Christel, so konstatierte John, hatte immer noch nicht die Veränderung bemerkt, die mit Wilma vorgegangen war. Gai ergriff das Wort.
„Schätzchen, du bildest dir also tatsächlich ein, die Welt hier dadurch zu verändern, Eulen nach Athen zu tragen?“
Christel hatte offensichtlich mit einer anderen Antwort gerechnet. Und es war ihr anzusehen, dass sie über diese Antwort überrascht war.
„Äh, wie soll ich das jetzt verstehen?“
„Schätzchen, bevor du ein Auto fahren willst, musst du lernen, wie man es macht. Meinst du nicht, dass das für deine ‚Mission’ hier nicht auch gelten sollte? Ich werde dich mal etwas aufklären, werde mich allerdings kurz fassen. Frauen haben in Thailand recht wenig zu sagen, seit Jahrhunderten ist Thailand männlich dominiert, Patriarchat nennt man so was. Die Mädchen, die hier in Pattaya oder anderen touristischen Zentren arbeiten, haben sich aus dem Patriarchat sozusagen abgeseilt. Sie haben es satt gehabt, sich von nichtsnutzigen Männern bevormunden zu lassen. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass sie freiwillig hier arbeiten. Es kostet zwar anfangs etwas Überwindung, aber sie bevorzugen es anstatt auf sich als mindere Arbeitskraft mit einem kümmerlichen Einkommen den Body kaputt zu schinden. Wenn du Emanzipation nach Thailand bringen willst, musst du aufs Land gehen oder in die Provinzpuffs, wo die meisten Mädchen arbeiten. Auf die, die dort arbeiten müssen, passt euer Bild wahrscheinlich, aber hier seid ihr fehl am Platz. Ich rate euch allerdings davon ab, dies für die zuletzt genannten auch nur ansatzweise zu versuchen, es sei denn, es ist euch daran gelegen, euch vorzeitig und unfreiwillig von dieser Welt zu verabschieden.“
Gai und Malee ergänzten sich hervorragend. Malee hatte Gais Monolog aufmerksam verfolgt und immer wieder zustimmend mit dem Kopf genickt. Sie amüsierte sich köstlich, mit anzusehen, wie Christel den Worten Gais mit offenem Mund lauschte. Als wäre es abgesprochen übernahm Malee den Monolog.
„Um es noch einmal zu verdeutlichen, die meisten Mädchen, es gibt mit Sicherheit Ausnahmen, üben ihre Arbeit hier freiwillig aus. Sie haben ein besseres und abwechslungsreicheres Leben und viele haben wesentlich bessere Zukunftsaussichten als die Mädchen und Frauen, die auf Baustellen Männerarbeit erledigen. Der Kontakt zu Farang gibt uns eine Sichtweise, die uns von unseren Erfahrungswerten weit über die Frauen stellt, die einfach nur auf den Dörfern leben. Wir sind nicht arm und unser Leben ist nicht armselig, wenn auch manchmal schwierig. Es mag für euch makaber sein, aber hier in Pattaya arbeitet ein emanzipiertes Frauenvolk!“
Christel wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. Sie hatte nicht mit einer Entwicklung in dieser Form gerechnet. Sie blickte etwas hilfesuchend zu Wilma hinüber, sah die aber nur mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. Nicht im Entferntesten kam ihr der Gedanke, dass die Ereignisse der vergangenen Tage, aber insbesondere die Ansprachen von Gai und Christel, einen Wandel in ihrer Denkweise beziehungsweise Einstellung bewirkt hatten.
Wilma ist für sich zu dem Schluss gekommen, sich von Christel frei zu machen. Sie würde aber erst in Deutschland mit Christel darüber zu reden. Sie fühlte sich plötzlich in der Rolle, dass sie etwas auf Christel achtgeben musste. Im Rückblick resümierte sie, dass alle kritischen Situationen mit Ausnahme der Abfuhr durch die beiden Massage-Girls auf Christels Konto gingen. Sie hatte Christel einfach blind vertraut. Vielleicht war es ihr gemeinsames Schicksal, dachte darüber nach, dass sie sich in Deutschland von Christel hatte einlullen lassen und glaubte, durch Christel Halt zu bekommen und ihr Leben in neue Bahnen lenken zu können. Zum ersten Mal nach ihrer Trennung von Benny kam ihr der Gedanke, dass sie eventuelle etwas falsch gemacht hatte. Aber diese Einsicht kam zu spät, diesbezüglich waren die Weichen gestellt und es würde keinen Weg zurück geben. Eine plötzliche Erkenntnis schoss ihr gleich einer inneren Stimme durch den Kopf:
‚Wilma, du bist keine Emanze! Du bist eine Frau mit Bedürfnissen und du möchtest diese Bedürfnisse ausleben. Du kannst diese Bedürfnisse nur ausleben, wenn du Männer als das nimmst, was sie sind, nämlich der Teil in dem Spiel, der notwendig ist, um deine Bedürfnisse auszuleben. Und du musst wissen, dass Männer das ähnlich sehen. Wenn du dieses beherzigst, wirst du einen Partner finden, mit und in ihm deine Erfüllung, genauso, wie er das alles in dir finden wird. Diesen Zustand wirst du allerdings nur erreichen, wenn du nach Harmonie strebst. Alles, was du nach deiner Scheidung von Benny gemacht hast, war kontraproduktiv! Wilma, du hast den Punkt erreicht, stehst an eine Gabelung deines Lebenswegs. Es ist deine Entscheidung, welchen Abzweig du nimmst!’
„Wilma! Wilma! Willst du nicht auch mal etwas sagen?“
Die Stimme Christels drang wie aus der Ferne nur langsam in ihr Bewusstsein. Sie sah zuerst Christel an und ihr Blick ging zu den beiden Mädchen, die sie auf merkwürdige Art und mit einem seltsam wissenden Blick ansahen. Zum ersten Mal sah sie etwas Mitgefühl und Verständnis in den Blicken von Gai und Malee. Wilma wurde schlagartig klar, dass die Beiden in ihr lasen wie in einem offenen Buch. Und es war ihr nicht einmal unangenehm. Sie blickte wieder zu Christel, versuchte in ihren Augen etwas zu lesen. Aber alles, was sie dort war, war Aggression in Paarung mit Hilflosigkeit. Das, was sie in Christels Augen sah, wies ihr letztendlich den Weg, den sie in Zukunft gehen würde. Und zwar ohne Christel.
„Christel, lass es gut sein. Ich denke, die Mädchen haben uns heute eine Lektion erteilt.“
Christel schien nicht zu begreifen, was Wilma gerade gesagt hatte.
„Wie? Wie meinst du das?“
„Christel, ich glaube, es war ziemlich dumm und naiv von uns, hierhin zu kommen und eine Änderung bewirken zu wollen. Nutzen wie die Chance, etwas zu lernen.“
„Wilma, bist du jetzt total übergeschnappt? Was sollen wir denn von denen lernen? Die haben von uns etwas zu lernen!“
Gai und Malee hatten intuitiv empfunden, was in Wilma in den letzten Minuten abgelaufen war.
„Schätzchen!“
Christel zuckte bei dem Wort zusammen, als wäre sie von einer Peitsche getroffen worden. Nicht nur Malees Augen sondern alle Augen waren jetzt auf Christel gerichtet. Christel fühlte sich verunsichert wie schon lange nicht mehr
„Du scheinst vergessen zu haben, dass wir einige Zeit in Deutschland gelebt haben. Wir haben unsere Kultur, unsere Gesellschaft und unseren Glauben. Aber wir haben auch eure Kultur, euren Glaube und vor allem aber euch eure Gesellschaft erlebt. Wenn wir sagen, dass wir für einen Vergleich oder eine Abschätzung der Unterschiede mehr Vergleichsmöglichkeiten haben als ihr, dann könnt ihr dem Glauben schenken.“
Christel war wütend und rang nach Worten, setzte gerade zu einer Erwiderung an, aber Wilma fiel ihr ins Wort.
„Christel, lass es gut sein. Ich glaube, wir sollten in der Tat mal etwas darüber nachdenken, was wir hier erreichen wollen. Mittlerweile glaube ich nämlich, dass wir uns gehörig verrant haben.“
„Wilma, was fällt dir ein? Warum fällst du mir in den Rücken?
„Christel, ich falle dir nicht in den Rücken. Vielleicht wirst du später erkennen, dass ich dich vor Schlimmeren bewahrt habe.“
John und Neil hatten das Gespräch mit Interesse verfolgt. Auch ihnen war die Veränderung, die in Wilma vorgegangen war, nicht entgangen.
„Christel, du solltest auf deine Freundin hören. Ihr seid in einem Fremden Land und dazu noch in einem Ort, der Thailand so wenig repräsentiert, wie die Reeperbahn in Hamburg ein Abbild Deutschlands darstellt “
Zufrieden stellte Neil fest, dass die beiden Deutschen ihre Gläser mittlerweile geleert hatten. Er schmunzelte als er sich vorstellte, dass die Beiden in kurzer Zeit wie geile Zicken auf der Suche nach einem sprungbereiten Bock durch Pattaya laufen würden.