auf und konnte sich an nichts erinnern.

Nach einigem Murren stand er endlich auf und bedeutete Muu, sie würden frühstücken gehen. Dazu bestellte er erst einmal eine Flasche Bier, dann ein europäisches Frühstück mit Spiegelei und Speck. Mit einer Handbewegung schickte er Muu weg und sagte: „Salt.“ Als sie wiederkam, machte er dieselbe Handbewegung und sagte: „Paper.“ Nein, er war kein sehr umgänglicher Mensch. Doch als Muu fragte, ob sie gehen kann, gab er ihr fünfhundert Baht und sagte: „You stay with me.“ Sie gingen mit einem Umweg über zwei Flaschen Bier zum Strand und von dort aus in ein Restaurant. Während eines umfangreichen und langdauernden Mahles fand der Dicke gute Unterhaltung mit dem Wirt und einigen Flaschen Bier. Muu setzte sich bald mit ihrem Buch an einen Nebentisch, bis der Dicke ihr bedeutete, sie würden jetzt gehen.

Natürlich gingen sie wieder durch die verschiedensten Bars, wo sich Muu stets in eine Ecke setzte, bis sie den Dicken wieder betrunken ins Hotel bugsierte. Der war nachts regelmässig betrunken, wollte wohl auch hin und wieder versuchen, mit Muu ins Bett zu gehen, was sein Alkoholpegel ihm jedoch strikt verbot. Er sprach zwar kaum mit ihr, zahlte aber jeden Morgen und wollte sie in seiner Nähe haben, obwohl er sie kaum beachtete, wenn er nicht gerade etwas gebracht haben wollte oder einen Platzwechsel vornahm. Muu tröstete sich damit, dass sie dabei wenigstens Zeit hatte, ihre Bücher zu lesen. Am meisten erstaunte sie, dass er ihr an seinem letzten Tag in Pattaya zum Abschied noch einen guten Tip gab. Muu begriff, dass der Dicke eigentlich kein schlechter Mensch war Er war nur kommunikationsunfähig, hatte Angst, allein zu sein, obwohl er tatsächlich immer alleine war und ertränkte seine Probleme und sein Leben in Bier. Wahrscheinlich, weil er Angst vor Menschen hatte.

Es war gut, dass noch einige Tage frei blieben, bis Ernst kam und Muu sagte den Kolleginnen, dass sie in der Zwischenzeit kein Interesse hätte, mit irgendwelchen Männern mitzugehen. Verblüfft bemerkte sie, dass sie in der Bar, auch wenn wenig Betrieb war, weniger dazu kam, etwas zu lernen, als wenn sie mit jemand mitging. Es gab immer ein Mädchen, das eine wichtige Bemerkung über das Geschehen auf der Strasse zu machen hatte, so dass sie oft ein und denselben Absatz mehrmals beginnen musste und nach zwei Seiten schon nicht mehr wusste, was sie zuvor gelesen hatte. Zudem wurde sie durch das Lesen bei ihren Kolleginnen zur Aussenseiterin, auch wenn diese sich mit Übersetzungen und Briefen stets an Muu wandten, doch das Lernen war ihnen suspekt.

Ernst erschien unvermutet an der Bar, nämlich einen Tag zu früh. Er sagte, er habe sich im Datum vertan, aber Muu war sich da gar nicht so sicher, nachdem er auch sagte, er sei gerade erst angekommen und hätte ursprünglich vorgehabt, erst einmal eine Nacht auszuschlafen. Ernst trank einen Martini und löste Muu aus, um mit ihr essen zu gehen. Dabei erzählte er etwas von Deutschland und sagte, dass er öfter an sie gedacht hat. Er hat sich auch überlegt, ob er nicht nach Thailand übersiedeln soll. Er glaubt aber, das sei nicht gut für ihn. „Es sind wohl mehr die einfachen Leute, die in Thailand auf lange Zeit mit einfachen Leuten gut zusammenleben können, Leute, die keine grossen Ansprüche haben und mit einem Fernsehapparat, einigen Flaschen Bier und einem hübschen Mädchen zufrieden sind“, erklärte er.

Als sie nach dem Essen ins Hotel gingen, wo sie sich noch längere Zeit unterhielten, erklärte Ernst diese Aussage näher. Er meinte, dass das Problem eigentlich nichts mit Thailand zu tun hat, sondern sein Privatproblem ist. Er sei sehr zurückhaltend, sehr introvertiert. Obwohl er eigentlich Kontakte mit anderen Menschen braucht, zieht er sich innerlich zurück und läuft lieber vor Menschen weg, als dass er auf sie zuläuft. Und wenn er schon mit Menschen zu tun hat, dann mag er nur Menschen, die ihn in Ruhe lassen, Menschen, mit denen er vielleicht über Gesellschaftsprobleme diskutieren kann, statt mit ihnen zu tanzen. Er kommt sich manchmal vor, wie ein Greis, der eine Gruppe Kinder beobachtet und versucht, sie zu verstehen, aber genau weiss, dass die Kinder ihn nicht verstehen können und es noch nicht einmal versuchen, meinte er.

Wenn er aber in Deutschland schon keine Leute findet, mit denen er sich unterhalten kann, dann wird es in Thailand nahezu unmöglich sein. Das liegt an Sprachproblemen, aber auch daran, dass die Allgemeinbildung in Thailand noch niedriger ist, als in Deutschland, als auch daran, dass ein Ausländer in Thailand kaum jemals Gelegenheit hat, in gebildete Kreise zu geraten. Sein Problem liegt einfach darin, dass er gefühlsmässig nicht aus sich heraus kann. Aber dieses Problem lässt sich nicht einfach mit einem Umzug nach Thailand lösen, obwohl er sich im Urlaub wohlfühlt.

Als sie später über Muu und ihre Arbeit in der Bar sprachen, erzählte sie wohl auch etwas davon, erwähnte aber, dass sie versuchen will, eine andere Arbeit zu finden, weil sie sich viel mit dem Kurs an der Fernuniversität beschäftigt, um das Abitur nachzuholen. Wenn sie in der Bar ist, hat sie eine lange Arbeitszeit und nur wenig Zeit zum Lernen, erklärte sie. Nachdem Ernst sie näher über den Kursus befragt hatte und hörte, dass ihr Lesen und Schreiben am meisten Spass machen und dass sie versuchen möchte, Humanwissenschaften zu studieren, fragte er sie erst über ihre Ansichten zur Gesellschaft und nach einigen Namen aus dem Bereich der Humanwissenschaften. Muu erzählte, nannte ihre Überzeugungen und wurde dabei recht lebhaft. Dann fragte Ernst, wie teuer die Kurse seien und wieviel Geld sie denn im Monat verdienen muss, um leben und lernen zu können. Anschliessend sagte Ernst, er will kurz einen Freund in Deutschland anrufen und stand auf.

Das Gespräch dauerte sehr lange und Muu bekam nur mit, dass es ein ruhiges Gespräch war, das sehr sachlich geführt wurde, also ohne jeden Ärger und auch ohne Gelächter oder grosse Freude. Anschliessend erklärte Ernst, dass er einen alten Freund in Deutschland angerufen hat, der früher einmal Soziologie unterrichtet hat, aber nun im Alter von knapp siebzig Jahren nach einem schweren Unfall wegen Problemen mit der Wirbelsäule meistens mit grossen Schmerzen zuhause sitzt. Der hatte nach einer Unterhaltung mit Ernst einmal überlegt, ob er nicht nach Thailand gehen sollte, weil er dort in dem warmen Klima weniger Schmerzen hat.

Er hätte diesen Gedanken aber aufgegeben, weil er dann ziemlich hilflos in einem fremden Land ist, in dem er keinen Menschen kennt und mit niemand sprechen kann. Ernst hatte ihm nun gesagt, dass er jemand kennt, der Englisch spricht, das Abitur nachholt, Humanwissenschaften studieren will und möglicherweise bereit ist, sich um ihn zu kümmern. Er erklärte dazu, dass dieser Freund keinerlei sexuelle Interessen hat, aber etwas gebrechlich ist und einen Menschen braucht, der ihn versorgt, für ihn kocht und sich auch einmal mit ihm unterhält und fügte dazu, dass dieser Mensch vielleicht auch ein guter Lehrer sein könnte, bei dem Muu mit Sicherheit viel lernen kann, wenn sie daran interessiert ist.
Sie hatten das Gespräch über die verschiedenen Möglichkeiten noch nicht beendet, als das Telefon klingelte. Ernst hob ab, lauschte einen Augenblick, dann reichte er Muu den Hörer: „For you.“

Muu war erschrocken. Wer würde sie anrufen und wer konnte wissen, dass sie hier bei Ernst im Hotel war? Verunsichert nahm sie den Hörer. Das Gespräch dauerte einige Zeit. Als sie auflegte, sah Ernst sie fragend an. Sie sagte es wäre ein seltsames Gespräch mit seinem Freund gewesen. Der hätte mit der Nennung verschiedener Humanwissenschaftler prüfen wollen, wie weit sie sich auskennt. Er hatte von Dahrendorf, Silbermann, Horkheimer und Max Weber gesprochen, Hegel, Sartre und Freud erwähnt bei der Bemerkung, dass es sich nicht immer um die sexuellen Angelegenheiten handelt, die die Grundlage jeder menschlichen Beziehung sein müssen. Nachdem sie diese Bemerkungen verstanden und eine andere nicht verstanden hatte, versprach der Mann, demnächst nach Thailand zu kommen, um sich erst einmal mit ihr zu unterhalten, dann könnte man vielleicht zu einem gemeinsamen Entschluss kommen. Das hinderte Ernst aber nicht daran, mit Muu ins Bett zu gehen.

Am nächsten Tag brachte Muu das Päckchen mit der Goldkette, das er angeblich ,vergessen‘ hatte und das sie für ihn aufheben sollte. Ernst schmunzelte und meinte: „Ich hatte eigentlich nicht gedacht, dass Du die Kette verkaufst, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist“, und fügte hinzu: „Aber jetzt brauche ich sie nicht mehr, jetzt kannst Du sie behalten. Vielleicht hast Du Dich schon an sie gewöhnt. Man kann nämlich auch zu Gegenständen und sogar zu Goldschmuck ein persönliches Verhältnis entwickeln, das nichts mit dem materiellen Wert zu tun hat.“

In den drei Wochen, die Ernst noch blieb, unternahmen sie nur drei Ausflüge und blieben die meiste Zeit im Hotel am Swimmingpool, wenn sie nicht essen gingen oder abends kurz einmal eine Bar besuchten. Ernst war mit seinen Büchern und Betriebsunterlagen beschäftigt und achtete sehr darauf, dass Muu an ihren Büchern sass und lernte. Es geschah nichts Besonderes, aber Ernst fühlte sich wohl. Er sagte, es reiche ihm, wenn ein sympathischer Mensch in seiner Nähe ist, auch wenn man sich nicht dauernd miteinander beschäftigt.

Drei Tage vor Ernst’s Abreise kam sein Freund Bernhard. Er kam mit einem Krückstock und begrüsste sie kurz am späten Nachmittag, erklärte, dass er müde sei und sich erst etwas hinlegen muss. Nach einem Glas Cognac sagte er, dass er sich zum Frühstück melden wird und verabschiedete sich. Am nächsten Morgen erschien er in bester Laune und ohne Krückstock. Er meinte, das warme Klima tut ihm so gut, dass er nur wenige Schmerzen hat. Grundsätzlich wäre es also gut für ihn, in Thailand zu leben. Aber er hielt es für gefährlich, seine alte Umgebung in Deutschland aufzugeben und ins Ungewisse nach Thailand zu kommen.

Er sprach längere Zeit mit Muu, um etwas über ihre Lebenseinstellung herauszufinden, damit er sich einen näheren Eindruck und etwas Sicherheit verschaffen konnte. Er sprach auch mit Ernst und der schlug ihm vor, er brauche ja sein Haus in Deutschland nicht aufzugeben. Es könne ja hier ein Haus mieten und ein Jahr auf Probe kommen. Nach einigen Bedenken meinte Ernst, er kann mit Muu einen Vertrag auf ein Jahr machen und den Vertrag später verlängern. Ein Vertrag, der vorsieht, dass Muu sich verpflichtet, in keinem Falle wegzugehen, solange sie ihm nicht zumindest jemand beschafft hat, der ihn versorgt.

Bernhard meinte schliesslich, das könne er versuchen. Er könnte sich ein Haus kaufen, das ohnehin eine gute Geldanlage ist, weil Häuser in Thailand sicher nicht billiger werden. Ernst erklärte, dass er kein Haus in Thailand auf seinen Namen kaufen kann und empfahl ihm, einen offiziellen Vertrag abzuschliessen, in dem er Muu so viel Geld leiht, wie das Haus kostet und dieses geliehene Geld als Hypothek auf das Haus eintragen lässt, mit der Zusatzklausel, dass er ein lebenslanges Nutzungsrecht auf das Haus hat. Bernhard überlegte kurz und sagte, das wäre ihm zu kompliziert. Ihm reicht ein Vertrag über das lebenslange alleinige und uneingeschränkte Nutzungsrecht, wenn er nicht ein günstiges Angebot bekäme, sich ein Haus zu mieten.






Fünfzehnter Teil:

Als Ernst abfuhr, liess er sich von Muu ihre Anschrift aufschreiben und sagte Bernhard, der bis zu seiner Rückfahrt noch drei Tage Zeit hatte, sie würden sich in Deutschland treffen. Bernhard erklärte Muu, dass er sie in diesen Tagen etwas näher kennenlernen wollte und gerne auch einmal einen Ausflug unternehmen möchte. Dazu sagte er, dass er alt ist und nachts lieber allein schläft, weil er dann niemand stört, wenn er aufsteht, Musik hört oder ein Buch liest, wenn er einmal nicht schlafen kann. Ihm wäre es lieber, wenn Muu zum Frühstück kommt und sie den Tag miteinander verbringen. Selbstverständlich würde er die Auslöse und auch ihren ,Verdienstausfall‘ bezahlen.

Sie sprachen in diesen drei Tagen viel miteinander und unternahmen einen Ausflug nach Chantaburi, was zur Folge hatte, dass Bernhard seinen Aufenthalt um eine Woche verlängerte. In den nächsten Tagen sahen sie sich auch einige Häuser an, damit Bernhard eine Idee hatte, was hier Häuser kosten und wie sie aussehen. Sie fuhren anschliessend noch nach Chachoengsao und nach Bangkok, jeweils mit einem gemieteten Auto mit Chauffeur, weil Bernhard keine Gruppenreisen mochte.

Als er abflog, schrieb er sich Muu’s Adresse auf und gab ihr seine Visitenkarte. Er meinte, sie stände noch ziemlich am Anfang ihres Studiums. Er gab ihr einen Zettel, auf den er einige Bücher aufgeschrieben hatte, die sie lesen sollte und neben der vereinbarten Bezahlung gab er ihr auch das Geld für die Bücher. Dann gab er ihr weitere 20.000 Baht, mit dem Hinweis, dass sie von diesem Geld die Kosten und den Arbeitsaufwand bezahlen sollte, den sie bei der Suche nach einem geeigneten Haus hat.

Sie sollte ihm dann jeweils zwei oder drei Fotos und eine Beschreibung mit Preisangabe jener Häuser schicken, die sie für geeignet hielt. Abschliessend versprach er, innerhalb von drei Monaten wiederzukommen und zwischendurch etwas von sich hören zu lassen. Im letzten Moment vor der Abfahrt des Taxis meinte er noch, es wäre nett, wenn sie ihn zum Flughafen begleite. Muu fuhr mit, liess sich dann aber in Bangkok auf der Rückfahrt bei ihrer Freundin mit dem Essensstand absetzen. Es wurde ein langer Abend, denn sie freuten sich über das Wiedersehen und hatten sich viel zu erzählen.

Muu fuhr erst einen Tag später wieder nach Pattaya. An der Bar wussten die Mädchen, dass sie gut verdient hatte und sie musste Essen bestellen, Reis mit Huhn. An der Bar war nicht viel Betrieb und es dauerte einige Tage, bis sie wieder ausgelöst wurde. Ein sehr ruhiger Mann, der noch keine dreissig Jahre alt war, nahm sie kurz vor Mitternacht mit ins Hotel. Er machte einen etwas fremden, strengen Eindruck, sprach kaum mit ihr und berührte sie auch nicht. Doch als er im Hotel die Zimmertür hinter sich schloss, riss er sie gleich am Arm zurück, versuchte, ihr Hemd hochzuzerren und sagte: “Jetzt zeig’ ‘mal Deine Titten!“ Muu war sich zwar klar darüber, dass ihre Kunden ihre Brüste sehen wollten, aber das gab ihnen nicht das Recht, Gewalt anzuwenden. Muu konnte sich losreissen und flüchten und war froh, diesem Abend entgangen zu sein.

Wenige Tage später hatte sie einen neuen Kunden. Er betrachtete sie von allen Seiten und betonte, dass sie besonders schön sei. Bald nahm er sie mit ins Hotel. In seinem Zimmer sah Muu ein grosses weisses Tuch, das an einer Wand aufgespannt war, ein grosses rotes Tuch bedeckte ein Doppelbett und davor stand auf einem Stativ eine grosse Kamera. Der Mann sagte, sie soll sich ausziehen, nahm einige Pornohefte vom Nachttisch und zeigte ihr, wie sie sich hinzulegen hat. Muu lehnte ab. Er wurde ärgerlich und meinte, er hat schon für sie bezahlt und sie hat zu tun, was er befiehlt. Dem wollte er nachhelfen und sie ausziehen. Muu weigerte sich und wehrte sich. Es kam bald zu einem Gerangel, bei dem er brutal wurde, während Muu sich weiter wehrte und um Hilfe schrie.

Bei dem Gerangel fiel dann auch die Kamera um. Der Mann wurde wütend und begann, sie zu verprügeln. Auf ein starkes Klopfen an der Tür reagierte er nicht, aber Muu schrie weiter. Als er über eine Bettkante stolperte, gelang es Muu, zur Tür zu laufen und sie zu öffnen. Es war zu spät, als der Mann sie zurückreissen wollte. Drei Leute aus den Nachbarzimmern und zwei vom Hotelpersonal drangen in das Zimmer ein und hielten den Mann zurück. Danach gab es wieder ein grosses Durcheinander und viel Geschrei, aber einer der Hotelangestellten hatte schon per Funk über die Reception die Polizei rufen lassen, die sehr schnell da war.

Die Polizisten schauten sich das Zimmer, die Kamera und die Pornohefte an. Der Mann sagte den Polizisten, Muu hätte ihm den Auftrag gegeben, für sie Fotografien zu machen, weil sie die einem Freund schicken wollte und sie hätte ihm dafür eintausend Baht gegeben. Muu schüttelte den Kopf, aber das interessierte die Polizisten gar nicht. Sie meinten, dann hätte Muu sich wahrscheinlich ausgezogen und er hätte weder ihre Bluse zerreissen, noch sie zu verprügeln brauchen. Doch wenn er sagt, dass er für Pornoaufnahmen Geld angenommen hat, würden sie ihm das natürlich glauben. In diesem Falle braucht er allerdings eine Arbeitsgeneh-migung, die sie sehen wollten. Dann sagten sie ihm, dass er Muu jetzt die eintausend Baht zurückgeben soll, weil er keine Arbeit annehmen darf und die Fotos gar nicht gemacht hat.

Als der Mann seine Brieftasche zückte, in der sehr viele grosse Scheine waren, griff der Polizist schnell zu, gab Muu einen Tausender als ,Rückerstattung‘, einen weiteren für die zerrissenen Kleider und behielt noch einige Scheine in der Hand, die er dem Mann vor die Nase hielt und sagte: „Beweismaterial.“ Denn Pornografie sei in Thailand grundsätzlich verboten und sie nahmen ihn, die Kamera und die Pornohefte mit. Als sie gingen, kam noch eine ältere ausländischer Frau aus einem der Nebenzimmer, die bei Muus Hilfeschreien aus dem Zimmer gekommen war und dann den ganzen Krawall miterlebt hatte.

Sie hatte Tränen in den Augen und eine hübsche Bluse in der Hand. Sie zeigte auf Muu’s zerrissene Bluse, hielt ihr die mitgebrachte hin und sagte: „For my daughter, but too small.“ Als Muu sich bedankte und die Bluse nahm, drückte sie ihr noch einige Geldscheine in die Hand und sagte: „When I young, me same. You no do this work, please!“, dann fing sie an zu weinen und huschte zurück in ihr Zimmer. Sie musste wohl einmal etwas Ähnliches erlebt und nie vergessen haben.

Muu war gerührt und sie freute sich auch über das Mitgefühl der Frau und das Geld, aber je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr erschien ihr diese Frau wie ein Omen, das ihr gesagt hatte, sie soll diese Arbeit nicht mehr machen, und dann, als würde sie selbst darunter leiden, noch dazugefügt hatte: „Bitte!“ Was hätte die Frau davon gehabt, ihr etwas zu geben, um dann gleich wieder wegzugehen, wenn sie kein Omen gewesen ist? Die letzten Erlebnisse mit ihren Kunden waren doch teilweise schon recht unangenehm gewesen. Sollte dies jetzt eine Warnung sein, dass es jetzt noch schlimmer kommt, so schlimm, dass die Frau deswegen schon weint? Und dass sie ihr deswegen Geld gegeben hat, damit sie diese Arbeit wenigstens für einige Wochen nicht zu machen braucht?

Sicher, es war für sie sehr viel Geld gewesen, aber sie würde davon nicht lange leben können, vielleicht war es nur als eine Warnung gedacht und um ihr eine Möglichkeit zu geben, eine andere Tätigkeit zu suchen, ohne Hunger zu haben. Muu war beunruhigt und bekam jetzt Angst. Sie zählte ihr Geld. Sie hatte finanziell in den vergangenen Wochen viel Glück gehabt und wenn sie alles Geld zusammenrechnete, würde sie davon einige Monate leben können, doch auch wenn sie sparsam war, würde es nicht sehr lange reichen und dann hätte sie keine Reserve mehr. Sicher hatte Bernhard gesagt, dass er bald kommt, aber sollte man sich auf einen Farang verlassen? Doch das Omen machte ihr Angst. Wenn sie ganz sparsam war, würde sie vielleicht ein Jahr lang ohne weiteren Verdienst auskommen und lernen können. Vielleicht könnte sie sich auch noch etwas dazuverdienen, wenn sie Briefe übersetzt.

Nach langer Überlegung entschloss Muu sich, in der Bar aufzuhören, hauptsächlich wegen des Omens. Sie würde eben jetzt alles daran setzen, zu lernen. Sie fing auch sofort damit an, doch es dauerte nicht lange, bis sie merkte, dass das nicht ging. Sie hatte jetzt drei Tage nur gelernt, aber es war nicht möglich, jeden Tag sechzehn Stunden zu lernen und dabei kaum einen Menschen zu sehen. Sie musste eine Pause machen, sie musste andere Menschen sehen. Sie ging nun öfter durch die Strassen, wenn sie eine Pause machen musste. Sie schickte Monea und ihrer Schwester das Geld für ihr Kind für drei Monate im Voraus, damit sie beruhigt sein konnte, aber sie konnte nicht den ganzen Tag alleine im Zimmer sitzen und lernen. Dann fuhr sie für drei Tage nach Surin, um ihr Kind zu sehen und mit Monea zu sprechen.

Am nächsten Wochenende, als sie zu ihrer Klasse in Chonburi fuhr, verabredete sie mit einer Freundin, die nicht recht mitkam, dass sie sich zum Lernen zusammensetzen konnten. Das half zunächst, aber Muu musste bemerken, dass sie dabei auch viel Zeit verlor, in der sie der Freundin helfen musste und anschliessend noch einmal Zeit verlor, weil die Freundin keine Lust mehr zum Lernen hatte, wenn Muu ihr alles erklärt hatte. Aber es kamen doch einige Stunden zusammen und die anderen Stunden lernte sie dann alleine zuhause. Das ging über etwas mehr als zwei Monate, bis Bernhard sich meldete. Er wollte jetzt kommen und hatte sich doch für ein Haus entschieden, das zu mieten war. Er wollte erst einmal abwarten, wie sich sein Leben in Pattaya entwickelte und schrieb, er könnte ja immer noch ein Haus kaufen, wenn er in Pattaya zufrieden leben konnte. Dann hätte er auch bessere Möglichkeiten einer Auswahl oder eines günstigen Angebotes.

Muu holte Bernhard vom Flughafen ab. Er kam mit seinem Krückstock, den er am nächsten Tag wieder weglegte. Am Nachmittag des folgenden Tages sah Bernhard sich das Mietobjekt an, ein Haus mit vier Zimmern, er war mit dem Preis einverstanden und schon zwei Tage später wurden die Verträge unterschrieben und Bernhard konnte nach einigen Änderungen in das Haus einziehen. Das Umräumen nahm einschliesslich des Anschlusses eines neuen Computers für Bernhard nur zwei Tage in Anspruch. Muu half dabei nach besten Kräften und auch nach bestem Gewissen.

Sie machte Bernhard Vorschläge nach thailändischem Muster, wie die Zimmer eingeteilt und eingerichtet werden könnten. Sie schlug vor, dass das grosse Wohnzimmer wie hier üblich praktisch leer blieb und nur benutzt werden sollte, wenn Gäste kamen. Das anschliessende, nicht abgetrennte Esszimmer vor der Küche konnte zum Essen benutzt werden, dann würde sich ein grosses Zimmer mit Balkon als Arbeitszimmer für Bernhard eignen, während ein angrenzendes Zimmer sein Schlafzimmer sein sollte. Sie selbst wählte für sich eine kleine Kammer aus, die für sie reichen würde, da sie sich in dem Zimmer nicht viel zu bewegen hatte.




von Dr.G.M. Gad Labudda
 
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von Dr.G.M. Gad Labudda





Sechzehnter Teil:

Doch Bernhard war nicht nur kein Thailänder, er war auch ein erfahrener Mensch. Als er Muu fragte, wieviele Gäste sie denn pro Tag erwartet und sie meinte, dass sie überhaupt keine Gäste hat, versicherte Bernhard, dass die dann auch kein Versammlungszimmer brauchten. Dann meinte er, dass Wohnen keine Tätigkeit sei und sie beide es mit viel Arbeit zu tun hätten, deshalb sei es besser, wenn das grosse Zimmer zum Arbeiten eingerichtet wird, und zwar ein Teil für ihn und ein anderer, kleinerer Teil mit einem Schreibtisch und einem kleineren Computer für sie.

Er stellte die vorhandenen Wohnzimmermöbel in das leere Esszimmer und suchte mit Muu zusammen die Möbel für das Arbeitszimmer aus, erklärte ihr, dass sie sich ihre Arbeitsecke ruhig so einrichten kann, wie es ihr gefällt, solange die Einrichtung etwas mit einem Arbeitszimmer zu tun hat. Dann meinte er, wenn er sich oben in einem separaten Zimmer einrichten wollte, dann hätte er auch in seinem Haus in Deutschland bleiben können, wo er ein sehr grosses, eingerichtetes Arbeitszimmer hat. Und wenn Muu auf ihrer Kammer sitzt und dort den ganzen Tag lernen will, dann geht das einfach nicht, weil ihr die Wände und das Dach auf den Kopf fallen. Zwar wusste Muu nicht, was er damit meinte, aber es reichte ihr, zu wissen, dass sie nicht lange alleine sitzen und lernen konnte.

Am vierten Tag zog der Alltag ein und Muu war ausserordentlich nervös. Sie versuchte, das Frühstück so zu machen, wie sie es Bernhard im Hotel essen gesehen hatte, aber er meinte, sie soll sich darum keine Sorgen machen, er würde nicht gerne jeden Tag dasselbe essen und macht sich sein Frühstück aus belegten Broten lieber selbst, was ja auch wenig Arbeit macht. Aber sie könnte morgens eine kleine Kanne Kaffee bereiten. Nach dem Frühstück setzte Eberhard sich an seinen Arbeitsplatz, den er schon zuvor richtig eingerichtet hatte, holte seine Unterlagen und einige Bücher hervor und fing an zu arbeiten, während Muu unruhig hin und her trippelte, ohne recht zu wissen, was sie nun tun sollte, um etwas für Bernhard zu tun oder um ihn nicht zu stören.

Bernhard sagte ihr, sie solle sich überhaupt keine Sorgen machen und so tun, als wenn er gar nicht da wäre. Nur wenn sie etwas wissen wollte oder er ihr helfen sollte, dann sollte sie sich an ihn wenden. Er würde das schon merken, wenn sie etwas auf dem Herzen hätte und sie müsste dann nur einen Augenblick warten, bis er von der Arbeit aufsieht, weil er dann vielleicht noch einen Satz zu Ende schreiben oder einen Gedanken zu Ende führen müsste. Umgekehrt würde er sich auch nicht darum kümmern, was sie tut, nur wenn er etwas von ihr wollte, dann würde er sich schon bei ihr melden.

Muu blieb zwar weiterhin unsicher und nervös, aber das legte sich. Sie sassen so im Zimmer, dass jeder den Anderen sehen konnte, dass sie aber nicht unbedingt auf ihn schauen mussten, wenn sie von der Arbeit aufschauten. Langsam ordnete Muu ihre Sachen und begann mit dem Lernen. Es mochten vielleicht zwei oder drei Stunden vergangen sein, als Eberhard meinte, dass sie jetzt sicherlich eine Tasse Kaffee und einige Kekse für eine kleine Pause verdient hätten. Muu war dafür sehr dankbar, denn sie spürte schon, wie sie sich immer mehr zusammenzog, weil sie sich beobachtet fühlte. Die Pause, in der sie sich über einige Nebensächlichkeiten unterhielten, lockerte sie aber auf und das Lernen war anschliessend viel angenehmer und ging wesentlich lockerer.

Am frühen Nachmittag schlug Bernhard vor, sie sollte doch einmal zeigen, wie es mit ihren Kochkünsten bestellt wäre, er wäre bereit, alles zu essen, wenn er kein Chili, keine Knochen und keine Gräten im Essen findet. Nach einiger Überlegung machte Muu nach thailändischer Sitte Reis und lieferte dazu vier Tellerchen mit gebackenem Schweinefleisch, gebratenem Hühnerfilet und süsssaurem Gemüse mit Obst und Sosse. Berhard, der noch kein thailändisches Essen kannte, war zunächst verblüfft, zeigte sich dann aber begeistert. Dass sie viel zu viel gemacht hatte, störte ihn nicht, sie würde schon noch die richtigen Proportionen lernen, da sie ja nicht wissen konnte, wie wenig er isst.

Nach dem Essen unterhielten sie sich noch etwas. Eberhard sprach über die Sozialisierung des Menschen in der frühesten Kindheit, was Muu nur schwer verstehen konnte. Waren kleine Kinder denn nicht viel zu dumm, um etwas lernen zu können, wo sie doch noch nicht einmal richtig sprechen konnten? Eberhardt erklärte ihr die Vorgänge des Lernens durch Nachahmung und die Bedeutung der Ersterfahrung. Wenn zwei kleine Kinder miteinander spielen und Arnold will von Bruno dessen Spielzeugauto haben, was der ihm aber nicht geben will, so kann es sein, dass Arnold ihn mit einem Stock schlägt und das Auto wegnimmt. Dabei lernt Arnold, dass man andere Menschen schlagen muss, wenn man etwas von ihnen haben will und Bruno lernt, dass es gefährlich ist, etwas zu besitzen, was andere haben wollen, weil man dann geschlagen wird und diesen Besitz verliert. Sie haben beide eine Ersterfahrung gemacht, wozu sie noch keine Worte kennen müssen, sie haben aber etwas gelernt, das dann durch weitere Erfahrungen korrigiert und erweitert werden muss.

Muu hatte einige Aussagen von Bernhard verstanden und war sehr nachdenklich geworden. Solche Sachen hatte man hier noch nicht gehört und in der Erziehung auch noch nie berücksichtigt. War es vielleicht so, dass man sich in Thailand vielleicht viel zu wenige Gedanken um die Kinder und ihre Erziehung machte? Bernhard meinte dazu, dass die Eltern in aller Welt meist erst dann beginnen, sich ernsthafte Gedanken um ihre Kinder machen, wenn die Eltern schon so viele Fehler gemacht haben, dass die Kinder ein gestörtes Verhalten zeigen. Muu war nun die nächsten Tage damit beschäftigt, sich Gedanken über die Erziehung von kleinen Kindern zu machen. Das hatte Bernhard auch bezweckt, weil er wollte, dass Muu sich über die Bedeutung der Sozialwissenschaften klar wird und vielleicht ihre eigenen Interessen dabei finden kann. Sie hatten jetzt immer nach dem Essen oder nach einer Pause mit einigen Keksen eine kleine Unterhaltung, bei der Bernhard oft einige kleine Probleme aus dem Bereich des menschlichen Zusammenlebens ansprach und Informationen sowie Verständnismöglichkeiten lieferte.

Beim Abendessen machte er Muu aber erst einmal klar, dass sie ein junges Mädchen ist, das nicht mehr als acht oder zehn Stunden hintereinander nur lernen kann. Sie sollte sich Abwechslung suchen, vielleicht etwas, was ihr Spass macht, etwas, was sie auflockert. Muu hatte eher befürchtet, dass Bernhard das, was sie lernte, nicht als ausreichend empfand und dann hatte sie sich Sorgen gemacht, dass Bernhard nicht damit zufrieden war, dass sie die ganze Zeit nur für sich arbeitete, denn sie konnte bei ihm umsonst wohnen und essen, bekam noch einen Monatslohn dazu, während sie den ganzen Tag lang vielleicht nur zwei bis drei Stunden für ihn brauchte, um das Essen zu bereiten, die Wäsche zu waschen und das Haus sauber zu halten.

Sie verstand nicht, dass Bernhard sich sein Studium früher selbst sehr hart verdienen musste und nun versuchte, ihr die Möglichkeiten zu geben, die er sich früher vergeblich gewünscht hatte. Sie verstand auch nicht, dass es Bernhard völlig reichte, wenn sie in seiner Nähe war und ihre Sachen lernte, während er damit beschäftigt war, ein Buch über Kommunikationsstrukturen zu schreiben. Sie wollte dauernd wissen, was sie für ihn tun könnte und beeilte sich, jedem seiner Wünsche sofort nachzukommen, auch wenn sie sie nur vermutete, was Bernhard manchmal geradezu peinlich war, weil er sich dann als störend erlebte.

Es gab auch eine lange Zeit, in der Muu sehr verunsichert war, weil Bernhard ihr nie sagte, was gut oder was schlecht ist, sondern immer nur Fragen stellte. Wenn sie das Geisterhäuschen versorgte, fragte er sie, was denn die Geister gesagt hätten, woran man erkennen kann, dass dort Geister sind oder dass es überhaupt welche gibt und wenn sie antwortete, dann fragte er meist weiter, bis sie nicht mehr antworten konnte und das Gespräch damit beendete, dass er ihr sagte, das müsse sie sich vielleicht noch einmal etwas gründlicher überlegen, um dann über irgend ein belangloses Thema weiter zu sprechen.

Nachdem Muu sich entschlossen hatte, zu der angeratenen ,Abwechslung‘ Bücher zu lesen, liess Bernhard sich den Inhalt erzählen. Er merkte dabei sehr deutlich, dass ihre Schulbildung hauptsächlich auf der Nachahmung aufgebaut war, nämlich im Wiederholen des Gesagten oder Geschriebenen, aber das Verständnis war dabei nicht gefördert worden. So war Muu einfach nicht in der Lage, eine Kurzfassung eines Kapitels zu bringen. Und wenn sie auch verschiedene Gedanken zu solch einem Kapitel haben mochte, so war sie nicht in der Lage, diese Gedanken in eine logische Folge zu bringen und verständlich darzustellen.

Deshalb liess er sich immer wieder erzählen, was sie las, bis Muu langsam in der Lage war, sich ihre eigenen Gedanken darüber zu machen, das Wesentliche in kurzen Zügen zu bringen und auch eine Kritik hieran geordnet vorbringen konnte. Aber Muu merkte das nicht. Sie freute sich nur darüber, dass Bernhard so viel Interesse an thailändischer Literatur hatte und es freute sie, auch etwas für ihn tun zu können, wie sie glaubte. Nachdem sie wusste, dass er sie über das Gelesene befragen würde, suchte sie sich für die schwierigen Wörter die englische Übersetzung aus dem Wörterbuch, damit sie dann problemlos den Inhalt des Gelesenen erklären konnte. Dabei erarbetete sie ein recht umfangreiches Vokabularium, mit dem sie dank Eberhards Hilfe auch bald gut umzugehen lernte.

Monate waren so vergangen, während derer Bernhard immer wieder einmal darauf hinwies, dass sie unter junge Leute gehen sollte und dass sie Vergnügen braucht, aber Muu lehnte das ab. Sie meinte, es ginge ihr sehr gut und ihr fehlten keine jungen Leute. Eberhard hatte das Gefühl, dass sie aus irgendeinem Grund vor jungen Leuten Angst hatte oder davor, in einen Kreis mehrerer junger Leute zu kommen.

Eines Tages kam Ernst, um Eberhard zu besuchen und sie hatten eine lange, freundschaftliche Unterhaltung. Ernst freute sich, dass er mit Muu so gut zurecht kam und dass sie offensichtlich grosse Fortschritte gemacht hatte. Als er Eberhard fragte, wie er es geschafft habe, Muu so zu verändern, erwiderte der: „Indem ich ihr soviel europäische Denkweisen und Verhaltensweisen beigebracht habe, dass sie es schwer haben wird, in ihrer thailändischen Gesellschaft zu leben und ihr keine thailändischen Empfindungen oder Denkweisen genommen habe, so dass sie es schwer finden wird, in einer europäischen Gesellschaft zu leben.“

Es war als Scherz gedacht, aber es warein sehr ernster Scherz mit viel Wahrheitsgehalt. Doch dasselbe sagte er auch von sich selbst. Er sagte, er habe wohl zu lange in Deutschland gelebt, um hier glücklich zu sein, und er habe zu lange hier gelebt, um in Deutschland glücklich zu sein. Er fügte aber hinzu, dass es ihm hier viel besser geht, als in Deutschland, was einmal auf seine Knochenprobleme und das Klima zurückzuführen sei, zum Anderen aber auch darauf, dass er hier mit Muu eine lohnende Aufgabe sieht, die ihm Spass macht und aus der er auch schon viel über die Mentalität unterschiedlicher Kulturen lernen konnte.

Es würde ihn später interessieren, mit Muu’s Hilfe Notizen über Denkstrukturen thailändischer Schüler und Studenten anzufertigen. Er erwähnte aber auch, dass sein Wohlbefinden zu einem sehr grossen Teil auf die gute Versorgung durch Muu und ihr freundliches Wesen zurückzuführen ist. Er meinte, dass er bei einer anderen Person Thailand vielleicht schon verlassen hätte, weil ihm die Kontakte mit Thailändern als auch mit den Ausländern in Pattaya nicht viel gegeben haben. Es würde also im Grunde alles nur am Umgang mit dieser einen Person hängen.

In den folgenden Wochen war Muu etwas nervös und zappelig, was darauf zurückzuführen war, dass sie ihre Prüfungen ablegen musste. Sie liess aber nicht davon ab, sich auch in dieser Zeit voll um Bernhard zu kümmern, obwohl er ihr gesagt hatte, dass es für ihn nur eine Abwechslung sei, wenn er sich zwei oder drei Wochen selbst versorgt. Muu legte eine glänzende Prüfung ab und kümmerte sich in der Folgezeit noch intensiver um Bernhard, als zuvor.






Siebzehnter Teil:

Ein ernsthaftes Problem tauchte auf, als sie eine Benachrichtigung erhielten, dass der Hauseigentümer verstorben sei und die Erbengemeinschaft das Haus verkaufen wollte. Man bot Bernhard das Haus zwar zum Kauf an, forderte aber einen Preis, den Muu als unverschämt und indiskutabel bezeichnete. Bernhard liess Muu auf das Schreiben antworten, dass er einen rechtsgültigen Vertrag für vier weitere Jahre hat. Um den Erben entgegenzukommen, wäre er allerdings bereit, von diesem Vertrag zu einem früheren Zeitpunkt, und zwar innerhalb der nächsten zwölf Monate, zurücktreten, wenn die Erbengemeinschaft ihrerseits dann nicht auf der Mietzahlung bis zum Vertragsende besteht.

Er erhielt einen umgehenden Bescheid der Zustimmung zu einer gegenseitigen Vertragsauflösung zu einem Bernhard genehmen Zeitpunkt innerhalb der nächsten zwölf Monate. Darauf erklärte Bernhard, er müsse für drei oder vier Wochen nach Deutschland, weil er dort einige Sachen zu regeln hat. Wahrscheinlich käme er schon früher zurück. Muu brachte ihn zum Flughafen und sie trennten sich mit dem Gefühl einer kurzen Urlaubsreise.

Bernhard war auch frohgemut in Deutschland eingetroffen, aber er fühlte sich dort gar nicht mehr wohl. Es war alles streng und kalt. Er wollte bald auch nicht mehr in seinem Haus sein, das ihm nun wie ein Mausoleum vorkam. Hier hatte er mit seiner Frau gelebt, bis sie viel zu früh verstorben war. Sie hatten keine Kinder gehabt und bald nach dem Tod seiner Frau war ihm die Grabesstille des Hauses unangenehm gewesen. Er war daraufhin in ein Hotel gezogen, doch auch die steife, formelle und lebensfremde Bedienung, um die man sich dort bemühte, störte ihn nun. Er wollte Leben um sich herum haben. Nein, nicht Betrieb suchte er, nur ein freundliches, nettes Wesen, ja, so etwas wie Muu.

Die hingegen fühlte sich wohl, bis sie vom Flughafen kam und das Haus betrat. Es erschien ihr jetzt öde. Aber das machte zunächst nichts, denn sie hatte ja zu tun. Erst einmal räumte sie auf und putzte, dann setzte sie sich an ihren Tisch. Doch es dauerte nicht lange, bis es sie enorm störte, dass der andere Tisch leer war. Sie versuchte, ernsthaft zu lernen, merkte aber, dass sie nicht die Hälfte von dem schaffte, was sie sonst getan hatte, obwohl sie nun viel mehr Zeit hatte. Sie ging jetzt viel spazieren, wobei sie sich den Anschein einer eiligen Fussgängerin gab, um nicht angesprochen zu werden. Schliesslich fuhr sie wieder für einige Tage nach Surin, um Monea und ihr Kind zu besuchen.

Nach der Rückkehr ging sie öfter ins Kino und wartete darauf, dass Eberhard wiederkam. Jetzt, wo er nicht da war, merkte sie, wie er ihr fehlte. Nein, das war keine Liebe, vielmehr merkte sie erst jetzt, dass sie doch noch einen Vater gefunden hatte. Dieser alte Farang hatte sich tatsächlich um sie viel mehr gekümmert, als sie es von den richtigen Vätern ihrer Freundinnen gehört hatte. Erst jetzt begriff sie auch langsam, dass viele Arbeiten, die er sie hatte für sich machen lassen, auch die Wiedererzählungen und Kurzfassungen von Büchern, etwas gewesen war, das er für sie getan hatte, um ihre Auffassung und ihr Denken zu trainieren und nicht, weil er so gerne Romane erzählt bekam. Sie half sich damit, dass sie sich nun hinsetzte und drei grosse Kissen für Eberhard stickte. Das hielt sie mit ihm zumindes in einer gedanklichen Verbindung.

Eberhard hatte seinen Deutschlandaufenthalt gekürzt und kam schon nach gut zwei Wochen wieder. Die Begrüssung war fast zärtlich zu nennen. Beide hatten in dieser Zeit erfahren, wie wichtig sie füreinander waren, obwohl diese Beziehung überhaupt nichts mit Sexualität zu tun hatte. Es war eigentlich nur die Nähe einer geschätzten Person, nein, nicht einer brauchbaren Person, sondern einer Person, der man Achtung entgegenbrachte, die allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte, ein Phänomen, das wohl in allen Gesellschaftsformen sehr selten zu sein scheint.

Eberhard hatte sich überlegt, dass es besser sei, ein kleines Haus in Bangkok, möglichst in der Nähe einer Universität, zu kaufen. Dort hätte er die besten Möglichkeiten für seine Studien, erklärte er Muu und dann drängte er sie, sich jetzt voll auf ihre Abschlussprüfungen vorzubereiten und sich alle Mühe für einen guten Abschluss zu geben, damit sie sich die Universität aussuchen konnte, an der sie studieren will. Damit vergingen die nächsten Monate, während derer dieses seltsame Paar fast wie Einsiedler lebte und nur ganz selten einmal ausging, meist nur zum Einkaufen und nur selten einmal in ein gutes Restaurant.

Wieder kam die Zeit der Nervosität, aber auch diesmal schaffte Muu die Prüfung hervorragend und sie erhielt einen Studienplatz an der Universität Thammasat. Das war für Eberhard das Zeichen zum Umzug. Sie fanden ein Haus in der Nähe der Universität, das zwar etwas zu gross war, aber kleine Häuser waren dort schwer zu finden und Eberhard störte sich nicht an dem Preis, den er für gut vertretbar hielt, weil der Wert ja nicht verloren ging, sondern ansteigen würde. Es störte ihn auch nicht, das Haus auf Muu eintragen zu lassen. Sie hatten jetzt schon ohne jeden Streit mehrere Jahre zusammengelebt und Eberhard war sich sicher, dass sich daran auch nichts ändern wird.

Muu begann ihr Studium und erst mit dessen Beginn fiel ihr ein, dass sie ja dann nicht mehr so viel zu Hause sein könnte, um Eberhard zu versorgen. Sie legte ihre Kurse so gut es ging, um mittags regelmässig zuhause zu sein und dann den Abend mit Eberhard zu verbringen. Nach dem ersten Jahr ergab sich eine Gelegenheit, dass Eberhard mit seinem Projekt zur Erforschung der Denkstrukturen thailändischer Schüler und Studenten beginnen konnte, was möglichst auch einer später vorzulegenden Arbeit von Muu zugute kommen sollte. Dieses Projekt war gross angelegt und würde voraussichtlich sehr lange dauern.

Einer der Vorteile bestand darin, dass Eberhard nun während der Abwesenheit von Muu seine Erhebungen mit jenen Studenten erarbeiten konnte, die Englisch sprachen. Die Arbeit wurde gründlich durchgeführt und zog sich über eine lange Zeit hin. Sie bot auch einen grossen Teil des Gesprächsstoffes an den Abenden, denn es handelte sich um Erhebungen, an denen sie beide Interesse hatten. Es war sehr interessant, von den Denkstrukturen her auf die Erziehung und die Schulbildung zu schliessen, die die Studenten erlitten hatten und umgekehrt von den Denkstrukturen her auf die Erziehung und die Bildung zu schliessen, die diese Studenten vermutlich später einmal vermitteln würden. Es war zwar ein ziemlich trauriges Thema, aber Bernhard konzentrierte sich dabei auf die erforderlichen Veränderungen und darauf, nach Möglichkeiten zu suchen, um verschiedene Denkstrukturen zu ändern.

Schliesslich konnte Muu tatsächlich einen erheblichen Teil zur Abschlussarbeit ihres Studiums verwenden. Es überraschte niemand ausser Muu, dass sie ihr Universitätsstudium mit grossem Erfolg und einer viel beachteten Diplomarbeit abschloss. Muu versuchte nun, eine Stelle im Rahmen der Jugendarbeit zu finden, was sich aber als schwierig erwies. Einer der Hinderungsgründe bestand allerdings darin, dass sie Eberhard dann den ganzen Tag alleine lassen musste, was sie als äusserst unfair empfand, weil sie ihr ganzes Studium und ihre Erfolge nur Eberhard zu verdanken hatte, der auf ihre Anwesenheit angewiesen war.

Sie sprach darüber mit Eberhard ganz offen. Sie erklärte ihm, dass sie in dem Konflikt steht, dass sie ihn auf keinen Fall alleine lassen will, sie fände es aber auch nicht gut, ihm weiter auf der Tasche zu liegen, nachdem sie selbst ihr eigenes Geld verdienen kann. Eberhard versuchte ganz vorsichtig herauszufinden, ob er ihr nicht vielleicht doch lästig wurde und sie lieber eine gute Arbeitsstelle suchte. Nachdem das offensichtlich nicht der Fall war und Muu auch nie Interesse gezeigt hatte, sich irgendwelchen Studentengruppen anzuschliessen oder irgendwelche Vergnügungen zu suchen, schlug er ihr vor, dass man an dem bisherigen Leben gar nichts ändern müsse. Es sei viel besser, wenn sie ein Doppelstudium habe und jetzt zusätzlich noch Jura studiere. Ein Studienplatz an der besten Universität Thailands sei ihr sicher und sie könne ja in derselben Zeit, in der sie Jura studiert, zuhause ihre Doktorabeit schreiben und damit die Krönung ihres ersten Studiums schaffen.

Muu war begeistert. So brauchte sie Eberhard nicht alleine zu lassen und war auch selbst nicht alleine. Sie erhielt sofort ihren Studienplatz in Rechtswissenschaften und erhielt ein Thema für ihre Doktorarbeit aufgrund ihrer hervorragenden Abschlussarbeit über Denkstrukturen, so dass sich die erarbeiteten Grundlagen weiterhin auch für die Doktorarbeit verwenden liessen. Muu begann ihr neues Studium enthusiastisch, hatte sie doch gehört, dass sie nach dessen Abschluss einen Regierungsposten erhalten kann, in dem sie etwas zu sagen und zu bestimmen hat, also Einfluss auf das gesellschaftliche Leben nehmen kann.

Während des Studiums bemerkte sie jedoch, wie trocken ein Jura-Studium ist und wie wenig es mit der Realität zu tun hat. Sie lernte, wie fragwürdig der Begriff der ,Gerechtigkeit‘ ist und verstand bald, warum die Spanier sagen, dass die Gesetze von den Reichen für die Reichen gemacht werden. Aber sie glaubte noch, dass sie ihre Erfahrungen und ihre Einsichten nach Abschluss ihres Studiums besser durchsetzen kann. Sie ahnte noch nicht, dass ihre juristischen Kenntnisse dann hauptsächlich dazu dienen sollten, Wege zu finden, die herrschenden Gesetze zu umgehen, um Vorgesetzten und Politikern Vorteile zu verschaffen.

Nun ist es nicht so, als wenn Muu niemals auf den Gedanken gekommen wäre, dass sie noch jung ist, vielleicht einen jungen Partner finden und einmal heiraten könnte. Aber sie war da sehr vorsichtig und zog sich bei der Annäherung vieler Männer sofort zurück. Nur wenn ihr einmal jemand besonders sympathisch erschien, dann war sie zu einem gemeinsamen Gespräch bereit. Aber es dauerte nie lange, bis sie das Gespräch so ganz nebenher auf Sozialfälle brachte, auf die Slumkinder, die Ziehkinder und auf die Prostituierten, die an den Bars arbeiten. Darauf konnte sie die Bekanntschaft dann schon bald abbrechen.

Den Trick hatte sie von Eberhard, aber er war überzeugend. Wenn jemand es liebte, auf Menschen herabzusehen und sie zu verurteilen, ohne sie verstehen zu wollen, so würde er sich auch Muu gegenüber so verhalten; er würde nicht versuchen, sie zu verstehen, sondern auf sie herabsehen. Wenn jemand über die Barmädchen urteilte, ohne zu wissen, warum diese Mädchen an einer Bar arbeiten und wie sie sind, so war es ein Mensch, der über Sachen redete, von denen er keine Ahnung hatte. Und wenn er Barmädchen oder Prostituierte generell ablehnte, war sicher, dass er auch sie ablehnen würde, wenn er einmal erfuhr, dass auch sie in einer Bar gearbeitet hatte. Sie würde mit einem Menschen leben, der nicht versuchte, sie als einzelnen Menschen zu verstehen, sondern es vorzog, Menschen nach Herkunft, Besitz oder Tägigkeit zu verallgemeinern und demnach zu beurteilen und zu verurteilen.

Ohnehin wurde sie von den meisten Männern nur nach ihrem Aussehen beurteilt. Die versuchten dann, mit ihrem Besitz, ihren Verbindungen oder ersatzweise mit ihrer Männlichkeit zu imponieren, um an ihr Ziel zu kommen. Doch das Ziel hatte wenig mit Verständnis und einem gemeinsamen Leben zu tun und es war abzusehen, dass es wegen unterschiedlicher Lebenseinstellungen viel Streit und wenig Gemeinsamkeit geben würde. Muu merkte allzudeutlich, dass die meisten ihrer männlichen Bekannten den Gehorsam und die Untertänigkeit der Frau forderten, was nicht gerade ein glückliches Leben versprach und so hatte sie zwar einige Bekanntschaften, aber darunter niemand, den sie als einen wirklichen Freund bezeichnen konnte.






Achtzehnter Teil:

Thawichai erschien eines Tages als eine Ausnahme. Er entstammte einer vornehmen thailändischen Familie, genauer gesagt, einer Familie, die es schon vor langer Zeit geschafft hatte, reich zu werden, was als aus-reichender Grund angesehen wurde, sie als vornehm zu bezeichnen. Als Thawichai seine Schule in Thailand abgeschlossen hatte, investierte die Familie auch genug Geld, um ihn zu einem Universitätsstudium in die USA zu schicken, wo er ein Studium der Wirtschaftswissenschaften mit einem ,Ph.D.‘, einem amerikanischen Doktortitel, abschliessen sollte.

Doch nach vier Semestern dieses Studiums entschloss Thawichai sich dazu, in Thailand Jura zu studieren. Der Familie war nämlich aufgefallen, dass es zur Erreichung eines gut dotierten und einflussreichen Beamtenpostens neben den unbedingt erforderlichen guten Beziehungen wichtiger sei, in Thailand Jura studiert zu haben, als ein wirtschaftswissenschaft-liches Fachwissen von einer ausländischen Universität vorzuweisen.

Muu begegnete ihm nach einer Vorlesung an der Uni, als er eine Bemerkung über den Vortragsstil des Dozenten machte und sie fragte, ob sie sich in ihrem ersten Universitätssemester nicht auch vorkomme, wie an der Schule. Muu teilte ihm mit, dass die Vorlesung für das dritte und vierte Semester gedacht sei, in dem sie sich auch befinde, dass seine Bemerkung aber ansonsten nicht ganz verkehrt sei. So kamen sie ins Gespräch und mit dem Gespräch kamen sie auf seine Einladung hin in ein Café, wo sie sich noch einige Zeit über Gesellschaftsprobleme und die Probleme des Hochschulstudiums in den USA und in Thailand unterhielten.

Nach einer längeren Unterhaltung vereinbarten sie, sich am nächsten Nachmittag wieder in demselben Café zu treffen, um die Unterhaltung fortzuführen. Er bot Muu an, sie mit seinem Auto nachhause zu bringen. Als sie dankend ablehnte und erklärte, dass sie in unmittelbarer Nähe wohnt und bequem zu Fuss gehen kann, meinte er, dass dies keine vornehme Wohngegend sei und die Studentenzimmer hier nicht viel taugten. Muu erwiderte ohne nähere Erklärungen, dass sie mit ihrer Unterkunft ganz zufrieden sei und verabschiedete sich.

Am nächsten Tag kam Thawichai mit zwei Kinokarten für einen amerikanischen sozialkritischen Film, der am Wochenende gezeigt werden sollte und lud sie für den gleichen Tag zum Essen ein. Muu fühlte sich etwas bedrängt. Nachdem es sich aber um einen sozialkritischen Film handelte und Thawichai auch schon die Kinokarten gekauft hatte, wollte sie ihn nicht verletzen und sagte schliesslich zu.

Der Film war wirklich interessant. Beim anschliessenden Essen zog Thawichaai es allerdings vor, nicht über den Inhalt zu diskutieren, stattdessen erzählte er lieber von seinen Erfahrungen während seines Studiums in den USA. Muu wollte nicht unhöflich sein, gab nach zwei Anläufen den Versuch, eine Diskussion über den Film zu beginnen, auf und hörte zu. Die etwas monotone Unterhaltung zeigte hauptsächlich, wo Thawichai in den USA sein Geld ausgegeben hatte, welche Leute er kennengelernt hatte und dauerte etwas länger. Sein Angebot, nach dem Essen eine Flasche Sekt zu trinken, lehnte Muu ab, wie auch seine Aufforderung, sie könne doch noch auf einen Kaffee mit zu ihm nachhause kommen. Als Thawichai dann verständnisvoll sagte, das mache nichts, sie könnten ja zusammen in ein Hotel gehen, stand Muu auf und ging.

Doch schon am nächsten Tag traf Thawichai sie in dem Café, das sie nachmittags besuchte, wo er offensichtlich auf sie gewartet hatte. Er entschuldigte sich für sein Verhalten am Vortag und erklärte, er hätte sich einfach von der positiven Stimmung treiben lassen und nur daran gedacht, die begonnene Unterhaltung fortzuführen. Er schwor, dass er dabei nie an etwas Anderes gedacht hatte, gar Böses im Schilde geführt oder gar sexuelle Absichten gehabt hätte. Es wäre ihm wirklich nur um die positive Stimmung gegangen und er würde sich freuen, wenn sie die begonnene Unterhaltung einmal fortführen könnten.

In den nächsten Wochen blieb es bei gelegentlichen Treffen im Café, wo Thawichai meist aus seiner Zeit in den USA erzählte und sich nur selten einmal über die thailändische Gesellschaft oder über das Universitätsstudium äusserte. Allerdings begann er auch vorsichtig mit einigen Fragen über Muus Familie. Er meinte, dass sie wohl aus einer wohlhabenden Familie stamme, weil sie sonst nicht studieren könnte, fügte aber hinzu, dass ihr Familienname in Bangkok nicht bekannt sei, so dass sie wohl aus einer anderen Gegend stammt. Muu bestätigte seine Vermutung und sagte, dass keine Mitglieder ihrer Familie in Bangkok leben.

Es dauerte einige Wochen, bis Thawichai es wieder wagte, sie zum Essen einzuladen, wobei er gleich versprach, dass er alte Fehler nicht wiederholen wollte. Das war nur teilweise wahr, denn nach dem Essen wollte er Muu unbedingt nach Hause bringen und begründete dies damit, dass er sich um sie sorgt und wissen muss, unter welchen Umständen sie lebt. Voller tiefer Sorge liess er nicht locker, bis Muu schmunzelnd einwilligte, dass er sie nachhause bringen kann.

Es war wohl eine herbe Enttäuschung, als er dabei auf Bernhard stiess. Er fragte Bernhard, woher er käme und hielt ihm dann einen Vortrag über die Deutschen und ihr eingeengtes Denken. Er äusserte sein Bedauern, dass Bernhard das wohl nicht verstehen würde, da er ein ungebildeter Farang ist, der nicht in der Lage ist, das thailändische Wesen zu verstehen, sondern nur nach Thailand gekommen sei, um sich dank seines vielen Geldes nur mit jungen Frauen zu vergnügen, wobei er bedeutsam auf Muu schaute. Als Muu leicht verärgert sagte, Bernhard sei Professor für Soziologie, winkte Thawichai ab und meinte, das ändere nichts an den Tatsachen und habe nichts zu bedeuten, da Bernhard ja nicht an einer richtigen Universität, nämlich einer thailändischen, studiert habe und dann als Farang kein Wissen vorweisen könne.

Bernhard liess das kalt. Er meinte, dass Thawichai einige thailändische Vorurteile und Denkschablonen mit einigen amerikanischen angereichert habe, ihn würde aber viel mehr interessieren, was Thawichai selbst denkt. Thawichai war beleidigt und ging mit dem Hinweis, er habe ja nicht wissen können, dass Muu die Geliebte eines Farang sei. Muu wechselte das Café und sah Thawichai in den nächsten Wochen nicht wieder. Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Studium.

So vergingen fast zwei Jahre mit viel Arbeit, bis Muu eines späten nachmittags von der Uni nachhause kam. Sie fand Eberhard an seinem Schreibtisch, aber er hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt, eine Pose, die sie nie an ihm gesehen hatte. Sie erinnerte sich, dass er ihr morgens gesagt hatte, er fühlte sich nicht wohl und ihm sei schwindlig. Als sie ihn nun fragte, ob es ihm nicht gut geht, antwortete er nicht. Sie wartete eine geraume Zeit und sprach ihn noch einmal an. Dann bemerkte sie, dass er nicht atmete. Bernhard war während seiner Arbeit an einem Herzschlag gestorben, mit einem lächelnden Gesicht.

Für Muu war dies ein schwerer Schock. Bernhard hatte über viele Jahre einen Grossteil ihres Lebens ausgemacht und ihr wurde schlagartig bewusst, dass sich nun alles ändern wird. Sie war zwar für längere Zeit finanziell unabhängig, aber in ihrem Leben fehlte jetzt etwas, das sich nicht ersetzen liess. Ihr emotioneller Halt, ihr Gefühl der Geborgenheit waren verlorengegangen, sie war jetzt allein.

Ernst kam zur Beerdigung und brachte einige Dokumente und Schreiben von Bernhard mit. Alle wissenschaftlichen Unterlagen in deutscher Sprache gingen an Ernst über, wie auch ein kleines Haus in Spanien. Das Haus in Bangkok, das ohnehin auf Muu’s Namen eingetragen war und ein nicht unerhebliches Bankkonto vermachte Bernhard seiner ,Tochter Muu‘. Er hatte das Konto beim Umzug nach Bangkok zusammen mit Muu als Gemeinschaftskonto eingerichtet und Muu war zeichnungsberechtigt, hatte nur bisher keine Unterlagen hierfür erhalten und war auch nicht über den Kontostand informiert. Sie war erstaunt über die hohe Summe, die sie nun erhielt, aber das Geld bedeutete ihr im Moment wenig, auch wenn es ein gutes Gefühl war, zu wissen, dass sie für den Rest ihres Lebens finanziell abgesichert war.

Ernst war klug genug, nicht zu versuchen, alte Zeiten wieder aufleben zu lassen; er berührte sie nicht und unternahm keinerlei Annäherungsversuche. Er hatte auch gesehen, dass Bernhards Tod Muu schwer zu schaffen machte. Sie musste ihn wirklich als Vater angesehen haben und nun an seinem Verlust leiden. Ernst fuhr schon bald wieder ab.

Muu war nun vermögend, doch es gab keine besonderen Ausgaben und keine Anschaffungen, es blieb alles unverändert. Aber sie schickte einen Brief mit Geld nach Surin; Monea sollte mit ihrer Schwester und dem Kind nach Bangkok kommen, es gäbe Arbeit. Muu konnte sicherlich eine Haushälterin brauchen. Und sie wollte ihr Kind bei sich haben und sich nun endlich auch selbst darum kümmern. Sie hatte Bernhard niemals erzählt, dass sie ein Kind hat. Er hatte sie stets als eine Tochter angesehen und wie eine Tochter behandelt, aber hätte er sie auch als eine Tochter akzeptiert, wenn ihm bekannt gewesen wäre, dass sie ein uneheliches Kind hat? Sie war sich dessen gar nicht sicher gewesen und hatte die Existenz dieser Tochter deshalb verschwiegen.

Monea kam erst einmal mit ihrer Schwester und Muu’s Kind zu Besuch nach Bangkok. Sie wollten sich mit Muu besprechen und ihre weiteren Schritte gemeinsam überlegen. Bald fuhren die Schwestern nach Surin, um ihren Haushalt aufzulösen und kamen zwei Wochen später mit einem Lieferwagen und ihrer gesamten Habe zurück, um sich nun bei Muu häuslich einzurichten. Monea übernahm Schreibarbeiten und Übersetzungen für Muu, während ihre Schwester die Haushaltsarbeiten übernahm, aber die Frauen lebten tatsächlich zusammen, sie halfen sich gegenseitig und alle drei kümmerten sich um das Kind.

Mit einem guten finanziellen Hintergrund und so viel Hilfe war es für Muu nun kein Problem mehr, ihr Zweitstudium zu Ende zu führen. Sie liess sich auch schon ein Thema für eine Doktorabeit geben, wollte diese aber nicht forcieren, sondern mit ausreichender Zeit neben ihrer Arbeit schreiben. Sie hatte sich um eine ausgeschriebene Stelle bei einem Amt beworben, dass sich mit Jugendarbeit befasste und hatte diese Stelle schliesslich wegen ihres Doppelstudiums erhalten.

Voller Enthusiasmus trat sie ihre neue Arbeit an, aber sie musste sich erst einarbeiten. Schnell lernte sie, dass sie hier ,die Neue‘ war und ihre Aufgabe darin bestand, Anweisungen zu folgen und den Mund zu halten. Ihre Vorgesetzten hatten von der Arbeit mit Jugendlichen zwar keine Ahnung, sie hatten dies auch nicht studiert, aber sie hatten sehr feste Ansichten über den Umgang mit Jugendlichen und den Umgang mit den für diese Tätigkeit zur Verfügung stehenden Finanzen. Muu’s Aufgabe bestand nun hauptsächlich darin, die Durchführung der hier herrschenden, schon recht veralteten Ansichten rechtlich abzusichern.

Als sie sagte, was ihrer Meinung nach getan werden musste, erklärte man ihr, dass sie viel zu jung ist, darüber zu reden, sie solle von ihren älteren und erfahrenen Vorgesetzten erst einmal lernen, wie die Arbeit in der Praxis durchgeführt wird, denn schliesslich blickt diese Tätigkeit auf eine lange Tradition zurück und auf der Universität lernt man doch nichts weiter als leeres Geschwätz. Ihr Aufgabe bestünde darin, Befehle durchzuführen, auch wenn sie von der wirklich erforderlichen Arbeit keine Ahnung habe. Auf den Umgang mit Jugendlichen hatte sie dabei keinen Einfluss. Muu sagte sich, dass es sich hier wohl um eine Zeit der Einarbeitung handelt und dass sie eben Geduld haben muss.






Neunzehnter Teil:

Auf dem Amt hatte es sich bald herumgesprochen, dass Muu nicht verheiratet war und so war es nicht verwunderlich, dass sich bald verschiedene Männer für sie interessierten. Als Muu aber bei Treffen mit den Mitarbeitern des Amtes von den Erfordernissen in der Jugendarbeit sprach, zogen sich viele ihrer neuen Kollegen bald zurück. Man gab ihr zu verstehen, dass dies keine Frauensache sei und dass man mit einer solchen Stelle im Amt die Möglichkeit wahrnehmen muss, für die Sicherheit des eigenen Lebens und den Erhalt einer solchen guten Stelle zu sorgen.

Dafür sei es zwar erforderlich, etwas zu tun, damit man in der Öffentlichkeit bemerkt wird und damit die Vorgesetzten dabei in das rechte Licht gesetzt werden. Dazu dienen die Versammlungen, die Bildung von Komitees und Einweihungen. Eine direkte Arbeit mit den Jugendlichen sei unpopulär, weil sie Kosten verursacht und die Jugendlichen selbst nicht für ein besseres Einkommen oder die so wichtigen Beziehungen für eine Verbesserung der Position sorgen können, aus sozial wertlosen Schichten kommen und dem Staat nur zur Last fallen.

Auf Muus Hinweise über das Aufgabengebiet und die Notwendigkeit der Arbeit winkte man ab und gab ihr zu verstehen, dass sie doch jetzt eine gute Position hat, die ein wichtiger Ausgangspunkt sei, einen wohlhabenden Mann zu finden und ihr zukünftiges Leben abzusichern. Sie kann damit Wohlstand und ein bequemes Leben erreichen, indem sie einen Mann heiratet, der genug Geld für das nötige Hauspersonal hat, damit sie nichts mehr zu tun braucht und vielleicht auch die unbequeme Stellung auf dem Amt bald aufgeben kann, um nur noch die Besitztümer ihres Mannes zu verwalten und das Hauspersonal zu überwachen, was viel angenehmer sei, als auf einem Amt herumzusitzen.

Muu war ernüchtert. Was war das für eine Welt, in der man glaubte, Jugendarbeit sei nicht für Frauen geeignet, sondern diente nur dem Wohlbefinden der Beamten, eine Welt, in der man glaubte, dass Frauen nur deshalb zweimal studieren, weil sie dann von einem reichen Mann geheiratet werden können? Ihr Enthusiasmus hatte einen argen Schock erlitten und es störte sie nun jeden Tag mehr, Arbeiten durchzuführen, die im Grunde gegen ihre eigentliche Aufgabe gerichtet waren und vor allen Dingen nicht mit ihrer Überzeugung zu vereinbaren waren. Sie versuchte nun, Leute zu finden, die ihre Überzeugungen teilten, bemerkte aber bald, dass sie damit bei den Männern auf ihrem Amt nur Argwohn und Widerwillen erregte, während die Frauen sich von ihr distanzierten, weil sie sich mit ihrer Rolle abgefunden hatten. Sie hatten sich in dieses System eingelebt, waren Mitläufer, die taten, was man von ihnen erwartete, um ein gutes Gehalt zu erhalten und sie fürchteten um ihre Sicherheit.

Muu nahm Verbindungen zu Frauen in anderen Positionen auf, Frauen, die ihre Überzeugung teilten und an Schulen, städtischen Amtern und bei Ministerien beschäftigt oder bei Hilfsorganisationen tätig waren. Dabei traf sie auf einige vernünftige Leute, die ihre Ansicht teilten, aber völlig hilflos waren und keinerlei Entscheidungsbefugnisse hatten. Die Mehrzahl suchte nur ein höheres Ansehen, eine höhere Position oder Geld. Hatte sie wirklich zweimal studiert, um nun die Arbeit einer Sekretärin zu verrichten und Briefe zu schreiben, damit ihr Amt und die Beamten mehr Geld und höhere Positionen erhalten und weniger Arbeit mit den Jugendlichen haben, die sie für wertlos halten?

Muu dachte an die Zeiten in der Bar zurück. Dort waren die Freundschaft und die Zusammenarbeit viel intensiver gewesen als auf dem Amt, wo jeder nur an seine Position und an mehr Geld dachte.

Muu wurde sich bewusst, dass sie ihre Stelle auf dem Amt erhalten hatte, damit man sagen konnte, dass dort studierte Fachkräfte tätig sind. Aber das Sagen haben Andere, Machtpolitiker und Geschäftsleute mit Beziehungen. Würde sie als Frau ohne den Hintergrund einer bekannten und finanzstarken Familie und ohne politische Beziehungen jemals eine führende Stelle einnehmen, auf der sie selbst zu bestimmen hatte? Mu zweifelte daran. Sie würde die Welt nicht verbessern, aber sie wollte auch nicht aufgeben, weil sie dann sicher nichts erreichen konnte.

Muu nahm sich vor, eine private Organisation zur Unterstützung von Jugendlichen zu gründen, vielleicht konnte man auch Ausländer dafür interessieren. Und sie würde es so machen, wie Bernhard, zuhause sitzen und schreiben. Dabei fiel ihr ein, dass sie vielleicht auch versuchen könnte, sich bei einer Hochschule als Dozentin zu bewerben. Dann könnte sie wenigsten ihr Wissen vermitteln und vielleicht damit eine kleine Änderung herbeiführen.





von Dr.G.M. Gad Labudda
 
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von Dr.G.M. Gad Labudda



Werner glaubte im Alter an sein Glück - drei mal neun Seiten - ('Victor Schluff' in 'Kein Frühling in Thailand')

- - Ein Reise nach Thailand, die zu Bekanntschaften und Heirat führt, zu einem späten Glück, das einen tragischen Verlauf nimmt. Eine Geschichte mit Ursachenforschung - -

Es war nur ein einziger Besuch im Land des Lächelns. Das erste Mal, seit seine Frau vor 12 Jahren verstorben war, hatte er eine Frau gefunden, die ihn sicher liebte, denn sie war zärtlich, tat für ihn alles und lächelte.

Werner hatte sein Leben als Lehrer verbracht und war schon lange im Ruhestand. Viel zu lange, fand er. Seine drei Kinder hatten das Haus schon lange verlassen und sich ziemlich gleichmäßig auf die Bundesrepublik verteilt. Der jüngste Sohn war ihm am nächsten, in 250 Kilometern Entfernung. Es war klar, daß er seine Kinder nur selten sah, denn die waren alle verheiratet und einfach zu weit weg, um schnell einmal vorbeizukommen. Nur ganz heimlich gestand Werner sich ein, daß sie wohl auch nicht viel Interesse daran haben würden. So schrieben sie denn Grußkarten zu den großen Feiertagen und zu besonderen Ereignissen. Seine Frau hatte sich darüber immer aufgeregt, aber auch das war jetzt schon zwölf Jahre her und seitdem war es um ihn sehr ruhig geworden, viel zu ruhig.

Früher hatte er sich auf diese Zeit gefreut, eine Zeit, von der er glaubte, in der Nähe seiner Frau, die auch Lehrerin gewesen war, zuhause im Lehnstuhl zu sitzen, Musik zu hören und Bücher zu lesen, sich vielleicht um die Enkel zu kümmern, die wohl zumindest einer seiner Söhne zuhause haben würde, denn sein Haus war groß genug, daß selbst drei Familien darin hätten leben können. Doch nun war alles anders gekommen. Das Haus war dasselbe geblieben, aber nun waren die meisten Zimmer verschlossen, er wollte sie nicht mehr sehen, um nicht in Erinnerungen und Selbstmitleid zu versinken. Das Haus hatte seine Bedeutung verloren. Es war kein ,Zuhause‘ mehr.

So war er auf Urlaub nach Mallorca gefahren, das ,fest in deutscher Hand‘ war und einem riesigen Rummelplatz glich. Doch er war dort wie in einer gläsernen Glocke durch den Rummel gegangen und hatte nichts weiter, als nur den störenden Lärm erlebt. Dann war er in den Schwarzwald gefahren, aber das war ihm wieder zu ruhig, richtig etwas für alte Leute – ,ja, das war es wohl‘, dachte er sich, ,richtig für alte Leute, aber nicht für einen einzelnen alten Mann‘. Als er merkte, daß er eine ganz neue Liebe zur Natur und zum Selbstmitleid sorgsam zu pflegen begann, fuhr er wieder nachhause.

Die Lektüre wahllos gegriffener Reiseprospekte führte dazu, daß Werner nach Indonesien fahren wollte, er wurde jedoch unsicher, nachdem er die Nachrichten gehört hatte, in denen man von Unruhen sprach. Also ließ er den Plan wieder fallen, wodurch seine Langeweile aber nur noch länger wurde. Diese Ruhe war ja nicht zum Aushalten, fand er. Als dann aber direkt hinter seinem ,Häuschen‘ der Bau eines großen Geschäftshauses begann, war der Lärm einfach nicht mehr zum Aushalten, zumal er auch überhaupt nicht sehen konnte, was dort geschah.

Werner ging wieder zu seinem Reisebüro, erzählte, daß er eigentlich nach Indonesien gewollt, aber von Unruhen gehört hätte und nun nicht wüßte, ob er dorthin fahren sollte. Der neue Mann im Reisebüro war offensichtlich gut ausgebildet, denn er fragte sofort, was denn Werners Frau gesagt hätte. Als Werner sagte, seine Frau sei schon vor zwölf Jahren verstorben, bedauerte der Reiseberater mit todernstem Gesicht und verzog auch keine Miene, als er Werner vorschlug: „Ja, dann fahren Sie doch einmal nach Thailand, daß ist ja in der Nähe, Indonesien sehr ähnlich und Sie brauchen dort nicht mit Unruhen zu rechnen.

Werner überlegte, was er von Thailand gehört hatte und sagte nach einer Weile: „Das soll aber doch so verrufen sein“, worauf der Reiseberater mit leichtem Lächeln antwortete: „Wir haben aber noch von keinem unserer Kunden gehört, daß er dort angefallen oder vergewaltigt worden wäre.“ Werner mußte lachen. Der Mann hatte im Grunde Recht, denn es lag ja an ihm, was er machte. Den heimlichen Gedanken ,und warum eigentlich nicht?‘ unterdrückte er anstandshalber und bat den Berater, ihm dann ein ruhiges Plätzchen in Thailand zu empfehlen. Wieder verzog dieser keine Miene, als er meinte: „Ich würde Ihnen Pattaya empfehlen, das liegt direkt am Meer und dort kommen Sie auch mit Deutsch und Englisch zurecht.“

Zwar hatte Werner schon einmal etwas von Pattaya gehört, aber wenn der Berater ihm das empfahl, so könnte er es ja zumindest versuchen. Um sicher zu sein, buchte er den Flug mit offener Rückreise und ließ sich ein Hotel empfehlen, das er aber nur für eine Woche buchte, um dort notfalls ein anderes Hotel oder einen anderen Urlaubsort zu suchen, falls ihn etwas stören sollte. In der einen Woche bis zu seiner Abreise versuchte Werner, sich über Thailand und über Pattaya zu informieren, fand aber nur einen kleinen Reiseführer, in dem über Pattaya nicht viel mehr stand, als daß es ein internationales Urlaubsressort an der Ostküste des Landes sei. Werner wollte auch keinen großen Reiseführer bestellen, denn die Grundinformationen über Thailand reichten ihm und Pattaya würde er ja selbst bald sehen.

Es war ein Non Stop-Flug, der Werner ohne besondere Zwischenfälle nach Bangkok brachte, wo er mit leichtem Gepäck nach der Paßkontrolle das Flughafengebäude verließ – und vor eine Wand dickflüssiger, heißer Luft prallte, die ihm das Atmen schwer machte. Doch noch bevor er seinen Schock überwunden und eine erste Orientierung vorgenommen hatte, stand schon ein Mann vor ihm: „Taxi, sir, where you go, sir?“

Für ,nur‘ 1.800 Baht kam Werner im klimatisierten Taxi nach Pattaya und fand die Landschaft so interessant, daß er noch während der ersten Kilometer einschlief und vor seinem Hotel in Pattaya von dem Fahrer geweckt werden mußte. Es war ein Luxushotel und Werner hatte zunächst den Eindruck, als sei er der einzige Gast. Zwei Pagen kümmerten sich um sein Gepäck, während eine züchtig bekleidete Anstandsdame ihn streng an mehreren hübsch aussehenden Mädchen vorbei zum Empfangstresen führte, wo er bereits gefragt wurde, ob er Mr. Werner sei, während ein besonders hübsches Mädchen ihm lächelnd einen Willkommens-Aperitif auf Einladung des Hauses brachte.

Als die wenigen Formalitäten erledigt waren, brachten ihn Anstandsdame, Liftboy und Page mit Gepäck auf sein Zimmer, schalteten die Klimaanlage auf Tiefkühlkost und ließen ihn nach Erhalt des Trinkgeldes, einem Wai und einigen Verbeugungen allein. Werner genoß der Reihenfolge nach den schönen Ausblick aus dem vierten Stock, die Dusche und das Bett. Als er wach wurde, meinte er, es müßte tief in der Nacht sein, denn es war draußen bereits dunkel. Ein Blick auf seine Uhr belehrte ihn, daß es erst kurz nach 18 Uhr war und daß es in diesen Breitengraden früher dunkel wurde, als in Europa. Eine Dusche, diesmal heiß, weil ihm eiskalt war, machte ihn fit für seinen Abendausgang.

Da sein Hotel ziemlich im Zentrum lag, schlenderte Werner die Straße entlang und fand auch bald ein gut aussehendes Restaurant, das ihn sogar mit einer Speisekarte beglückte, in der auch Deutsch enthalten war. Auf der Suche nach dem Restaurant hatte er auch schon einige dieser berüchtigten Bars gesehen, wo Mädchen und Frauen waren, die sich mit unanständigen Absichten auf Ausländer stürzen sollten. Als Werner sich näherte, stürzten sie tatsächlich, aber sie vergewaltigten ihn nicht, sondern riefen nur: „Hello, handsome man“, „Please, sit down“. Trotzdem fühlte er sich wie verhaftet, als zwei Miniladies ihn am Arm an die Bar führten. Damit war ihre Aufgabe offensichtlich beendet und sie drehten sich wieder um. Aber nun stürzten sich die Ladies auf ihn, die hinter der Theke waren: „What you drink?“, „Where you come from?“, „Where your hotel?“, „Where your wife?“, „How long you stay?“, „Have you children?“.

Schon als er den Namen seines Hotels nannte und erklärte, daß er alleine hier sei, entbrannte eine Lady ganz zufällig in heißer Liebe zu ihm und machte sich dabei an seinem Rücken zu schaffen, kämpfte sich um seine Seite, bis es ihr gelang, ihre Wertschätzung auch seinem Bauch zu erweisen, der allerdings eher schmächtig war. Nichtsdesdotrotz hauchte die Lady: „Pai duai – I go with you!“ Bei dieser Lady war er sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt schon sechzehn war. Er hatte zwar schon gehört, daß die Thailänderinnen oft viel jünger aussehen, als sie in Wirklichkeit sind, aber diese Lady kam ihm dennoch wie ein kleines Kind vor und er meinte, daß er da mit seinen 66 Jahren sicherlich am falschen Platz war. Aber auch die anderen Mädchen sahen hier alle sehr jung aus. So sagte er, daß er heute erst angekommen und müde ist, bezahlte auch bald und suchte eine andere Bar.

Bald fand er eine Bar, in der auch hübsche Mädchen waren, die nicht ganz so klein und mit Sicherheit schon über zwanzig Jahre alt waren. Er unterhielt sich mit den Mädchen eine Weile, ging auch noch in zwei weitere Bars, um sich einen kleinen Überblick zu verschaffen, befand dann aber nach dem fünften Orangensaft, daß er wirklich müde sei und ganz bestimmt keinen Orangensaft mehr trinken wollte und machte sich auf den Weg nachhause. Werner war auch schon nicht mehr weit weg von seinem Hotel entfernt, als er an einer Bar vorbei kam, an der ein hübsches, schlankes und hochgewachsenes Mädchen stand und ihn halblaut aufforderte: „Please, sir, have a seat.“ Es war nicht das bessere Englisch, was ihn reizte, sondern vielmehr die weichere Stimme, und daß das Mädchen relativ groß war. Er hatte das Geschrei der kleinen Kinder gar nicht anreizend gefunden und so ließ er sich jetzt gerne überreden, etwas zu trinken. Da er wirklich keinen Orangensaft mehr mochte, nahm er einen Martini und bot auch seiner Lady gleich von sich aus einen Drink an. Sie hieß Goi und verhielt sich sehr dezent.

Auch in seinem Hotel, wo sie vier Martini und eine Stunde später landeten, war sie sehr dezent, erschien nach der Dusche als Handtuch verkleidet und bestand darauf, daß das Licht gelöscht werden müßte. Das war Werner zwar nicht ganz recht, doch er schien nur die Auswahl zu haben, entweder eine beleuchtete Lady mit Handtuch oder eine Lady im Dunkeln ohne Handtuch genießen zu können. Er zog Letzteres vor und sollte es auch nicht bereuen. Goi bereitete ihm alle Freuden und war eher etwas zu wild dabei. Als er sich in seine Kissen zurücklehnte und noch etwas schnaufte, kam Goi auch schon wieder in ihr Handtuch gewickelt aus dem Badezimmer zurück. Es dauerte gar nicht lange, bis Werner eingeschlafen war – und es dauerte gar nicht lange, bis Werner wieder wach war. Zwar entsann er sich, daß man ihn nie leicht wachbekommen hatte, aber man hatte es früher auch nicht mit Faustschlägen und Schwingern versucht. Während er noch verblüfft auf Goi schaute, erhielt er einen Tritt und stellte voller Bestürzung fest, daß er es hier offensichtlich mit einer Spezialistin im Thai-Boxen zu tun hatte, die ihre Schlafenszeit zum Training benutzte. Während der ganzen Nacht schlug und trat Goi um sich und so war es wirklich kein Wunder, daß Werner am nächsten Morgen recht zerschlagen war.

Als er Goi darauf ansprach, meinte sie traurig: „I know. When I sleep, next day I have no man. And when I have no man I cannot sleep.“ Sie hatten beide etwas Mitleid miteinander, als sie gemeinsam frühstücken gingen. Werner stellte fest, daß der Umgang mit Goi am Tage sehr angenehm war, aber er war ja schließlich nicht als Punching-Ball nach Thailand gekommen. Nach dem Mittagessen gab er Goi eine reichlich bemessene Summe und die Trennung geschah problemlos.

Nach dem Mittagessen holte er allen Schlaf nach, den er diese Nacht versäumt hatte. Als er dann wie am Vortage wach wurde, sich duschte und angezogen hatte, bemerkte er, daß heute wirklich schon Mitternacht vorbei war. Er hatte zehn Stunden an einem Stück geschlafen und meinte, daß nicht nur seine Lady, sondern auch die Klimaumstellung etwas damit zu tun hatte. Erstaunlicherweise war er nicht hungrig.

Da Werner aber auch nicht müde war, verließ er dennoch das Hotel, denn er hörte, daß draußen noch Musik gespielt wurde, also würde es auch noch offene Bars geben. Schon nach fünfzig Metern fand er eine Bar, die ihm geeignet schien und er war erstaunt, wie schnell dort seine Zeit vergangen war. Als er schließlich nach einigen Gläsern Orangensaft und einigen Martinis in sein Hotel ging, sah er bereits das erste Schimmern des neuen Tages. Er war zufrieden, heute allein schlafen zu können und wachte auch gerade noch rechtzeitig zum Frühstück auf.

Als Werner kurz nach zehn Uhr in den Frühstücksraum kam, schritt eine schlanke, elegante Schönheit auf ihn zu. Werner wollte schon bei ihr sein Frühstück bestellen, als sie ihn anlächelte und fragte, ob sie sich zu ihm setzen könne. Werner war etwas erstaunt, denn in dem großen Frühstücksraum waren nur zwei Gäste und fast alle Tische frei. Doch schon lächelte die Dame wieder und stellte sich vor. Sie hieße Thong, sie würde gerne mit Ausländern sprechen und da sie gesehen habe, daß er ein gebildeter Mann sei und alleine sitzt, hätte sie die Gelegenheit wahrgenommen, ihn anzusprechen, um sich mit ihm zu unterhalten. Wenn es ihn aber stören sollte, so würde sie selbstverständlich wieder gehen.

Thong machte auf Werner einen außerordentlichen Eindruck, außerdem glaubte er, daß Thong außer Englisch zu sprechen auch noch andere Fähigkeiten haben könnte und so lud er sie zum Frühstück ein. Sie nahm nur einen Kaffee, aber die Unterhaltung war rege und interessant. Sie unternahmen gemeinsam einen kleinen Spaziergang, bis Thong sich verabschiedete. Werner war froh, daß es ihm noch gelungen war, mit Thong ein Treffen zum Abendessen um 20 Uhr vereinbart zu haben.

Nach dem Mittagessen ging Werner in sein Hotel, wobei er unterwegs für die nötige Bettschwere noch ein Bier trank. Doch als er im Bett lag, wachte er fortwährend auf. Er mußte sich eingestehen, daß er nervös und unruhig war und befürchtete, seinen Termin um 20 Uhr mit Thong zu verschlafen. So stand er denn schon gegen 18 Uhr wieder auf, duschte und kleidete sich an. Er fragte sich, was ihn so nervös machte, daß er einem Treffen mit einem Mädchen entgegenzitterte, als wäre er ein Pennäler und mußte sich eingestehen, daß es wohl dasselbe Gefühl der Unwahrscheinlichkeit war, ja der ängstlichen Frage, ob solch ein Wesen mit ihm eine nähere Verbindung eingehen würde.

Nach einem Spaziergang, bei dem er mehr auf die langsamen Fortschritte seiner Uhr achtete, als auf seine Umgebung, erschien er fünf Minuten zu früh in dem vereinbarten Lokal und suchte sich einen Platz, von dem aus er den Eingang im Auge behalten konnte. Darauf konzentrierte er sich so sehr, daß er erschrak, als er nach seinen Wünschen gefragt wurde. Er bestellte ein Bier und sagte, er warte auf jemand und würde später essen. Und dann bestellte er noch ein Bier, als die erste halbe Stunde verstrichen war. Er glaubte schon nicht mehr daran, daß Thong kommen würde und war sehr enttäuscht. Er würde noch zehn Minuten warten, sich dann etwas zu essen bestellen und anschließend würde er in eine Bar gehen, ohne eigentlich rechte Lust zu haben, nach einer Frau zu suchen. Werner rief endlich nach der Bedienung und wieder erschrak er, als sie kam. Diesmal allerdings, weil zur selben Zeit die Tür aufging und die erwartete Thong erschien, allerdings in Begleitung einer kleinen, schmuddelig und nachlässig gekleideten, älteren Frau, deren verkniffenes Gesicht ihm mit einem stechenden Blick geradezu unangenehm auffiel.

Die beiden Frauen setzten sich zu ihm und Thong stellte die ältere Frau als ihre Mutter vor, was sie Werner aber nicht sympathischer machte. Da nun die Speisekarten gebracht wurden, versuchte Werner seinen Unmut durch einen intensiven Blick in die aufgeschlagene Mappe zu verstecken. Thong wartete, bis Werner bestellte und nahm einfachheitshalber dasselbe. Die kleine, dunkle Frau, die Thongs Mutter sein sollte, hatte schon als Erste bestellt. Nach einem raschen zweimaligen Durchblättern der Karte bestellte sie sich ein Gedeck für zwei Personen, indem sie mit ihrem Finger, dessen schwarzer Nagel hierfür gut geeignet schien, auf den höchsten Preis zeigte, den sie in der Karte hatte entdecken können. Als die Bedienung nach den Getränken fragte, war Werner sicher, daß sie nach einem Blick auf die Preise Champagner oder eine Flasche alten Weines bestellen würde, doch sie verzichtete auf die Karte und bestellte nur Wasser.

Das Essen war vorzüglich und hätte Werner auch sicherlich gut geschmeckt, wären da nicht zwei Gründe gewesen, die ihn daran hinderten. Einmal war das die ältere Frau, die das Gedeck für Zwei vor sich aufgebaut hatte und nun mit allen zehn Krallen eine mundgerechte Aufteilung vornahm, wobei sie jedes Stück mit den Fingern in eine Sauce tunkte, wie sie es auch mit den Beilagen und den Kartoffeln tat, um dann jedes Stück zur weiteren Verarbeitung in den Mund zu stecken und dort erfolglos zu versuchen, die Finger zu säubern, wonach sie unter Schlürfen und Schmatzen und leichter Mißbilligung ihr Diner fortsetzte. Werner empfand den Anblick nicht gerade als appetitanregend. Der zweite Grund bestand nicht darin, daß die von ihm langerwartete Thong ihm währenddessen jede Bewegung zur Einnahme des Diners abschaute und dann mit etwas weniger Erfolg nachahmte, sondern darin, daß sie ihm währenddessen das schlimmste Familiendrama erzählte, das man sich gerade eben noch vorstellen konnte.

Die Leidensgeschichten der entfernteren Verwandten dauerten nur zwanig Minuten und dann kam die engere Familie dran. Der Bruder wurde überfahren und sitzt jetzt hinter Gittern, die Schwester hat geheiratet, wurde vergewaltigt und ist seit zwei Jahren im Krankenhaus, der Vater war alt, rauchte zuviel, hatte ein schwaches Herz sowie als auch einen Motorradunfall und ist auch schon seit einem Jahr im Krankenhaus, die Mutter war viermal operiert worden, darunter offensichtlich leider nicht an den Fingernägeln und braucht teure Medikamente, weshalb alles Land an die Bank verpfändet wurde, die jetzt das Land und das Haus verkaufen will. Zu dem großen Unglück, das Thong selbst getroffen hat, gehört auch jenes, daß sie selbst in einem Hotel arbeitet, wo sie nicht genug verdient und nur zwei Wochen Urlaub hat, nach deren Ablauf sie wieder zurück muß, wenn sie diese seltene Stelle nicht in einer Zeit der großen Arbeitslosigkeit verlieren will.

Nach der Schilderung des Unglücks der Familie ging sie ohne Unterbrechung zu Werners Unglück über. Sie diagnostizierte, Werner sei alt und habe ein gutes Herz und nur deshalb sei sie bereit, die zwei Urlaubswochen, die sie habe, ausnahmsweise mit ihm zu verbringen, wozu sie allerdings wegen des großen Unglücks ihrer Familie dringend achtzigtausend Baht im Voraus braucht und wenn Werner die sofort zahlte, dann würde die Mutter auch sofort nachhause fahren und sie könnte sofort mit ihm auf sein Hotelzimmer gehen.

In Werner, der durch die vielen Unglücksfälle auf das Ende der Geschichte sorgfältig vorbereitet worden war, erwachte eine gewisse Boshaftigkeit, geboren aus der Enttäuschung, daß die ,feine Dame‘ nichts weiter war, als eine Prostituierte mit einer besonderen Masche, Ausländer auszunehmen. Er machte ein ganz ernstes Gesicht, als er sich von der Bedienung ein Stück Papier bringen ließ. Darauf kritzelte er besorgten Gesichtes einige Zahlen, um dann mit schüttelndem Kopf Thong tief in die Augen zu blicken, als er sagte: „Für achtzigtausend Baht kann ich meinen ganzen Urlaub lang jeden Tag mit acht Frauen ins Bett gehen, die nicht mit ihrer Mutter ankommen.“

Es erhob sich ein lautes Geschrei über die bösen reichen Ausländer, die die armen Thai ausnutzen, über deren bittere Not nur lachen und über Leichen gehen… Doch wie auf Bestellung kamen aus der Küche zwei Männer und Thong und die ,Mutter‘ standen schnell auf und packten alles ein, wobei letztere nicht vergaß, auch schnell noch das Gewürzkörbchen in ihre Tasche zu stecken, was Werner nur mit offenem Mund quittierte. Doch als sie zum Ausgang kam, stand dort bereits einer der Männer und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Tisch, worauf die ,Mutter‘ das Gewürzkörbchen schimpfend wieder zurückbrachte. Auf Werners Frage an den Mann: „How did you know…?“, antwortete der lächelnd, daß man sich kenne und daß die Damen nicht zum ersten Mal hier gewesen seien.

Nun wußte Werner nicht, ob er lachen oder weinen sollte, deshalb beschloß er zur weiteren Klärung erst einmal, eine Flasche Bier zu bestellen. Er wußte nicht recht, was er mit sich anfangen sollte und brauchte offensichtlich noch längere Zeit, seinen Schock zu verarbeiten. Er beschloß, dies in einigen Bars zu tun und dabei zur Feier des Tages auf seinen Orangensaft zu verzichten. Seinen Gedanken, jemand für sein Hotelzimmer zu suchen, verschob er zunächst auf später, bis er gegen fünf Uhr morgens entschied, daß seine Gedanken gegenüber seinen Empfindungen schon nicht mehr mehrheitsfähig waren und so ging er ins Hotel, wo er gerade noch rechtzeitig zum Mittagessen aufwachte.

Zwar schüttelte er während des Essens noch hin und wieder seinen Kopf, doch war er guter Stimmung und schon fast neugierig auf weitere Abenteuer. Ein Spaziergang am Strand entlang zeigte ihm ein weiteres Stück von Pattaya und verführte ihn zu einem weiteren Bier an der Beach Road, wo er Verkehr und Passanten beobachtete, ohne allzuviel Interesse an den kleinen Mädchen zu zeigen, die gerade in der Bar waren. Auf dem Rückweg wurde er zwar von einigen Mädchen angesprochen: „Hello, Papa, where you go?“, aber er konnte sich schon denken, daß dies freischaffende Künstlerinnen waren und mit denen wollte er nichts zu tun haben. Da war einmal der Verdacht, daß sie vielleicht nicht mehr in einer Bar arbeiteten, weil sie kein Gesundheitszeugnis vorlegen konnten, zum anderen der Gedanke, daß sie mit seiner Brieftasche verschwinden könnten und er könnte noch nicht einmal einen Namen angeben, während die Mädchen in einer Bar nicht nur in gewissen Abständen ein Gesundheitszeugnis, sondern auch alle eine Kopie ihrer ,Identity Card‘ abgeben müssen. So ging Werner ins Hotel, um sich noch etwas hinzulegen, bevor sein Abendausgang beginnen sollte. Dabei überlegte er sich, warum er hier eigentlich dauernd an Frauen dachte. Es war nicht einmal so sehr der Sex, den er suchte, obwohl er ihn auch nicht ablehnte. Doch nachdem er zwölf Jahre allein gelebt hatte und seit seiner Pensionierung nur noch allein gewesen war, suchte er eine Partnerin, irgend einen sympathischen Menschen, der um ihn herum war.

Als er wach wurde, war es bereits Zeit zum Abendessen, das er in einem kleinen, mittelprächtigen Restaurant einnahm. Es waren nur wenige Gäste da und die Bedienung nahm sich Zeit, sich etwas mit ihm zu unterhalten. Eine junge Frau von guter Statur, die ihn nicht nur perfekt bediente, sondern auch ganz gut Englisch sprach und gute Manieren hatte. Als sie ihm die Rechnung brachte, sprach er mit ihr noch etwas und erfuhr, daß sie Noi heißt und aus Korat kommt. Er gab ihr ein gutes Trinkgeld und verabschiedete sich. Am besten hatte ihm gefallen, daß sie ihm nicht angeboten hatte, für einige zigtausend Baht seine Begleiterin zu werden.

Als Werner eine passende Bar gefunden hatte, war er fast schon wieder fröhlich und verzichtete auf seinen Orangensaft. Entsprechend seiner Stimmung hatte er auch eine gute Unterhaltung mit den Mädchen, denen er als einziger Gast diente, die Langeweile zu vertreiben. Er blieb fast bis Mitternacht und ließ sich dann doch noch überreden, eine junge Frau mitzunehmen, das ihm bei der Unterhaltung sympathisch geworden war. Eigentlich hatte er ja nicht wollen, aber nun, na ja, halb zog sie ihn, halb schob er sie.

Im Hotel ging sie erst unter die Dusche und bald stellte er fest, daß das Handtuchritual zur hiesigen Tradition gehören mußte. Nein, das Licht mußte nicht gelöscht werden, dafür hatte er seine liebe Mühe, sie aus dem Handtuch auszuwickeln. Dabei bemerkte er, daß wohl die wie ausgedörrte Erde mit Furchen durchzogene geplatzte Bauchdecke die Ursache dafür sein mochte. Doch als er fragte, wieviele Kinder sie habe, erklärte sie fast empört, daß sie keine Kinder hat und erläuterte, daß sie als Kind sehr dick gewesen sei und daß sie daher die Hautrisse auf der Bauchdecke hat.


Werner konstatierte, daß es hier wohl auch zur Tradition gehöre, Ausländer für dumm zu halten. Es kostete ihn zwar viel Mühe, das Mädchen zu seiner sozialen Aktion zu erwärmen, doch hatte er nur wenig Erfolg. Ihre Aktivität erschöpfte sich darin, auf dem Rücken zu liegen und an die Decke zu starren. Werner war leicht verärgert, er drehte sich bald auf die Seite und schlief.

Als er morgens wach wurde und sich an die vergangene Nacht erinnerte, richtete er sich auf, um nachzusehen, was mit der Frau geschehen war. sie lag tatsächlich noch genauso da, wie in der Nacht, nur, daß sie inzwischen die Augen geschlossen hatte. Als Werner aufgestanden war und ihr das übliche Entgelt gab, protestierte sie nur schwach mit dem Hinweis, daß er doch noch länger hierbliebe und sie könnte doch die ganze Zeit, solange er in Pattaya bleibt… Als Werner darauf erwiderte, daß er schon alt sei und nicht jeden Tag mit einer Frau ins Bett gehen kann, nickte sie verständnisvoll und ging schließlich mit den Worten: „Next time I go with you“.

Werner frühstückte, fuhr anschließend nach Jomthien und legte sich an den Strand, denn dafür hatte er ja extra seinen Urlaub in einem Baderessort gebucht und seine Badehose mitgebracht. Er beobachtete die Wellen, einige Schiffe und einige wenige Badegäste, die um die Mittagszeit auftauchten. Nach zwei Flaschen Orangensaft fuhr er nach Pattaya und aß in dem kleinen Restaurant, wo er Noi getroffen hatte. Er wechselte wieder einige Worte mit ihr und bat sie um Auskunft darüber, wie er die nächsten Tage verbringen könnte und was es in Pattaya und Umgebung zu sehen gäbe. Sie gab sich Mühe und unterbreitete Werner eine Reihe unterschiedlicher Vorschläge.

So machte er an den nächsten Tagen einige Ausflüge zu den Märkten Pattayas und buchte bei verschiedenen Reisebüros Halbtages- und Tagestouren in die Umgebung, fuhr nach Chantaburi, nach Bang Saen, nach Bangkok und nach Chachoengsao. Er fand die Touren sehr interessant. Noch interessanter fand er allerdings das Abendessen, das er nun regelmäßig in dem kleinen Restaurant einnahm, in dem Noi arbeitete. Er berichtete ihr von seinen Fahrten und sie gab ihm weitere Anregungen. Anschließend ging er dann wieder in zwei oder drei Bars, um rechtzeitig genug in sein Hotel zu gehen, damit er am nächsten Tag ausgeruht auf die nächste Tour gehen konnte. Er dachte zwar einmal daran, ein Mädchen auf eine Tour mitzunehmen. Das aber meinte, daß es nach einer Tagestour ja nicht arbeiten kann, Werner also zweimal Auslöse und zweimal das Mädchen bezahlen müßte, und die Tour. Damit würde ihn also die Begleitung insgesamt runde 2.600 Baht kosten, was er für zu teuer befand, da er eigentlich kein großes Interesse an einem Mädchen hatte. Das lag daran, daß er zuviel an Noi dachte. So beschloß er, Noi zu einem Abendessen einzuladen, was sie für den kommenden Montag, ihren freien Tag, akzeptierte.

Werner wartete wieder einmal auf ein Mädchen, das er um 20 Uhr in einem Restaurant treffen wollte. Dank seiner früheren Erfahrungen wartete er mit sehr gemischten Gefühlen. Gewohnheitsgemäß war er etwas zu früh gekommen und hatte einen Platz mit guter Übersicht und freiem Blick zur Tür gewählt. Doch er brauchte nicht lange zu warten, bis Noi erschien und direkt auf seinen Tisch zukam. Sie war dezent und nicht zu elegant gekleidet, wählte ein bescheidenes Menu und nahm ein Glas Orangensaft. Was Werner an Noi neben ihrer Figur besonders gefiel, war ihr Gesicht, das nur hin und wieder leicht lächelte, dessen Ausdruck immer ihre Worte begleitete und nicht in einem konstanten Lächeln erstarrt war, wie er es schon öfter beobachtet hatte.

Nach einer kurzen Schilderung seiner letzten Ausflüge wurde das Gespräch etwas persönlicher und Werner erzählte auf Befragung auch seine abendlichen Erlebnisse in Pattaya, sagte, daß seine Frau vor zwölf Jahren verstorben sei und daß er eigentlich nach Pattaya gekommen sei, um seine Ruhe zu haben. Nachdem er aber das Leben in Pattaya gesehen habe, hätte er nicht widerstehen können, sich Gesellschaft zu suchen, ohne allerdings die Gesellschaft gefunden zu haben, die er sich eigentlich wünschte. Nach einem Gespräch über die Lebensmöglichkeiten in Thailand, bei dem Werner erwähnte, daß er vielleicht interessiert wäre, in Pattaya zu leben und dazu auch die nötigen finanziellen Mittel hat, begann Noi über ihr Leben zu erzählen. Sie war bei den Großeltern aufgewachsen und hatte ihre Mutter kaum gesehen. Über ihren Vater wußte sie gar nichts zu berichten, sie hatte über ihn nichts erfahren. Seine Erwähnung war bei den Großeltern nie positiv aufgenommen worden und Fragen wurden nie beantwortet.

Noi hatte nach sechs Jahre die Schule abgeschlossen und später im Haushalt gearbeitet, bis sie eine Haushaltsstelle bei einer Familie direkt in Korat bekam, die ein kleines Restaurant hatte, wo sie gelegentlich auch im Restaurant aushelfen mußte. Da man dort mit ihrer Arbeit zufrieden war, begann sie im Alter von 17 Jahren voll in dem Restaurant zu arbeiten, als eines der Mädchen heiratete und seine Arbeit kündigte. So hatte Noi die Gelegenheit genutzt, Kochen zu lernen und sich um das Geschäft zu kümmern. Sie hatte auch Gelegenheit gehabt, einige Kurse zu besuchen und hatte Schreibmaschine und Buchhaltung gelernt und dann einen Englischkursus begonnen, eigentlich mehr, weil sie die Abwechslung der Kurse liebte und nicht weil sie glaubte, daß Englisch wichtig sei, denn sie hatte bis dahin kaum einmal Ausländer gesehen. Doch da sie gern lernte, hatte sie auch im Englischkurs gute Fortschritte gemacht. Die Arbeit in dem kleinen Restaurant hatte ihr Spaß gemacht, bis die Eigentümer ein weiteres Familienmitglied einstellten und es häufig zu Streitereien kam.

Eines Tages kam eine kleine Gruppe thailändischer Geschäftsleute, die einen guten Vertragsabschluß feierten und über die niedrigen Preise und die gute Bedienung überrascht waren. Sie stellten Noi viele Fragen, wollten wissen, was sie in dem Restaurant alles mache und fragten auch nach ihrem Gehalt. Als sie sagte, sie bekäme 1.600 Baht im Monat, lachte einer der Männer und sagte, sie könne sofort bei ihm in seinem Restaurant in Pattaya anfangen und bekäme das Doppelte. Noi war etwas verwirrt, denn Pattaya hatte einen sehr schlechten Ruf, allerdings hatte sie schon gehört, daß viele Leute in Pattaya gutes Geld verdienen. Dann hatte sie aber auch gehört, daß die Mädchen in Pattaya mit Ausländern ins Bett gehen mußten. Andererseits war sie aber auch die ständigen Streitereien im Hause leid. Sie war sich auch nicht sicher, ob der Mann das Angebot ernst meinte, oder ob es ein Scherz war. Als Noi nach kurzer Überlegung sagte, daß sie nicht nach Pattaya geht, weil sie nicht mit Männern ins Bett gehen will, lachte der Mann, der ihr das Angebot gemacht hatte, wieder und erklärte ihr, wie das mit den Mädchen in den Restaurants wirklich abläuft.

Die Mädchen in den Bars gehen meistens dorthin, weil sie nichts anderes tun könnten und weil sie Geld verdienen wollten. Für die weitaus meisten wäre klar, daß sie versuchen würden, mit Ausländern ins Bett zu gehen, weil sie dabei gutes Geld verdienten. Je nach Saison und Schönheit des Mädchens bekämen sie zwischen 300 und 700 Baht, meistens 500. Viele der Mädchen gingen auch in eine Bar, weil sie sich erhofften, dort einen Versorger oder vielleicht sogar einen Ehemann zu finden, der sie versorgt und den sie dann vielleicht sogar noch beerben können. Bei den Restaurants aber wäre das anders. Die Inhaber wären gar nicht froh, wenn ein Mädchen mit einem Gast mitgeht. Andererseits haben sie Angst, ihre Kunden zu verlieren, wenn sie den Kunden sagen, daß ein Mädchen nicht mitgehen darf. So etwas können sich nur sehr gute, teure und bekannte Restaurants erlauben. Bei den Restaurants der unteren oder mittleren Klasse wäre es letztlich Angelegenheit der Mädchen, ob sie bei einem Angebot mitgehen oder nicht. Kein Mädchen suche deswegen Arbeit in einem Restaurant und die Angebote seien auch recht selten, aber wenn sie für einen Abend auf leichte Weise soviel Geld verdienen könnten, wie sie sonst in fast einer Woche verdienten, würden doch viele Mädchen zusagen und der Inhaber mache dann auch kaum Einwendungen. Wenn aber ein Mädchen da sei, das grundsätzlich mit keinem Mann mitgeht, dann könne er das auch entschuldigend und fröhlichen Herzens den Gästen sagen. Er erklärte, daß er gar nicht will, daß die Mädchen mit Männern mitgehen, weil er nur wenig Personal hat und keine Lust, um Mitternacht alleine zu arbeiten.

Noi war wankelmütig und ließ sich noch einmal die Arbeitszeit sagen und versichern, daß sie nicht mit Gästen mitgehen müßte. Der Mann sah seine Chance gekommen, gutes Personal anzuheuern und gab Noi 500 Baht. Er erklärte, die könne sie behalten, aber er würde ihr dieses Geld geben, damit sie Gelegenheit hat, einmal nach Pattaya zu fahren und sich sein Restaurant anzusehen, damit sie sich dann entscheiden kann. Dazu gab er ihr seine Visitenkarte und zeichnete ihr auf der Rückseite auf, wie sie sein Restaurant am leichtesten finden kann.

Der nächste Streit ließ nicht auf sich warten und als er hitzig und laut wurde, zog Noi ihre Schürze aus und ging. Schließlich war es erst kurz nach Monatsanfang und sie hatte ihr Gehalt gerade bekommen, würde also kaum etwas verlieren, wenn sie jetzt nach Pattaya geht. Ihr war zwar nicht ganz wohl bei der Sache, aber sie war jetzt 19 Jahre alt, hatte in dem kleinen Restaurant Erfahrung gesammelt und glaubte schon, daß sie mit ihrer Erfahrung in Pattaya Arbeit finden kann. Wenn nicht bei dem Mann, der ihr Arbeit angeboten hatte, dann sicher bei irgend einem anderen Restaurant.

Nun war Noi vier Jahre in Pattaya, aber sie war gar nicht zufrieden. Sicher, sie würde hier das Doppelte bekommen, aber das Leben in Pattaya war auch doppelt so teuer und sie hätte viel Arbeit und der Umgang mit den Farang sei manchmal sehr schwer. Und so brachte Noi nun eine Reihe von Klagen, die darauf hinwiesen, daß sie sehr unzufrieden war.

Auf Werners Frage, ob sie einen Freund habe oder verheiratet sei, erklärte sie, daß sie eine Zeitlang einen Freund gehabt habe und daß sie sich verlobt hatten und heiraten wollten, aber das habe sich zerschlagen. Noi klagte weiter über die Männer im Allgemeinen und ihren ehemaligen Verlobten im Besonderen und zeichnete schließlich insgesamt ein so miserables Bild von ihrem Leben, daß es Werner nicht mehr schwer fiel, ihr ein Angeobt zu machen. Er erklärte, daß er sich freuen würde, wenn Noi mit ihm leben würde und versicherte sofort, daß er sich in diesem Falle natürlich ein Haus in Thailand kaufen würde, daß sie viel Gelegenheit haben würde, etwas zu lernen und ließ sich’s nicht nehmen, ihr in allen schillernden Farben blumenreich auszumalen, welche Vorteile das für sie hätte. Werner bemühte sich auch, alle ihre Bedenken zu zerstreuen und als Noi ihm erklärte, daß sie wegen besonderer personeller und vertraglicher Umstände des Restaurants erst in etwa vier Monaten verlassen und zu ihm kommen könnte, oder sofort bei ihm einziehen müßte, entschied Werner sich freudig für das ,Sofort‘.

Als Werner später wieder in seinem Hotel war, mußte er sich eingestehen, daß er gar nicht sicher war, ob Noi nun die Bekanntschaft und das Gespräch mit ihm dahin gesteuert hatte, daß er ihr dieses Angebot machte, aber schließlich war ihm das gleichgültig, denn er wollte ja, daß sie mit ihm lebt. Etwas verwirrt und etwas unsicher räumte er nun sein Hotelzimmer auf, denn Noi wollte nur noch einige Sachen holen, um bei ihm einzuziehen und Werner überlegte sich etwas sorgenvoll, wie wohl die erste Nacht verlaufen würde. Ihm kam der Gedanke, daß seine Entscheidung vielleicht doch etwas überstürzt gekommen war, aber für eine Korrektur war es nun wohl zu spät und er müßte eben abwarten, was weiter geschieht.

Es dauerte auch gar nicht lange, bis Noi mit zwei großen Taschen ankam, noch einmal aufräumte und ihre Sachen einräumte. Danach gingen sie noch an die Hotelbar, wo Werner zur Vorbereitung auf die erste Nacht einige Martini’s konsumierte, während Noi nur Orangensaft nahm. Als sie wieder im Hotelzimmer waren, nahm Noi eine sehr abwartende Haltung ein, worauf Werner unter die Dusche ging. Erst anschließend ging Noi und sie schien ein sehr sauberer Mensch zu sein, da sie schier unendlich duschte. Anschließend kam sie in einem riesigen dunkelblauen Badelaken aus der Dusche und glich eher einer Muslim, die einkaufen ging, als einem Mädchen, das zu ihm ins Bett wollte. Sie löschte das Licht und erklärte, daß sie sich noch zu wenige kennen würden und daß es ihr zu schwer fiele, gleich am ersten Tag mit ihm gemeinsam zu schlafen und ließ sich auch durch Werners Hinweis, daß sie sich doch schon eine ganze Zeit kennen würden, nicht beeindrucken.

Noi schlief sehr tief und ruhig, ganz im Gegensatz zu Werner, der gar nicht schlief und das sehr unruhig tat, zumal ihr Badelaken verrutscht war und den weitaus größten Teil ihrer langen, schlanken Beine zeigte. Erst am dritten Tag, als Werner bereits begann, nervös zu werden, erschien Noi nach ihrer gewohnt langen Duschzeit nicht mehr als Muslim verkleidet, sondern in Reizwäsche, was Werner den Gedanken verfolgen ließ, daß sie vielleicht doch mehr sexuelle Erfahrung besaß, als er zunächst angenommen hatte. Nachdem er jedoch diese Nacht zu seiner äußersten Zufriedenheit verbrachte und den Rest tief und ruhig schlief, verfolgte er diesen Gedanken nicht weiter, um seine Zufriedenheit nicht weiter zu gefährden.

Nach einigen Exkursionen und einer ganzen Woche Glückseligkeit, die hauptsächlich darin bestand, daß Werner erzählte und Noi aufmerksam zuhörte, beschlossen sie, erst einmal ein Häuschen zu mieten, und sich wohnlich einzurichten, bevor Werner nach Deutschland fliegen, seinen Haushalt auflösen und dort alles regeln wollte, um baldmöglichst wieder nach Thailand zu kommen, wo er dann seinen Lebensabend, sprich seinen dritten Frühling, zu verleben gedachte. Das Anmieten eines Häuschens, die Renovierung und die Einrichtung brachten eine Zeit mit sich, in der beide voll beschäftigt waren. Noi beschwerte sich hierbei nur, daß Werner keine klaren Anweisungen gab, was getan werden mußte, sondern ihr die meisten Entscheidungen überließ, wo sie doch in ihrem Leben bisher kaum Entscheidungen zu fällen gehabt hatte. Andererseits gefiel es ihr, daß sie soviel Freiheit hatte und sie gab sich alle Mühe, die Einrichtung so zu gestalten, daß alle beide darin bequem und zufrieden leben konnten.

In ihrer Freizeit lernte Noi weiter Englisch und las Bücher über Europa und europäische Lebensweisen. Da Werner rustikale Möbel und landwirtschaftliche Dekoration bevorzugte, waren einige Fahrten in die Provinzen erforderlich, um die benötigten Sachen zu beschaffen. Werner war damit ganz zufrieden, denn immerhin hatte er dabei fast zwei Monate Zeit, um sich zu versichern, daß Noi nicht stehlen oder betrügen würde. Sie waren meistens zusammen und Noi bemühte sich, Werner das Leben so angenehm wie möglich zu machen, ohne selbst zu viele Forderungen oder Erwartungen zu haben. Erst viel später sollte Werner sich überlegen, daß diese Zeit wohl die beste war, die sie gemeinsam verbrachten, daß sie aber auch die Illusion aufbaute, daß sie ständig gemeinsam mit irgendetwas beschäftigt sein würden, was eben nur der Fall war, während sie das Haus dekorierten und einrichteten.

Er konzentrierte sich mehr darauf, aufzupassen, wieviel Geld Noi verbrauchte und ob sie möglicherweise für sich Kommissionen abzweigte, ob sie auch Preise verglich, um das vernünftigste Angebot auszusuchen. Erfreut bemerkte er, daß sie für sich keine finanziellen Forderungen stellte und auch kein Geld für ihre Familie forderte. Er kam insgesamt zu dem Eindruck, daß sie tatsächlich mit ihm leben wollte und nicht nur gekommen war, um Geld zu verdienen. Er ließ ihr dafür auch alle Freiheit und spornte sie an, etwas zu tun, was ihr Spaß machte und wunderte sich, daß sie darauf immer nur fragte, was sie denn tun sollte, was er denn wolle, was sie machen soll. Er aber meinte, das müsse sie selbst herausfinden und war es zufrieden, daß sie weiter Englisch lernte und Bücher über Deutschland und über das Leben in Deutschland las.

Dann eines Tages war es soweit, daß Werner abflog, um in Deutschland alles zu regeln, um bald wieder nach Thailand zu kommen, wo er seine Noi wohl heiraten würde, wie sie es gemeinsam besprochen hatten. Nach seinem Abflug waren sie beide sehr alleine.

Werner löste seinen Haushalt auf und suchte einen Käufer für das Haus, in dem er geboren worden war und sein ganzes Leben lang gelebt hatte. Es tat ihm weh, fast alle Sachen weggehen zu sehen, die sein Leben ausgemacht hatten. Andererseits dachte er an Thailand und vor allen Dingen an Noi. Solange er mit ihr zusammengewesen war, hatte ihm ja auch nichts gefehlt, woran er früher gehangen hatte und so dachte er jetzt mehr an Noi, als an seinen Besitz und beeilte sich mit dem Verkauf seiner Sachen, von denen er viele zu Spottpreisen abgab und viele verschenkte, um die Abwicklung schnell hinter sich zu bringen. Auch das Haus verkaufte er zu einem Spottpreis, weil die Käufer sich über den dahinter stattfindenden Neubau beschwerten und leicht herausbekamen, daß Werner es eilig hatte, was bekanntlich den Preis enorm drückt.

Noi saß inzwischen in Pattaya und wartete auf Werner. Ihr war todlangweilig, obwohl sie weiter Englisch lernte und die Bücher über Deutschland las. Aber man kann nicht den ganzen Tag allein sitzen und lernen und lesen. Sie hatte aber auch keine Freunde. Ihre Bekannten waren meist die Ausländer gewesen, die als Gäste ins Restaurant gekommen waren. So freundete Noi sich mit der Flasche Martini an, die Werner im Schrank hatte und stellte fest, daß sie sich schon viel wohler fühlte, als die angebrochene Flasche leer wurde und der Fernseher lief.

Am nächsten Tag wurde die zweite Flasche leer, die Werner in Reserve hatte, noch bevor der Abend nahte. Noi zog los, um Nachschub zu holen, da Werner ihr ja genug Geld dagelassen hatte. Als sie feststellte, daß Martini sehr teuer ist und Werner ja nicht unbedingt etwas von ihrem Vergnügen wissen mußte, Noi zudem auch sehr sparsam war, kaufte sie drei Flaschen Lao khao, jenen in Bierflaschen angebotenen billigen Reisschnaps, den man in den Dörfern trinkt. Das schien eine gute Entscheidung zu sein, denn die drei Flaschen reichten bis zum nächsten Tag, an dem sie wieder drei Flaschen holte. Da Noi bei diesem Konsum auch gut schlafen konnte, hatte sie keine Probleme mehr. Sie brauchte nur noch trinken, fernsehen, schlafen und hin und wieder etwas essen. Allerdings sammelte sich nun das schmutzige Geschirr proportional zur Anzahl der leeren Flaschen.

Als Werner seine Haushaltsauflösung und den Hausverkauf hinter sich und das Flugticket in der Tasche hatte, schrieb er Noi, daß er bald kommen würde und rechnete sich aus, daß er etwa einen Tag vor dem Brief ankommen müßte. Dies sollte eine Überraschung sein, allerdings auch mit dem Hintergedanken, daß es doch interessant wäre, zu erfahren, was Noi wohl macht, wenn sie sicher ist, daß er noch nicht kommt. Die Überraschung war perfekt. Als Werner gegen Mittag ankam, war die Tür geschlossen und das Fersehen lief mit voller Lautstärke. Als Werner die Tür öffnete, lag Noi im Morgenmantel inmitten einiger leerer Flaschen Lao khao auf dem Fußboden und schlief so fest, daß es Werner nicht möglich war, sie zu wecken.

Da sie alleine war, hatte Werner tiefes Mitleid mit Noi und sagte sich, daß sie vor lauter Einsamkeit und Sehnsucht nach ihm zum Flaschenkasten gegriffen hat, womit er ja auch nicht ganz Unrecht hatte. Er ging in die Küche, nur um festzustellen, daß nichts Eßbares im Hause war und begann dann den Abwasch der vergangenen zwei Wochen nachzuholen, weil er Schmutz und Unordnung nicht leiden konnte. Da Noi eine Stunde später immer noch schlief, ging er essen und einkaufen.

Als Werner zurückkam, räumte Noi gerade die leeren Flaschen weg und schien sehr verwirrt. Sie taumelte etwas, als sie ihn begrüßte und Werner spürte deutlich, daß es eine Mischung aus Freude, Scham und Trunkenheit war, was sie bewegte. Er nahm sie in den Arm, hatte Mitleid mit ihr und freute sich, daß sie ihn offensichtlich liebte, auch wenn dies daher zu rühren schien, daß sie ihn wirklich brauchte, aber es war für ihn, den alten Mann, ein großes Gefühl, daß es ihr um seine Person, um seine Anwesenheit ging, und nicht darum, daß sie einen Farang an der Hand hatte, den sie ausnehmen konnte. Er kam aber nicht auf den Gedanken, daß diese Liebe pure Hilflosigkeit war, die daher rührte, daß sie mit sich selbst nichts anfangen und nicht allein sein konnte.

Die nächsten Tage waren Tage der Wiedersehensfreude, die Werner erfolgreich gestaltete, um die Erinnerungen seines Lebens zu verdrängen, die er aus seiner Heimat mitgebracht hatte. Da er nun ununterbrochen mit Noi zusammen war, fiel es ihr leicht, keinen Alkohol zu trinken. Es störte sie auch nicht, daß er dauernd wie ein Gockel um sie herumtanzte, denn so erhielt sie ihre Aufmerksamkeit. Als er sie daran erinnerte, daß sie jeden Tag eine Stunde Englisch lernen wollte, tat sie es für ihn. Immerhin sagte er ihr, was sie tun sollte und sie empfand es als angenehm, daß er im selben Raum saß und mitgebrachte Zeitungen las.

Dann begann die Suche nach einem eigenen Haus. Noi bemühte sich sehr, ein preiswertes Häuschen für zwei Personen zu finden und brachte auch einige Anschriften. Aber Werner hatte eine deutschsprachige Immobilienfirma eingeschaltet und entschloß sich nach drei gemeinsamen Besichtigungen zu einem großen Haus mit zwei Stockwerken und einem eigenen Schwimmbad. Noi war erstaunt und konnte nicht verstehen, warum Werner ein Haus mit fünf Zimmern und einem großen Grundstück für zwei Personen kaufte. Als sie dann hörte, daß dieser Grundbesitz auf ihren Namen geschrieben werden sollte, bedeutete es ihr nicht viel. Sie dachte nicht an den Wert, sie wollte nur nicht allein sein. Als Werner ihr erklärte, daß er wahrscheinlich vor ihr sterben würde und daß sie dann wenigstens ein Haus hätte, in dem sie leben kann, sah sie dies zwar ein, aber es bedeutete ihr nicht viel. Es machte ihr Angst, an Werners Tod, an das Alleinsein zu denken. Sie war verwirrt, aber sie tröstete sich mit dem Bewußtsein, daß sie ja zusammen mit Werner in dieses Haus einzieht.

Die nächsten Wochen waren voller gemeinsamer Aktivitäten. Das Haus mußte neu gestrichen werden, sie suchten Tapeten für einige Räume aus, eine Einbauküche wurde bestellt, die Toiletten neu ausgestattet und ein Gärtner wurde beauftragt, das öde Grundstück zu grünem Leben zu erwecken, worin auch eine von Blumen und Büschen geschützte Sitzecke mit mehreren Bänken und Stühlen enthalten war, die direkt am Schwimmbad eingerichtet wurde. Dann holten sie die Sachen aus dem zuvor gemieteten Häuschen, aber es fehlten jetzt noch viele Möbel, um das Haus einzurichten und sie waren viel unterwegs, um Dekorationen zu suchen. Werner erklärte ihr viel über europäische Wohnkultur und Noi war mit allem, was Werner für schön hielt und haben wollte, einverstanden und es geschah nur selten einmal, daß Noi selbst etwas wollte, meist dann, wenn sie glaubte, damit Werners Geschmack getroffen zu haben.

Es war die schönste Zeit in Nois Leben und sie störte sich auch nicht an den seltsamen Blicken, die sie manchmal trafen, wenn sie mit Werner unterwegs war. Sie hatte früher gelernt, daß eine Frau dafür da war, dem Mann ein glückliches Leben zu bereiten, damit sie zusammen glücklich sein konnten und sie waren beide glücklich, auch wenn Werner für sie wie ein Vater war, oder vielleicht gerade deswegen. Wenn sie unterwegs gewesen waren, saßen sie später zum Abendbrot am Schwimmbad und unterhielten sich, sprachen über die Fortschritte der Einrichtung des Hauses und über einen kleinen Umbau, planten die Unternehmungen für den nächsten Tag und es gab viel Zeit, die sie gemeinsam verbrachten und viele Gemeinsamkeiten.



Dann kamen eines Tages eine Parabolantenne, ein Fernsehapparat und ein Computer, die in einem Raum im zweiten Stock aufgebaut wurden, während ein anderer Fernsehapparat unten im Wohnzimmer war. Werner erklärte, daß der Raum im zweiten Stock sein Arbeitszimmer sein würde. Das war der Tag, an dem Noi sehr ernst war. Sie konnte nicht verstehen, warum Werner ein eigenes Zimmer brauchte. Lebten sie denn nicht zusammen? Waren sie denn nicht glücklich gewesen, wenn sie beide in dem Wohnzimmer waren, auch wenn sie etwas Unterschiedliches getan hatten? Warum brauchte Werner nun ein Zimmer für sich? Störte sie ihn jetzt, daß er alleine sein wollte?

Doch in den nächsten Tagen wurde sie von diesen Gedanken abgelenkt, denn sie hatten ihre Heirat vorbereitet. Werner hatte ihr erklärt, daß sie dann jeden Monat Geld bekommen würde, wenn er einmal nicht mehr wäre. Sie wollte nicht, daß er darüber spricht, wollte daran nicht denken. Aber sie sah ein, daß die Heirat gut war, das würde ihr auch einen anderen Status geben. Während sie mit den Vorbereitungen der Hochzeit beschäftigt waren, vergaß Noi ihre Sorgen. Sie fühlte sich nur seltsam verlassen, als Werner aufschrieb, wen er alles einladen wollte und Noi nicht ein einziger Mensch einfiel, den sie hätte einladen können. Aber Werners Hinweis, daß seine Freunde alle mit einer Thai kämen und daß ja auch die thailändischen Nachbarn kommen würden, beruhigten sie etwas.

Die Hochzeit war hervorragend und es waren insgesamt doch über zwanzig Personen gekommen, nachdem Noi noch alle eingeladen hatte, die sie traf, von den Verkäuferinnen im Lebensmittelladen bis zum Briefträger. Alle waren von der Feier sehr angetan und es gab auch Alkohol in Fülle zu trinken. Auch für Noi und es blieben auch noch viele Flaschen Whisky und Brandy übrig, was vielleicht gar nicht so gut war. Der Kater am nächsten Tag war unvermeidlich, aber die Flurbereinigungsarbeiten vereinten wieder und am Abend saßen die Beiden wieder glücklich in ihrer Gartenecke.

Doch am nächsten Tag begann Werner sein Leben zu ,normalisieren‘, da man ja auch etwas tun muß, wie er Noi erklärte. Er wollte den Computer einrichten, erzählte er, und nach fünf Stunden hatte Noi begriffen, daß die Flitterwochen vorbei waren. Sie war in dieser Zeit vier oder fünf Mal zu Werner gegangen, um ihm Kaffee oder Früchte zu bringen, zu fragen, ob er nicht etwas essen wollte, aber er verhielt sich so, daß sie das Gefühl haben mußte, ihn zu stören. Es gab in ,Werners Zimmer’ auch keinen Platz, wo sie sich hätte hinsetzen können und Noi glaubte zu verstehen, daß das so beabsichtigt war, damit sie ihn dort nicht stört. So saß Noi denn alleine unten im Wohnzimmer, schaute aus dem Fenster, fühlte sich alleine und bekam Angst.

Werner war von nun an voll beschäftigt mit einem Zeitplan, nach dem er deutsche Nachrichtensendungen sah und ins Internet ging, um das Weltgeschehen zu verfolgen und sich über den Stand der Wissenschaften auf dem Laufenden zu halten, worüber er sich auch Notizen mit seinen eigenen Gedanken machte. Er führte auch ein Tagebuch und frönte seinem Hobby, dem Zeichnen und Malen. Das alles war für ihn sehr wichtig, denn er wußte, daß er in seinem Alter einen festen Tagesablauf brauchte und sich beschäftigen mußte. Noi saß demgegenüber mehrere Wochen im Wohnzimmer, weinte und war verzweifelt. Sie sehnte sich nach ihrem Leben im Restaurant, wo es bis nach Mitternacht meistens etwas zu tun gegeben hatte, selbst wenn kein Gast da war und alle Arbeit erledigt, konnte sie dort sitzen und auf einen Gast warten. Hier gab es nicht einmal irgend etwas, worauf sie warten konnte. Werner saß unerreichbar weit weg auf ,seinem Zimmer‘.

Noi trank die von der Hochzeit übriggebliebenen Flaschen aus und kaufte sich Lao khao. Dabei fand sie eines Tages Freunde. Bald traf man sich regelmäßig und verbrachte Nachmittage und Abende in der lauschigen Ecke am Schwimmbad. Manchmal brachten die Freunde auch Alkohol mit. Und manchmal Ya ba, die billige Ausgabe von Ecstasy. Es war immer schön. Noi fühlte sich dann nicht allein, und wenn sie Ecstasy genommen hatte, war sie auch gar nicht mehr traurig, daß Werner sie nicht mehr mochte, sondern mit seinem Computer auf seinem Zimmer sein wollte, obwohl sie alles getan hatte, ihn glücklich zu machen. Und Werner saß auf seinem Zimmer und war stolz darauf, daß er seiner Frau alle Freiheiten gab, daß sie alles tun und alles lernen konnte, was sie wollte, daß sie fast nichts für ihn tun mußte, daß sie ihr Leben frei gestalten konnte. Er hatte sie als voll ausgewachsene, freie Frau gesehen und genossen. Er hatte aber nie gemerkt, daß sie innerlich immer ein kleines Kind geblieben war, das sich nie zu der Selbstständigkeit entwickeln konnte, die Werner schon seit vielen Jahren hatte. Und Werner hatte sich nie vorzustellen versucht, wie schlimm es für ein kleines Mädchen ist, wenn man ihm sagt: „Wir lassen Dich jetzt immer alleine, Du bist nun ein ganz freier Mensch und kannst alles lernen und lesen, was Du willst. Du brauchst auch nichts mehr für uns zu tun.“

Werner sah, daß sie Freunde hatte, Menschen, die ihm nicht gefielen. Aber er meinte, das gehöre zu ihrer Selbständigkeit und sie müsse eben lernen, damit richtig umzugehen, er gab ihr sogar genug Geld, daß sie ihre neuen Freunde auch zum Essen und auch zum Trinken einladen konnte. Eigentlich wußte er, daß man einem Menschen, der selbständig werden will, auch immer die Gelegenheit geben muß, zu einem zu kommen, sei es mit Sorgen und Problemen, sei es, um nicht allein zu sein, aber dieses Wissen fiel ihm nicht ein, weil es wohl doch störend sein könnte. So hatte Noi keine Chance, Selbständigkeit zu lernen, bis sie Werner eines Tages sagte: „Der Arzt sagt, Du wirst Vater; ich bekomme ein Kind.“ Und Werner war überglücklich.

Werner konnte es kaum begreifen, daß er noch einmal Vater werden sollte. Er sah es nun als einen neuen Lebensinhalt an, noch einmal ein Kind großzuziehen, aber er war der Überzeugung, daß er mit dieser Lebensaufgabe erst beginnen kann, wenn das Kind erst einmal geboren war. Gleichzeitig hoffte er, daß Noi nun ihr Verhalten änderte, daß sie keine Gartenparties mehr mit ihren Freunden abhält, das Trinken und das Rauchen aufgibt und sich wieder mehr mit ihren Büchern und dem Lernen beschäftigt. Noi hatte zunächst gehofft, daß Werner jetzt, wo sie das Kind erwartete, wieder etwas mehr Interesse am Gemeinschaftsleben zeigen würde, aber er hielt sich weiterhin in ,seinem Zimmer‘ auf, saß an seinem Computer und zeichnete und wollte offensichtlich nicht gestört werden. So hatte sie das Gefühl, daß Werner vielleicht an dem Kind Interesse haben könnte, sicherlich aber hatte er kein Interesse an ihr, solange sie nicht mit ihm im Bett lag. Noi tröstete sich mit ihren Freunden und den Parties in der Gartenlaube. Zwar dachte sie hin und wieder daran, daß es vielleicht für das Kind nicht gut wäre, wenn sie trank und rauchte und auch noch Ya ba nahm. Aber schließlich war es das Kind eines alten Mannes, der an ihr keine Interesse hatte. Sie hatte also keinen Grund, sich allzuviele Sorgen wegen seines Kindes zu machen, wenn er sie mit diesem Kind alleine ließ.

So verstrich die Zeit, während Werner sich mit sich selbst und Noi sich mit ihren Freunden beschäftigte, deren Gruppe langsam anwuchs. Die Feiern wurden dementsprechend größer, aber Werner wollte sich hier nicht einmischen, weil er jeden Streit vermeiden wollte. Wohl merkte er an den späten Abenden, an denen sie einige Zeit gemeinsam verbrachten, daß Noi sich immer mehr veränderte, doch er führte das einfachheitshalber auf die Schwangerschaft zurück, die man Noi nun schon sehr deutlich ansehen konnte. Auf das Kind aber würde er noch einen knappen Monat warten müssen.

Eines frühen Abends wurde Werner gegen Einbruch der Dämmerung von einem harten Klopfen an der Tür seines Zimmers gestört. Er war sehr verwundert, Polizei in seinem Haus zu sehen. Noi erklärte ihm, daß einer der Besucher wohl am Schwimmbadrand ausgerutscht und mit dem Kopf auf die Steine geschlagen sein mußte. Nachbarn hatten die Polizei gerufen, weil sie im Schwimmbad einen halb im Wasser treibenden Körper gesehen hatten und sie hatten auch von den täglichen Gruppentreffen von jungen Leuten erzählt, die gar nicht so aussahen, wie man sich in Thailand anständige, junge Leute vorstellt.

Die Polizei war unvermutet gekommen und hatte die Gruppe überrascht. Die Polizisten hatten an der Haustür geklingelt und Noi hatte geöffnet, in der Annahme, daß es ein weiteres Mitglied der Gruppe sei. Auf die Mitteilung, daß im Schwimmbad ein Körper hänge, hatte sie den Polizisten auch keinen Widerstand entgegengesetzt, als diese durchs Haus auf den Garten und das Schwimmbad zu gingen. Die Polizisten sahen viele Flaschen, da Noi in den letzten zwei Tagen nichts weggeräumt hatte. Aber sie sahen auch einige Tabletten und einige Bekannte und forderten Verstärkung an. Vier Personen hatten stecknadelgroße Pupillen und bei ihnen wurden auch Drogen gefunden. Die anderen Partyteilnehmer hatten noch nichts genommen, da die Party erst begonnen hatte und sie hatten auch nichts bei sich. Aufgrund der vielen Flaschen nahm die Polizei an, sie hätten nur Alkohol getrunken. Dennoch mußten alle Partygäste mit der Polizei mitkommen, aber Noi kam bald wieder zurück, da sie hoch schwanger war, nachweislich keine Drogen genommen hatte und außerdem waren die Partygäste auch so nett gewesen, anzugeben, daß Noi von den Drogen gar nichts gewußt hätte.

Werner war wie betäubt und glaubte, dies wäre nun für Noi eine Lehre gewesen. Er kam nicht auf den Gedanken, daß es für ihn eine Lehre hätte sein müssen. Daß sie sich zunehmend ablehnend verhielt und kaum noch mit ihm sprach, führte er auf die Schwangerschaft zurück und auf einen Schock wegen der Drogenparty und des Toten im Schwimmbad. Werner glaubte, daß Noi von den Drogen nichts gewußt hatte. Nein, seine Noi würde so etwas nie tun, da war er ganz sicher.

Bald kam das Baby und Werner veranstaltete eine Feier, bei der Noi trotz aller Anteilnahme entfernter Bekannter nur gelangweilt anwesend war. Dann entschied Werner, daß der geborene Junge noch viel zu klein war, als daß er etwas mit ihm anfangen könnte und überließ die anfallende Arbeit Noi, da dies ja Arbeit der Mutter war und Noi ja auch sonst nichts zu tun hatte. Ganz entgegen seiner Erwartung änderte sich Noi mit der Geburt des Kindes überhaupt nicht und sie war auch gar nicht begeistert. Für Noi zeigte sich nur, daß sie nun einen Säugling und einen alten Mann zu versorgen hatte, der sich in ,seinem Zimmer‘ einigelte. Sie fühlte sich von Werner verlassen und verraten, da er sich weder um sie noch um das Kind kümmerte. Sie war jung und wollte noch etwas vom Leben haben. Sie begann Werner als ein Hindernis an ihrem Leben zu empfinden und wurde bald grantig, wenn sie ihn sah. Sie begann Geld aus seinen Taschen und bald auch aus seinem Portemonnaie zu holen, legte ihm gefälschte Rechnungen und Abrechnungen vor und suchte sich neue Freunde für neue Gartenparties.

Nois neue Partyfreunde merkten Nois ablehnendes Verhalten Werner gegenüber sehr deutlich. Waren die früheren Freunde Nois ruhig gewesen, wenn er kam und ihn gegrüßt hatten, so machten sich Nois Freunde nun über ihn nur lustig, was ihm sehr unangenehm war, zumal die Scherze auch immer gröber wurden und Noi sich darum nicht kümmerte. Werner wollte sich bei der Gruppe am liebsten überhaupt nicht mehr sehen lassen, doch das Erlebnis mit dem Toten im Schwimmbad und die ungläubigen Fragen der Polizisten danach, die ihm nicht glauben wollten, daß er sich nicht um seine Frau und seine Gäste kümmere, erweckten in ihm ein Gefühl der Verpflichtung. Besonders die Bemerkung eines Polizisten, daß er also noch nicht einmal aus dem Haus komme, wenn seine Frau mit Drogensüchtigen eine Party macht und im Schwimmbad ein Toter liegt, hatte ihn geschmerzt. So kam er denn doch alle paar Tage einmal mit einem sehr unwohlen Gefühl nach unten und er konnte auch das aufkommende Gefühl der Hilflosigkeit nicht mehr unterdrücken. Was sollte er denn machen, wenn er sah, daß man Drogen nimmt und wie sollte er das merken, wo er doch noch nicht einmal wußte, wie Drogen aussehen.

Als er eines Tages wieder einmal nach unten ging, faßte ihm einer der jungen Burschen zwischen die Beine und lachte. Was er denn mit seiner Frau machen wolle, fragte er, legte seinen Arm um Noi und sagte, es wäre besser, wenn er jetzt selbst mit Noi ins Bett geht. Als alle lachten, war Werner empört. Er wußte, daß sie den Alkohol von dem Geld gekauft hatten, das Noi ihm aus dem Portemonnaie gestohlen hatte, und dann saßen sie in seinem Haus und verhöhnten ihn noch. Werner regte sich auf und ein kurzes Gespräch führte zum Streit. Werner forderte die Partygäste auf, sein Haus zu verlassen. Doch nun kam Noi dazwischen. Sie sagte, das wären ihre Gäste, die sich um sie gekümmert haben, während er nur auf seinem Zimmer war. Sie sagte, das sei ihr Haus, in dem er nichts zu befehlen hat. Dann schickte sie ihn nach oben, auf ,sein Zimmer‘.

Werner brach innerlich zusammen. Er wußte, daß er nichts machen konnte, er wußte nun auch, welche Fehler er zu Anfang der Bekanntschaft gemacht hatte. Aber er wußte immer noch nicht, daß Noi nicht allein sein konnte, daß sie ihn brauchte, daß sie ihn ständig in ihrer Nähe brauchte. So konnte er auch nicht wissen, daß sein Entschluß, ihr möglichst nicht mehr zu begegnen, wahrscheinlich das Verkehrteste war, was er machen konnte. Werner redete sich ein, daß sie doch ein gemeinsames Kind hätten und daß er die Ehe retten müßte. Er dachte, daß Noi sich bestimmt wieder ändern würde, daß es eine Frage der Zeit wäre. Er meinte, er darf jetzt nicht aufgeben, er muß durchhalten, bis Noi wieder zur Besinnung kommt. So brauchte er nichts zu tun, nur zu warten.

Werner ließ sich kaum noch sehen. Er richtete sich jetzt auch zum Schlafen in ,seinem Zimmer‘ ein und hörte später auf dem Flur das Gelächter der Burschen. Er schlief nicht, er lag da und grübelte und überlegte, was er jetzt machen kann. Aber er dachte an seine Familie und an das Kind, das sein Sohn war, der jetzt schon krabbeln konnte, das Kind, um das er sich noch nicht gekümmert hatte, weil es ja noch zu klein war. Werner hielt sich jetzt von der Gruppe und von seiner Frau fern und wartete, daß sie zu sich kommen würde. Er war in seinem Zimmer und ging, bevor die Partyfreunde kommen würden, aus dem Haus. Er hatte Angst, den Burschen wieder zu begegnen und er hatte auch Angst, daß er für die Parties und vielleicht für die Drogen verantwortlich gemacht wird. Er ging essen und setzte sich in Bars, bis es weit nach Mitternacht war, spät genug, daß die Party zu Ende war, aber bald dauerten die Parties immer länger und er schlich sich auf sein Zimmer. Er wußte, daß er eigentlich nichts machen konnte und deshalb redete er auch mit niemand über seine Situation. Seine Bekannten, die er nun wieder hatte, glaubten zusehen zu können, wie er jeden Monat mehr verfiel. Aber Werner blieb auf seinem Zimmer. Vormittags konnte er manchmal seine Frau und sein Kind vom Fenster aus sehen. Am frühen Nachmittag ging er dann wieder aus dem Haus.

Die Rechnungen für Elektrizität und Wasser schob Noi ihm unter der Tür durch und bald folgten auch Rechnungen für Babykost und Nahrungsmittel. Werner ging dann in den Lebensmittelladen und bezahlte. Wenn es im Haus ruhig war, schaute er manchmal noch in die Räume und so bemerkte er bald, daß einige der Dekorationsgegenstände fehlten. Er konnte sich denken, daß man sie verkauft hatte, um an Geld zu kommen, oder an Drogen. Nachdem er einige Tage lang schon vormittags Stimmen und Bewegungen im Haus gehört und gewartet hatte, bis es ruhig war, daß er ohne Begegnungen das Haus verlassen konnte, bemerkte er eines Tages, daß im Wohnzimmer Matten und Matratzen lagen. Die Partygäste waren nun also scheinbar eingezogen und lebten in seinem Wohnzimmer. Er fragte sich, ob auch jemand in das Schlafzimmer eingezogen war und jetzt mit seiner Frau lebte.

Werner begann, Noi alle Schuld zuzuschieben, aber nach einigem Überlegen mußte er sich eingestehen, daß er es war, der sie kennenlernen wollte, daß er sie heiraten wollte und daß er das Haus auf ihren Namen schreiben ließ. Das Haus wurde immer voller und Werner verfiel immer mehr. Er trank auch immer mehr und brachte sich Flaschen mit nachhause. Er glaubte, daß das Leben leichter wäre, wenn er etwas getrunken hatte und trank nun schon am frühen Morgen, noch bevor er aus dem Fenster sah, um seine Frau und vor allen Dingen sein Kind zu sehen. Dann schlich er sich gegen Mittag aus dem Haus und ging essen, um von dort aus gleich in eine Bar in der Nähe zu gehen, wo er meist bis zum späten Abend blieb.

Dort wurde er eines Tages von Nachbarn gerufen, als die Dunkelheit gerade hereingebrochen war. „Dek, dek“, sagten sie, schienen sehr aufgeregt und winkten ihn mit sich. Werner ging voller Unruhe mit, doch er verstand nicht, was sie sagten. Als sie seinem Haus näher kamen, sah er mehrere Polizeiwagen und dachte an eine Drogenparty. Aber es war noch viel schlimmer. Die Drogenparty war außer Kontrolle geraten. Einige der Partyteilnehmer lagen im Gras, anderen wurden gerade die Handschellen angelegt. Dann hörte er, daß sein Kind durch das offene Haus auf die Straße gekrabbelt und im Halbdunkel von einem Auto überfahren worden war. Er fragte seine Frau Noi, als sie mit einer Mappe und in Handschellen aus dem Haus kam, warum sie sich nicht um das Kind gekümmert hatte, doch sie fragte offensichtlich ungerührt über desses Tod zurück: „Willst Du das wirklich wissen? Das hat Dich doch nie interessiert. Hast Du Dich jemals um das Kind gekümmert? Hast Du Dich denn um mich gekümmert?“ und verschwand im Polizeiwagen.

Alle Partyteilnehmer waren jetzt bei der Polizei. Einige Polizisten suchten noch im Haus nach versteckten Drogen, doch sie fanden nichts. Werner mußte mit zur Polizei, doch nur zur Befragung und ohne Handschellen. Die Nachbarn hatten schon gesagt, daß die Parties immer stattgefunden hatten, wenn er weg war. Werner konnte später wieder zurück in sein Haus, wo er jetzt alleine war. Am nächsten Tag wollte er Noi besuchen, doch sie wollte ihn nicht sehen. Werner war jetzt alles egal. Er schlief wieder im gemeinsamen Schlafzimmer, doch am Tage tat er jetzt nichts mehr. Er wollte auch nicht mehr ausgehen. Auch bei einem zweiten Besuch im Polizeigefängnis wollte Noi ihn nicht sehen. Die Polizisten sagten ihm, sie hätte über 200 Pillen Ya ba in der Tasche gehabt hat und sie hätte gestanden, daß sie damit gehandelt hat.

Zwei Wochen später kamen einige Thailänder mit einem Anwalt, die ihm ein Schriftstück zeigten und sagten, sie hätten das Haus gekauft und er sollte morgen ausziehen. Werner nahm einen Koffer und packte einige Kleidungsstücke ein, nur das Nötigste. Alles Andere ließ er stehen. Dann saß er lange vor dem Haus, von dem er geglaubt hatte, daß es sein Haus war und sein neues Leben, sein Glück bedeutete. Ihm war schwindlig und er wußte nicht, wohin er jetzt gehen sollte. Er hatte in Deutschland keine Freunde mehr und hier kannte er keinen Menschen außer einigen Touristen, mit denen er hin und wieder an der Bar gesprochen hatte. Sein Geld reichte auch nicht mehr aus, um eine neue Existenz zu gründen, sich ein Haus zu kaufen. Er hatte sich hier für einen Lebensabend eingerichtet und darauf vertraut, daß er hier von seiner Rente leben kann. Seine Existenz war vernichtet. Sein Kind war tot. Die Frau, die er geliebt hatte, saß nun für den größten Teil ihres Lebens hinter Gittern und sie wollte nichts mehr von ihm wissen, wollte ihn noch nicht einmal mehr in dieser Situation sehen, wo er doch für sie alles getan und alles gegeben hatte. Und dann hatte sie ihn ruiniert. Werner wußte nicht mehr weiter. Sollte er jetzt als Sozialfall nach Deutschland zurückgehen? Werner konnte sein Schicksal nicht fassen, er war wie im Schock und ihm wurde in der heißen Sonne wieder schwindlig.

Im Krankenhaus wurde er wieder wach. Er hatte einen kleinen Herzanfall gehabt, aber nichts Ernsthaftes. Aber das war kein Problem, sagte man ihm. Nein, dachte sich Werner, das war kein Problem. Das Problem war nur, daß er wieder wach geworden war.




von Dr.G.M. Gad Labudda
 
        #106  

Member

@kalli ich habe gerade meinen Akku vom Handy komplett leer gesaugt beim lesen hier.

Wo ist Kapitel 20, wie geht es mit Muu weiter?

Auch wenn die gesamte Geschichte sicherlich auf Fiktion aufgebaut ist findet man doch sehr viel Wahrheit in den einzelnen geschilderten Protagonisten.
Einige, wie auch ich selbst werden sich bestimmt wiedererkennen.

Ich bin gerade etwas Sprachlos.

Danke für das posten.
 
        #107  

Member

Diese kleinen Tragödien finden doch beinahe täglich statt.
 
        #108  

Member

Bisschen arg konstruiert, die Geschichte in #105, es gibt genügend realistische Dramen ....

Bilder und Videos sind nur für registrierte oder eingeloggte Mitglieder sichtbar. 
 
        #109  

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@Cavigliano natürlich ist das konstruiert.
Aber der Romantiker, Gutmensch oder was auch immer mag solche Geschichten.
Auch wenn es wenig mit dem wahren Leben zu tun hat.
 
        #110  

Member

Member hat gesagt:
@kalli Wo ist Kapitel 20, wie geht es mit Muu weiter?

::D: kelle

Muu sucht ihr eigenes Leben

- 19 mal 5 Seiten - von ‘Victor Schluff’ - in ‘Kein Frühling in Thailand’ -


Ich muß gestehen das ich diese Story noch nicht gelesen habe, bin noch nicht dazu gekommen.

Aber das [19] war wohl das Ende ... :cool2:
 
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